Buch lesen: «Auf ihren Spuren»
Sabine von der Wellen
Auf ihren Spuren
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Geheimnisse von Cecilia Hyde
Marco
Jeannie
Eine neue Welt
Joel Jekyll
Der Tresor
Marcos Geschichte
Mieses Leben
Neues über Cecilia
Lisa
Joel Hyde
Das Jeannie Programm
Eine neue Hoffnung
Eine Entscheidung
Impressum neobooks
Die Geheimnisse von Cecilia Hyde
M ein lieber Joel,
wenn du diesen Brief in den Händen hältst, werde ich nicht mehr bei dir sein.
Ich werde dich schrecklich vermissen, denn du warst mein Sonnenschein, meine Luft zum Atmen und das Beste, was mir je passiert ist. Ich weiß, dass du das Einzige sein wirst, dass ich aus ganzem Herzen vermisse werde, egal wo ich jetzt bin.
Mein Leben lief nicht immer so, wie ich es mir wünschte, doch es lief immer so, wie ich es verdient habe. Darum hadere nicht mit dem, was passierte und dich diesen Brief erhalten ließ, sondern lebe dein Leben. Ignoriere alles, was dir zu Ohren kommen kann und behalte mich so in Erinnerung, wie du mich kanntest. Denn das ist der wertvolle Teil von mir, den nur deine Geburt in mir zum Klingen brachte.
Bitte sei dir immer im Klaren, dass ich die Liebesfähigkeit, zu der ich wohl doch im Stande war, nur über dich ausgebreitet habe. Über niemanden sonst. Vergiss das nie und ignoriere alles, was dir etwas anderes Einreden will. Bewahre mich in deinem Herzen und forsche nicht nach dem, was mich in ein anderes Licht rückt, als in das, was du bei mir kanntest. Das ist das einzige, um was ich dich aus ganzem Herzen bitte. Bleib mein mutiger Prinz, der sein Leben meistert.
Deine dich immer liebende Mutter
Zu spät!
Ich zog vor acht Wochen in diese Wohnung, die sich als eines der vielen Geheimnisse meiner Mutter entpuppte. Hätte mir jemand gesagt, dass sie die Hüterin vieler Geheimnisse war und ein Doppelleben führte, ich hätte es nicht geglaubt. Aber seit ihrem Tod werde ich ständig eines Besseren belehrt.
Ich bin siebzehn Jahre alt, Einzelkind, hatte nie einen Vater und habe nun auch keine Mutter mehr. Sie starb vor fünf Monaten bei einem Unfall und war alles, was in meinem Leben Bedeutung hatte. Allerdings erkannte ich das erst, als es schon zu spät war. Wer denkt auch schon daran, dass eine Mutter auch sterben kann?
Klar, als Siebzehnjähriger ist man sich sowieso sicher, dass man keine Mutter braucht. Man fühlt sich schon lange als Beherrscher seiner Welt und über alles erhaben. Vor allem über das, was eine Mutter noch meint, einem mit auf den Weg geben zu müssen. Man tut es als unwichtig ab und hält sie für spießig, weltfremd und völlig unwissend. Sie ist halt nur eine Mutter!
Aber wenn man dann aufwacht und erkennt, dass sie für immer weg ist, dann ist die Welt auf Schlag eine andere. Mit dem Tag sinkt auch die Herrschaft über das eigene Reich in sich zusammen und alles gleicht einem Trümmerfeld.
Die Leute sagen, man erholt sich von dem Verlust und das Leben geht weiter. Klar geht es weiter. Aber wie?
Der Ort, an dem ich jetzt lebe, war eins von Mamas Geheimnissen. Sie hatte diese Wohnung vor zwei Jahren gekauft, ließ uns aber weiterhin in der Mietwohnung wohnen. Mein Onkel meinte, dass sie bestimmt nur abwarten wollte, bis ich die Schule beendet habe. Aber sorry … eine kleine Erwähnung, dass wir Wohnungsbesitzer sind, wäre schon angebracht gewesen. Außerdem bin ich alt genug, um einen Schulwechsel zu verkraften oder eine längere Busfahrt in Kauf zu nehmen.
Ich war ja immer für ein Moped. Aber das war meiner Mutter zu gefährlich. Ich hätte ja einen Unfall haben können.
Tzzz, lachhaft. Sie hat es sogar zu Fuß erwischt. Mitten in der Nacht, mitten in einer erhellten Stadt zu einer Zeit, wo es kaum mehr jemanden auf die Straße treibt …
Dass es diese Wohnung gibt, offenbarte sich mir bei der Testamentseröffnung vier Wochen nach ihrem Tod, bei der auch mein Onkel Andreas, Mamas einziger Bruder, und Michelle, die Mitbesitzerin ihres Internetcafes, anwesend waren. An dem Tag erbte ich diese Wohnung und sogar Bargeld in Höhe von 25000 Euro. Mein Onkel erhielt Mamas Anteile an seiner Baufirma zurück und Michelle … sie bekam mich als Mitbesitzer mit 20% Anteilen am Internetcafe. Die anderen dreißig Prozent meiner Mutter gingen an Michelle, weil sie ihr keine Hilfe mehr sein wird.
Mein Onkel hatte mich nach dem Unfall meiner Mutter zu sich geholt. Aber er ist selbst alleinstehend, hat eine Baufirma und drei Kinder. Mir war klar, ihn beglückte der Umstand nicht, dass er mich auch noch am Hals hat. Und weil sein ältester Sohn Timo nach den Sommerferien in die Stadt ziehen musste, um sein Studium beginnen zu können, hatten wir die Idee mit der WG in der von mir geerbten Wohnung. Er möchte Lehrer werden.
Timo und Lehrer. Die armen Schüler!
Ich fragte mich immer, wie meine Mutter sich eine Wohnung überhaupt leisten konnte und woher sie so viel Geld hatte. Aber mittlerweile ahne ich so manches.
Da ich noch nicht achtzehn bin, hat mein Onkel das Sorgerecht. Mir war von Anfang an klar, dass er keinen Bock hat, sich um noch einen Jugendlichen zu kümmern. So ließ er mich und Timo in meine Wohnung ziehen. Außerdem wohnen Katja und Manuell noch hier. Das Ganze schimpft sich WG.
Katja war Timos Wahl, Manuel ganz klar meine. Er ist ein Computerfreak und wurde für mich in den letzten Wochen zu einem Freund, der einige Geheimnisse meiner Mutter mit mir lüftete.
Zu unserem Domizil gehört ein großes, gemeinsames Wohnzimmer, eine ultramoderne Küche und ein riesiges Badezimmer mit einer ultramodernen Dusche. Alles war fast ungebraucht - bis auf mein Zimmer. Das hatte meine Mutter wohl hin und wieder bewohnt, wenn sie in der Stadt war und ich glaubte, dass sie eine ihrer Nachtschichten in ihrem Internetcafe hatte oder auf einer Geschäftsreise war. Daher wollte ich da unbedingt einziehen. Es lässt mich etwas von der Cecilia erspüren, die sie außerhalb unserer vier Wände und meines behüteten Lebens war. Der anderen Cecilia.
Dieser Brief von ihr, den ich am Tag der Testamentseröffnung neben der Wohnung und dem Geld erhalten hatte, ist mir mehr wert, als alles auf der Welt. Er ist für mich wie eine Verbindung zu ihr, die noch nach ihrem Tod besteht. Er gibt mir das Gefühl, dass ich sie noch nicht ganz verloren habe.
Aber dass sie ihn verfasste, erschreckt mich. Schließlich zeigt das, dass sie mit ihrem Tod rechnete. Wer tut das schon? Und ihre Bitte kann ich ihr nicht erfüllen. Wie soll man das auch können, wenn man plötzlich feststellt, dass die eigene Mutter ganz offensichtlich ein Jekyll and Hyde war.
Es ist jetzt fünf Monate her, als ich nach der Schule nach Hause kam und zwei Polizeibeamten an der Tür klingelten, bevor ich noch die Jacke ausziehen konnte.
Damit begann für mich ein rabenschwarzer Tag. Der schlimmste in meinem Leben.
„Joel Kammlagen?“
Ich hatte sofort ein schreckliches Gefühl, dass etwas passiert war.
Noch heute wundere ich mich darüber, dass mich da erst dieses Gefühl beschlich und nicht dreizehn Stunden zuvor, als Mama mich und die Erde verließ.
Ich habe einige Zeit damit verbracht zu ergründen, was ich in dem Moment getan habe, als sie starb und warum ich das nicht spürte. Naja, ich weiß nicht, ob ich nichts spürte. Ich habe geschlafen. Als meine Mutter sich aus meinem Leben stahl, lag ich in meinem Bett und habe einfach nur geschlafen.
Vielleicht träumte ich von ihr? Vielleicht war sie bei mir?
Nein, nicht nur vielleicht. Wenn ich etwas weiß, dann, dass sie auf alle Fälle bei mir war. Sie war bestimmt zu mir gekommen, hatte sich auf meine Bettkante gesetzt und mir die blonden Haare aus dem Gesicht gestrichen. Dann hatte sie mich mit diesem eigentümlichen Lächeln gemustert und mir leise zugeflüstert: „Joel, Licht meines Lebens. Ich muss gehen. Sei nicht traurig. Es wartet eine bessere Welt auf mich.“
Naja, das mit dem Licht ihres Lebens ist ein Spruch, den sie früher immer zu mir sagte. Das änderte sich, als ich älter wurde und durchaus einigen Unfug im Kopf hatte. Und das mit der besseren Welt … mittlerweile weiß ich, meine Mutter führte ein sprichwörtliches Doppelleben. Es gab die Cecilia für mich und eine für den Rest der Welt. Und irgendwie war letztere in einem Leben verwoben, dass sie zwar reich machte, aber bestimmt nicht glücklich. Zumindest will etwas in mir das denken. Alles andere würde heißen, dass sie nicht normal tickte.
Also, diese beiden Polizisten hatten die leidige Aufgabe, mich über den Tod meiner Mutter zu informieren. Sie hatte einen Unfall. Mitten in der Frankfurter Innenstadt war sie nachts um drei Uhr von einem Auto angefahren worden.
Sie war auf einer ihrer Geschäftsreisen und wollte am Samstag zurückkommen. Aber am Freitag, den zwölften April, lief sie nachts um drei Uhr irgendwo in Frankfurt durch die Innenstadt und wurde einfach von einem Auto umgefahren. Der Fahrer sagte, er hatte nicht damit gerechnet, dass sie plötzlich über die Straße laufen würde. Sie stand wohl auf dem Bürgersteig und telefonierte. Plötzlich war sie abgedreht und auf die Fahrbahn gelaufen … direkt vor das Auto, dass sie voll erwischte. Und als wenn das nicht schon gereicht hätte, wurde sie an eine der Laternen geschleudert und brach sich das Genick. Sie war sofort tot.
Da es ganz klar ein Unfall war, der sogar von einer Kamera eines Geschäfts aufgezeichnet wurde, erfolgten keine Nachforschungen von Polizeiseite. Nur von mir. Ich fuhr sogar im Juli zu dem Typ, der sie getötet hat und er beteuerte auch vor mir, dass es ein Unfall war, den er nicht verhindern konnte. Auf meine Frage, ob er meine Mutter kannte, reagierte er ziemlich perplex und verneinte. Zu perplex, als dass ich ihm das nicht abkaufte. Ich wollte auch nur erfahren, ob er einer der Leute war, mit denen meine Mutter zu tun hatte. Geschäftlich zu tun.
Aber er war nur ein unbescholtener Bürger, der von seiner Schicht kam und nach Hause wollte und dem meine Mutter, nach einem Telefongespräch mit irgendwem, völlig hirnlos vor das Auto gesprungen war. So zumindest stelle ich mir das vor.
Und sorry, aber da kann doch keiner verlangen, dass man sich darüber keine Gedanken macht. Mit wem hat sie telefoniert? Warum telefonierte sie überhaupt nachts um drei und lief danach kopflos auf die Straße? Was machte sie um die Zeit dort? Warum war sie überhaupt in Frankfurt?
Ein Geheimnis jagt das nächste und Fragen türmen sich mittlerweile so hoch wie der Mount Everest vor mir auf.
Es klopft an meine Zimmertür und ich schrecke zusammen. Ich sitze an dem Schreibtisch meiner Mutter und sinniere mal wieder über all das nach, was mich seit Monaten beschäftigt.
Ohne auf eine Antwort zu warten, wird die Tür aufgestoßen und ein blonder, kinnlanger Pagenschnitt schiebt sich in den Türspalt. Katjas haselnussbraune Augen sehen mich an und ihr schmaler Mund schickt mir ein Lächeln in den Raum, das Wüstensand in Glas verwandeln kann.
Katja ist schön und deshalb wohl bei uns. Timo schleppte sie vor ein paar Wochen an. Ich weiß nicht mal, wo er sie aufgegabelt hat. Er meinte nur, sie wäre eine arme, streunende Katze ohne Zuhause.
„Joel, magst du mitessen? Ich habe gekocht.“
Auch wenn Katja wirklich eine Augenweide ist, so ist sie ansonsten wenig nützlich. Wenn sie kocht ist das Essen wie Russisch Roulette – jeder Bissen kann tödlich sein.
Aber wer kann diesem Lächeln wiederstehen und vor allem seinen hungrigen Magen ignorieren?
Katja wohnt zwar hier, aber ich weiß manchmal nicht genau in welchem Zimmer. Manchmal kommt sie aus ihrem, manchmal aus Timos. Ein paar Mal lag sie auf dem Sofa und schlief. Einmal habe ich sie mir da genauer angesehen …
Ja, sie ist wirklich süß. Aber für mich sind Mädchen noch etwas, was mich irgendwie anzieht und dennoch schrecklich verunsichert. Meine Erfahrungen mit ihnen halten sich in Grenzen und waren bisher eher abschreckend.
Timo ist da anders. Er ist zwar mein Cousin, aber wir ähneln uns überhaupt nicht. Nicht mal im Aussehen. Er ist groß, dünn, hat blonde, glatte Haare und schwarze Augen, wie seine Mutter. Als einziger der Familie. Seine Geschwister haben die blauen Augen meines Onkels.
Ich bin einen halben Kopf kleiner als er, habe aber in der letzten Zeit zugelegt.
Vielleicht liegt es an meinem fleißigen Gebrauch unserer Trainingsgeräte, die Mama damals kaufte, um sich fit zu halten und die wir mit in diese Wohnung nahmen. Erst fanden sie noch Platz in dem freien Zimmer, mussten dann aber nach Katjas Einzug weichen. Seitdem hat Timo die Hantelbank in seinem Zimmer und das große Trainingsmodul steht an der Balkontür neben dem Fernseher.
Natürlich benutzte ich sie damals schon. Aber erst jetzt entfaltet sich offenbar mein Potenzial an Muskelmasse. Außerdem habe ich die dichten, blonden, welligen Haare meiner Mutter geerbt, die Timo, trotz gleichem Genpool, nicht abbekam … und braune Augen, die von meinem Erzeuger stammen müssen.
Klar, Timo sieht gut aus und Katja steht auf ihn. Allerdings sah ich sie auch schon aus Manuels Zimmer kommen, was mich wirklich irritierte.
Mich verschonte sie bisher. Ich denke, ich bin ihr zu jung. Sie ist neunzehn und sogar drei Monate älter als Timo. Manuel ist schon zwanzig, mindestens genauso groß wie Timo, aber doppelt so breit. Deshalb hätte ich nicht gedacht, dass Katja sich auch an ihn heranmachen würde. Aber wer weiß schon, was sie in seinem Zimmer wollte.
Ich schließe die Seite, die ich an meinem PC geöffnet hatte, weil ich eigentlich etwas für die Schule tun wollte und murmele: „Ich komme.“ Dabei schiebe ich mich mit dem dicken Lederschreibtischstuhl von dem massiven Schreibtisch weg, der so monströs ist, dass ich gar nicht weiß, wie die ihn damals hier hineinbekommen haben. Die Tür erscheint mir viel zu klein und der Fahrstuhl ist es definitiv auch. Vielleicht haben sie ihn hier zusammengebaut. Und wer? Wer hat Mama das Ganze eingerichtet? Das ist eine Frage, die ich mir noch nicht beantworten konnte. Wer hat Mama die zwei großen Schränke aufgestellt, die eine ganze Wand einnehmen, das Sofa hier hineingeschleppt und das große schwarze Bett in die Nische eingebaut? Selbst die zwei Matratzen sind so dick, dass man sie kaum tragen kann. Ich hatte sie einmal angehoben, als ich auf der Suche nach weiteren Verstecken war. Aber es gibt nur das nicht zu öffnende in dem Schrank, in dem sich auch alles andere Erschreckende befand, dass meine Mutter hier gebunkert hatte. Offensichtlich wollte sie nicht, dass ich etwas davon Zuhause finde. Anscheinend traute sie mir nicht mehr. Vielleicht glaubte sie, dass ich mit siebzehn dem ungeschriebenen Gesetz nicht mehr folge, dass sie mir von klein auf eingebläut hatte. „Du hast dein Zimmer, ich meins. Und in meins darfst du nur, wenn ich dabei bin.“
Ich hätte ihr Zimmer früher inspizieren sollen. Dann hätte ich eher erfahren, was sie so treibt und sie von dieser Reise nach Frankfurt abhalten können. So glaubte ich immer, dass sie nur die Besitzerin dieses Internetcafes ist. Ich meine, sie hatte das tatsächlich. Aber sie war nicht so viel da, wie ich dachte und es gehörte ihr nur zu 50 Prozent, was ich auch nicht wusste.
Es liegt hier in der Stadt, weswegen ich keine zwei-dreimal in meinem Leben dort gewesen bin. Ich glaubte ihr natürlich, dass dieses Internetcafe 24 Stunden geöffnet hat. Daher gab es die vielen Nachtschichten. Meiner Mutter waren die Nachtzuschläge für die Mitarbeiter zu teuer. Sie war ziemlich geizig und machte immer lieber alles selbst. Erst bei meinen Recherchen nach ihrem Tod wurde mir klar, dass sie mich belogen hatte. Das Internetcafe macht um 22 Uhr zu … und das nicht erst seit gestern.
Daher weiß ich, dass sie nachts wohl einem anderen Geschäft nachging, dem ich versuche auf die Schliche zu kommen. Einem Geschäft, dass im Dunkeln stattfindet und auch nur Kreaturen anlockt, die ihr Unwesen im Dunkeln treiben und die nur tagsüber ein Mensch wie du und ich sind … und wie meine Mutter.
Als ich durch die Tür in das geräumige Wohnzimmer trete, sticht mir das grelle Tageslicht in die Augen. Ich blinzele benommen und höre Katja belustigt rufen: „Du solltest mal deine Schalosien hochziehen. Heute war den ganzen Tag lang schönster Sonnenschein.“
Ich sehe durch die großen Fenster auf die Stadt hinaus, die sich unter uns ausbreitet. Die Sonne scheint tatsächlich das Grau der Stadt etwas aufzuhellen, die in den letzten Tagen im Regen versunken war. Mittlerweile registriere ich sowas auch wieder. Genauso wie den Blumenstrauß auf dem Tisch.
„Schön, ne? Die haben mich so angelächelt, da habe ich sie geklauft.“
Ich werfe Katja einen bösen Blick zu. „Du schickst uns noch die Polizei auf den Hals, mit deiner ständigen Klauerei. Dir ist schon klar, dass ich dich auch wieder hinauswerfen kann?“
„Ach, das tust du nicht!“, ruft Katja nur völlig überzeugt und schenkt mir wieder ihr süßestes Lächeln. „Außerdem kann das nur Timo.“
Ich werfe mich auf einen Stuhl und starre in den Kochtopf mit dem undefinierbaren Durcheinander darin, den Ausspruch von ihr ignorierend.
Katja weiß nicht, dass mir die Wohnung gehört. Ich wollte das so. Sie weiß auch nicht, dass meine Mutter tot ist.
„Dann muss ich mal mit Timo ein ernstes Wörtchen reden“, sage ich und Katja lacht selbstsicher auf. „Tu das.“
Sie weiß, Timo liebt die Vorzüge, die sie bietet. Da brauch er sich nicht auf die Jagd machen, wenn ihm nach etwas Spaß ist. Und er sieht gut genug aus, dass Katja sich jederzeit von ihm vernaschen lässt. Also werde ich umsonst gegen sie intervenieren.
Ich winke ab und lasse mir das Nudelgemisch auf den Teller schaufeln. Es schmeckt sogar besser, als es aussieht.
„Lecker ne?“, will Katja gelobt werden.
Ich nicke nur, während ich mir hungrig das Essen in den Mund schaufele. Ich habe seit dem Frühstück noch nichts gegessen. Nun ist es Abend. Aber wenn ich am PC sitze, oder an den Unterlagen von Mama, dann vergesse ich Raum und Zeit.
Was hatte Mama so schön über Raum und Zeit gesagt? Alles nur Illusion. Und sie hat recht. Jetzt verstehe ich das. Wenn ich über ihren Sachen brühte, bringen mich meine Gedanken weit weg und überall hin. Dann fließen die Raumstrukturen ineinander und verwischen völlig. Manchmal weiß ich gar nicht, wo ich bin, und wer und wann. Das wann kommt mir wirklich oft abhanden. In einem Moment ist es achtzehn und im nächsten schon zweiundzwanzig Uhr.
Mama erzählte mir mal, dass weder Zeit noch Raum feste Konstanten sind. Nur die Geschwindigkeit ist gleichbleibend, und zwar durch die Lichtgeschwindigkeit, die sich nie ändert, während eine Sekunde nicht immer eine Sekunde ist und Meter nicht immer ein Meter. „Alles ist relativ zueinander“, hatte sie gesagt und noch Geschichten hinzugefügt, die ich nicht richtig verstand. Nur eine blieb mir überhaupt im Gedächtnis. „Wenn du an der Autobahn stehst und ein Ferrari rauscht an dir vorbei, dann kommt dir die Zeit, in der er auf dich zukommt, an dir vorbeifährt und am Horizont verschwindet kürzer vor, als wenn du in einem eigenen Auto selbst auf der Autobahn fährst und du den Ferrari bei dem gleichen Manöver beobachtest.“
Das kam irgendwie von dem Superhirn Einstein.
Mama war auch ein Denker und konnte mich damals noch beeindrucken. Später tat ich ihre Weisheiten als unnütze Gedankenspiele ab, die sie bestimmt in dem langweiligen Internetcafe überfielen. Ich stellte sie mir an ihrem Schreibtisch oder Tresen sitzend vor, selbst eine Tastatur vor der Nase und einer Tasse Tee. Mama trank viel Tee und ich glaubte, dass sie auch viele Stunden im Internetcafe zubrachte.
„Erde an Joel! Du denkst zu viel!“ Katja klingt gekränkt. „Und wohl nicht an mich.“ Eins von Katjas Lastern ist, dass sie ständig Aufmerksamkeit braucht.
In dem Moment hellt sich aber ihr Gesicht schon wieder auf, als sie einen Schlüssel im Schloss hört und weiß, dass nun ein bestimmt Gesellschaftsfähigerer auf der Bildfläche erscheint. Und ich bin auch froh darum. In meinem Kopf wüten wirklich zu viele Gedanken, um Katjas Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu befriedigen.
Ich sehe auch erwartungsvoll auf und hoffe darauf, Manuel zu sehen. Aber es ist Timo, der um die Ecke kommt.
„Hi! Hm, hier riecht es nach Essen.“
„Ich habe gekocht“, ruft Katja freudestrahlend und Timo verzieht erschrocken das Gesicht.
„Es schmeckt sogar“, sage ich und kratze die Reste von meinem Teller.
Timo geht zum Kühlschrank und holt sich ein Bier. „Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, wenn ich noch ein wenig warte. Nur so zehn bis fünfzehn Minuten und schaue, ob einer von euch beiden vom Stuhl kippt.“
„Mein Essen ist nicht verseucht“, mault Katja und zieht einen Schmollmund, was wirklich süß aussieht. Damit wirkt sie eher wie vierzehn, statt neunzehn.
Timo kann natürlich diesem Schmollmund nicht wiederstehen. Er küsst sie und sieht mich dann an, als wolle er um Vergebung bitten.
Meint er wirklich, ich weiß nicht, was da ständig zwischen ihnen läuft und dass er die Finger nicht von ihr lassen kann. Ich hatte Timo damals gesagt, dass ich keine Frau in der Wohnung haben will, weil das nur Stress macht. Timo meinte daraufhin nur: „Blödsinn. Es darf bloß keiner mit ihr anbändeln und sich in sie verlieben. Dann ist das ganz easy. Außerdem brauchen wir jemanden zum Kochen, Waschen und Putzen.“
Katja kann nichts davon. Aber wir hatten das eine freie Zimmer, dass bis dahin Abstellraum und Muckibude war. Das wurde ausgeräumt und sie zog da ein.
Manchmal höre ich die beiden, wenn sie sich in Timos Zimmer vergnügen. Dann stelle ich die Musik an und setze meinen Kopfhörer auf, weil meine Hormone sonst mit mir durchgehen.
Ich habe mit noch keinem Mädchen geschlafen. Meine Mutter trichterte mir gradenlos ein, dass man seinen ersten Sex erst haben soll, wenn man wirklich verliebt ist. Sie war der Meinung, man versaut es sich sonst fürs ganze Leben.
Einmal fragte ich sie: „Warst du schon mal richtig verliebt?“
Dass sie Sex hatte, davon ging ich aus. Sie hatte eine annehmbare Figur, ein schönes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase und dieses blonde, volle Haar, das ihr in weichen Wellen fast bis zur Hüfte reichte, wenn sie es offen trug. Die Haare und die Gesichtszüge vererbte sie mir. Aber ich habe braune Augen und sie hatte wunderschöne hellblaue.
Sie hatte mir nur ausweichend geantwortet: „Vielleicht früher mal.“
Meine Mutter und Männer, das war ein Thema für sich. Es gab angeblich nie welche in ihrem Leben. Mir erzählte sie sogar fast mein halbes Leben lang, dass ich ein kleiner Jesus bin, gezeugt von irgendwas … aber keinem Mann! Gott bewahre!
„Du hast keinen Vater, Joel. Lass dir auch nichts anderes einreden“, bläute sie mir ein.
Und ich kämpfte damit gegen Windmühlen an. Schon im Kindergarten, wenn einmal im Jahr alle Väter eingeladen wurden, hieß es. „Jeder hat einen Vater.“ Jedes kleine Kind wusste das. Auch in der Grundschule versuchte man mir das klarzumachen. Doch ich beharrte darauf, dass ich eine Ausnahme bin. „Meine Mutter lügt nicht. Ich habe keinen Vater.“
Nah gut! Irgendwann musste auch ich einsehen, dass dies biologisch unmöglich ist. Mama besann sich damals auch darauf, dass sie mir mit so einem Quatsch keinen Gefallen tat. Also änderte sie die Geschichte in: „Das war kein Mann, sondern ein Ausrutscher.“ Aber sie erklärte mir täglich, dass ich das Beste in ihrem Leben bin. Immer wieder sagte sie das. Das Licht ihres Lebens.
Und ich weiß, es war auch so. Auch wenn ich mir nicht mehr sicher bin, ob sie mit dem Leben als Mutter zufrieden war und ob ich wirklich das war, was sie sich für ihr Leben gewünscht hat.
Timo wartet wirklich zehn Minuten ab, bevor er sich selbst etwas von dem Essen nimmt. Ich drücke gerade meine Zigarette aus, als er sich etwas auf den Teller schaufelt, nachdem er einige Anekdoten von seinen Kommilitonen zum Besten gab.
Ich werfe einen nervösen Blick zur Küchenuhr.
„Kannst es nicht abwarten, bis Manuel endlich wieder nach Hause kommt?“, hänselt Katja mich.
„Wir haben ein neues Spiel, das wir heute Abend ausprobieren wollen“, lüge ich. Weder Timo noch Katja ahnen, was Manuel und ich tatsächlich immer treiben.
Es begann nach der Beerdigung, dem zweitschlimmsten Tag in meinem Leben.
Mir wurden von Onkel Andreas die Sachen von der Unfallnacht ausgehändigt, die meine Mutter bei sich gehabt hatte. Ich brauchte fast vierundzwanzig Stunden, bis ich die Handtasche öffnen konnte, die ich bis dahin die ganze Zeit mit mir herumschleppte.
Man hatte alles, was sie bei sich getragen hatte, dort hineingelegt und meinem Onkel überreicht, der es mir dann nach der Beerdigung gab. In einem Tütchen waren unter anderem ihre goldene Kette mit dem goldenen, runden Anhänger, auf dem schwarze Rosen ranken, und drei Ringe.
Mein Onkel erklärte mir, dass die Sachen sehr wertvoll sind und ich damit sorgsam umgehen soll.
Für mich stand sofort fest, dass ich sie selbst tragen werde. So habe ich immer diese Kette mit dem Anhänger und den drei Ringen um den Hals. Sieht vielleicht etwas schwul aus. Aber das ist mir egal. Sie sind alles, was mir noch von meiner Mutter geblieben ist.
Außerdem beherbergte die Handtasche zwei Handys. Das eine kannte ich. Meine Mutter hatte es immer bei sich und ich wäre nie darauf gekommen, dass es auch noch ein zweites Handy geben könnte. Auch das fand ich in der Tasche und es war wohl das, mit dem sie kurz vor dem Unfall telefoniert hatte und dass sie in der Hand hielt. Darum war es ziemlich demoliert.
Ich brachte es zu einem Handyshop, wo ich das erste Mal auf Manuel traf. Er arbeitete zu der Zeit dort, um sich Geld für sein IT Studium zusammenzusparen. Irgendwie mochte ich seine ruhige, behäbige Art und erzählte ihm, was mit dem Handy passiert war. Er war von meiner Geschichte sichtlich betroffen und versprach mir zu helfen. So entstand diese Freundschaft.
Bei den beiden Handys befanden sich in ihrer Tasche auch noch ihre Zigaretten mit einem Feuerzeug, ihre Schminktasche, eine Bürste, Kondome, Tempos, Pfefferspray, Kleingeld, Zahnstocher und ein kleines Schweizer Messer. Die Karte ihres Hotelzimmers war abgegeben worden und ihr kleiner Reisekoffer hatte auch seinen Weg zu meinem Onkel gefunden. Allerdings habe ich ihn nie zu Gesicht bekommen. Onkel Andreas meinte auf meine Frage diesbezüglich: „Hm, ihr Koffer? Ich weiß gar nicht, wo ich den gelassen habe. Wenn ich ihn finde, gebe ich ihn dir.“ Mir war klar, er wollte ihn mir niemals geben. Vielleicht war das für ihn ein letztes Andenken an seine Schwester, dass er für sich irgendwo gebunkert hat oder der Koffer beinhaltet Dinge, die ich nicht sehen soll.
Ich war erstaunt, dass er die Kondome in Mamas Handtasche gelassen hatte. Aber vielleicht hatte er sie auch gar nicht gesehen. Sie steckten in einem Seitenfach mit Reißverschluss.
Mich schockten die nicht. Kondome hatte meine Mutter immer schon in ihrer Handtasche. Darum ging ich davon aus, dass sie durchaus Männerbekanntschaften hatte. Nun interessiert mich, wer diese Männer waren. Plötzlich scheint mir das wichtig, nachdem ich immer mehr auf diese andere Cecilia stoße, die sich auf Geschäftsreisen begab, mitten in der Nacht durch eine fremde Stadt tingelte, mit irgendwem telefonierte und dann vor ein Auto sprang.
Ich habe diesem Autofahrer abkaufen müssen, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war. In dieser Nacht waren die Uhrzeit und der Ort etwas Reelles, nicht Relatives. Für alle Beteiligten. Ich sah, dass auch er litt, weil er das Leben meine Mutter ausgelöscht hatte. Diesmal waren Zeit und Raum keine Illusion, sondern hielten für uns das Schreckliche genau fest. Für immer benennbar, unauslöschbar und nicht verschiebbar. Im Fall meiner Mutter, dieses Mannes und mir war es Freitag, der zwölfte April 2017, um 3:04 Uhr in der Berliner Straße in Frankfurt. Punkt!
Meine Mutter hatte mir einmal etwas erzählt, dass mich damals eher verunsicherte und dass ich deshalb nicht näher hinterfragen wollte. Sie sagte mir, dass wir für alles, was uns passiert, auf die eine oder andere Art selbst verantwortlich sind. Ich weiß gar nicht mehr, warum sie mir diese Weisheit erzählte. Doch es hatte bestimmt einen Grund und nach ihrem Tod bekam das Ganze sogar eine Bedeutung, die mir ihren Tod etwas erträglicher machte. Denn sie hatte mir damals begreiflich zu machen versucht, dass wir in unserem Leben noch mit Bürden zu kämpfen haben, die uns wegen vorheriger Vergehen in einem anderen Leben mitgegeben wurden. Und soweit ich mich erinnere, ging es auch um die Menschen, denen man im Leben begegnet. Auch die sind laut meiner Mutter nicht alle zufällig in unser Leben gestolpert. Sie meinte, dass uns mit einigen etwas aus anderen Leben verbindet und wenn wir jemanden dort wehgetan haben, dann wird er uns in einem folgenden wiederbegegnen und sich rächen. Nein, sie nannte es nicht rächen. Sie nannte es eine schlechte Resonanz auslöschen.
Sie hielt das für wichtig. Sie glaubte daran, dass wir Resonanzen abbauen müssen, damit es uns dann in einem neuen Leben bessergeht.
Ich war damals zwölf oder dreizehn und verstand nicht viel von dem, was sie mir da erzählte. Es interessierte mich auch nicht. Sie war schließlich nur meine Mutter!
Heute weiß ich, sie war alles auf dieser Welt und ich hätte ihre Worte aufsaugen müssen, sie aufnehmen, einrahmen, in Gold gießen müssen. Aber ich tat sie nur ab.
Doch nach dem Besuch bei ihrem Mörder fielen sie mir wieder ein und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass das Zusammentreffen dieses Autofahrers und meiner Mutter, mitten in der Nacht in Frankfurt, einen Sinn hatte. Wie meine Mutter so schön geschrieben hatte, konnte sie deswegen endlich diesem Leben entkommen und ein neues anstreben. Und dieser Mann - vielleicht war er jemand, der sie in einem anderen Leben über alles geliebt hatte - erlöste sie in dieser Nacht nur. Zumindest gefällt mir diese Variante viel besser, als die, dass meine Mutter ihm in einem anderen Leben Schlimmstes zugefügt hatte und der Unfall nur eine Retourkutsche war.