Buch lesen: «Das Erbe der Burgherrin»
Sabine Müller, 1973 im saarländischen Homburg geboren, ist Apothekerin und Mutter zweier Kinder. Nach »Das Mal der Burgherrin« ist »Das Erbe der Burgherrin« ihr zweiter Roman über die Grafen vom Homburger Schlossberg.
Sabine Müller
DAS ERBE
DER BURGHERRIN
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
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Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Teil 1: Die Rache der Loretta 1325
Teil 2: Die falsche Fährte
Teil 3: Ein Funke Hoffnung
Teil 4: Getrennte Wege
Teil 5: Ein Wiedersehen
Teil 6: Finale
Nachwort
Personenverzeichnis
Literatur
Danksagung
Teil 1:
Kapitel 1
Schwester Loretta wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sie atemlos in der Klosterküche angelangte.
„Wo bleibst du denn?“
Amalie, die Köchin des kleinen Zisterzienserinnenklosters St. Thomas an der Kyll war eine kleine rundliche Frau mit wachsamen Augen. Vorwurfsvoll musterte sie die stämmige, ältere Laienschwester, deren linke Wange eine hässliche Narbe zierte.
„Hier, zieh dir die Schürze über.“
Sie hielt Loretta eine weiße Schürze entgegen.
„Eine Pilgergruppe ist gerade angekommen. Du weißt, was das bedeutet?“
Loretta wusste sehr wohl, was das hieß. Noch mehr Rübenschälen als sonst! Widerwillig nahm sie die Schürze und band sie sich über die Nonnentracht. Dann gesellte sie sich zu den anderen drei Schwestern, die bereits fleißig am Arbeiten waren. Loretta stellte einen Korb voller Rüben vor sich und begann mit einem rostigen Messer die dünne Schale von dem Gemüse abzuschaben.
Sie hasste diese Arbeit, genauso wie alles andere hier im Kloster. Wenn man doch nur die Zeit zurückdrehen könnte! Mit ihrem ersten Gemahl lebte sie als Gräfin auf der Burg Lichtenberg. Nach dessen Tod machte sie sich auf die Suche nach einem neuen Gatten, bevor die Kinder ihres Gemahls sie in ein Kloster stecken konnten. Auf der Homburg wurde sie fündig und heiratete den dortigen Burgherren, Graf Walther. Durch einen Unfall hatte dieser ein lahmes Bein, welches er hinter sich herzog. Es war leicht, ihn für sich zu gewinnen. Gemeinsam führten sie ein strenges Regiment. Genauso wie Walther fand auch Loretta schnell daran Gefallen, die Untertanen zu schikanieren. Walther hatte eine Leidenschaft für Ritterturniere und scharte viele raue Gesellen um sich. Um seine Ritter durchzufüttern und auszustatten, ließ er seine Untertanen und Hörigen hungern.
Als nach dem dritten kalten Winter in Folge die Nahrungsmittel knapp wurden, hatten sich die Bauern gegen ihn verschworen und baten die umliegenden Grafen um Hilfe. Diese fanden heraus, dass sich Walther den Grafentitel unrechtmäßig angeeignet hatte, und machten zusammen mit Walthers Tante Margareta den wahren Erben der Homburg ausfindig. Walther wurde hingerichtet und Loretta verbannte man in dieses düstere Kloster in der Eifel, wo sie von morgens bis abends arbeiten musste und niemand mehr da war, der sie bediente.
Sieben Jahre waren vergangen, doch noch immer sann sie nach Rache. Wenn sie nur einen Weg finden würde, wie sie Walthers Tod und ihre Verbannung rächen könnte! Wie gerne würde sie es Margareta und deren Sohn Konrad heimzahlen!
Irgendwann würde ihre Stunde schlagen, das wusste sie.
„Pass auf Loretta! Sonst schälst du die Rüben so sehr, dass nichts mehr von ihnen übrig bleibt!“, schalt Amalie.
Bald war das Gemüse geputzt und klein geschnitten. Die Köchin schürte das Feuer und hängte den großen Kessel über die Feuerstelle. Während der Eintopf vor sich hin köchelte und einen angenehmen Duft verbreitete, räumten sie die Küche auf, machten alles sauber und warfen den Abfall in die Latrine. Loretta ging mit den anderen zum Speisesaal der Nonnen und deckte den Tisch. Dann begaben sie sich ins Gästehaus und deckten auch dort ein.
Als die Glocke zur Sext läutete, kamen die Nonnen von ihrer Arbeit in den Speisesaal und beteten, bevor sie mit ihrem Mahl begannen. Loretta wurde damit betraut, sich im Gästehaus um die Pilger zu kümmern. Sie würde erst später essen. Zuerst hatte sie sich darüber geärgert, doch dann war sie froh über die Gelegenheit, mit den Fremden ein paar Worte wechseln zu können. Vielleicht hatten sie Interessantes zu berichten.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragte sie, während sie eine Schüssel mit Eintopf auf den Tisch stellte und mit einer Kelle die Teller der müden und hungrigen Pilger füllte.
„Wir kommen aus Zweibrücken“, antwortete einer, der sogleich gierig anfing zu essen. Nicht überall bekam man als Pilger eine warme Mahlzeit.
„Das ist gar nicht so weit weg von meiner alten Heimat.“
Loretta strich sich die Schürze glatt, bevor sie mit dem Ausschenken fortfuhr.
„Und wo war das?“
Sie zögerte zuerst, antwortete aber trotzdem:
„Auf der Homburg.“
„Ah, dort war ich vor gar nicht all zu langer Zeit.“
„Was machen denn die Grafen dort?“
„Sie haben die Burg herausgeputzt und auch der Flecken im Tal wird immer größer.“
„Wie geht es Margareta?“
„Als ich dort war, hatte sie gerade Streit mit ihrer Schwiegertochter Mechthild, weil diese immer mit dem kleinen Arnold allein durch den Wald streift. Margareta wollte wohl, dass sie einen Ritter mitnimmt, damit kein Räuber ihnen etwas antun kann, aber Mechthild ist ein richtiger Sturkopf. Sie hat vor nichts und niemandem Angst. Sie ist ein sehr eigensinniges Geschöpf, aber Graf Konrad liebt sie über alles.“
Loretta hörte gespannt zu und begann zu überlegen. War das endlich die Gelegenheit, auf die sie so lange gewartet hatte? Mutter und Sohn allein im Wald, ohne Wachen? Da wäre es doch für ein paar Räuber ein leichtes Spiel, die beiden zu entführen! Was würde Margareta sagen, wenn ihr Enkelsohn verschwände? Ein Lächeln huschte über Lorettas Gesicht.
„Es reicht, es reicht“, rief der Pilger plötzlich, dessen Teller sie so reichlich füllte, dass er am Überlaufen war.
„Oh, verzeih mir, ich musste gerade an früher denken.“
Loretta wischte die verschüttete Suppe auf.
Nachdem die Pilger ihre Mahlzeit beendet hatten, räumte sie ab und trug das schmutzige Geschirr in den Küchenbau. Ihre Gedanken begannen um das gerade Gehörte zu kreisen. Wie könnte sie es nur anstellen, dass man die junge Gräfin mit ihrem Sohn entführte? Sie wusste, dass zwei von Walthers ehemaligen Rittern in der Nähe von St. Thomas weilten. Wie konnte sie nur die beiden von einer solchen Tat überzeugen? Geld hatte sie nicht, und ob deren Rachebedürfnis den Homburgern gegenüber genauso groß war wie ihr eigenes, wusste sie nicht.
Plötzlich kam ihr eine Idee. Man hatte im Kloster ein sehr wertvolles Gebetbuch angefertigt. Die Äbtissin war sehr stolz darauf. Vor ein paar Jahren war ein Goldschmied ins Kloster gekommen und hatte einen sehr filigranen Leben-Jesu-Rosenkranz eigens für die Gebete in diesem Buch angefertigt. Die Edelsteinperlen waren in pures Gold eingefasst. Seitdem gehörte dieser Rosenkranz zum Klosterschatz, der zusammen mit der Körperreliquie in einem Schrein in der Kapelle aufbewahrt wurde. Nur die Äbtissin hatte einen Schlüssel zu dem Schrein und bewahrte diesen in ihrem Schlafgemach auf. Loretta hatte ihren Plan gefasst.
Bei der Zubereitung des Abendmahls beklagte sie sich bei der Köchin und den anderen über Bauchschmerzen und gab vor, mehrmals das Latrinenhäuschen aufsuchen zu müssen. Als sich später alle beim Abendessen befanden, verzog sie schmerzhaft das Gesicht und ging hinaus. Sie drehte sich um und sah nach, ob ihr jemand folgte. Die Luft war rein. Geschwind rannte sie zur Unterkunft der Äbtissin. Abermals drehte sie sich um und vergewisserte sich, dass sie niemand sah. Im Schlafgemach suchte sie nach dem Schlüssel des Reliquienschreins. Als sie ihn gefunden hatte, überquerte sie schnell den Hof zur Kapelle und versuchte den Schrein zu öffnen. Zuerst klemmte der Schlüssel, doch schließlich gelang es ihr. Schnell nahm sie den Rosenkranz und ließ ihn in eine Tasche ihrer Kutte gleiten. Dann verschloss sie den Schrein wieder, brachte den Schlüssel zurück und ging zum Abendessen. Bis man den Verlust bemerkte, würden mehrere Wochen vergehen, da die Reliquien nur an den Feiertagen herausgeholt wurden. Keiner würde sie verdächtigen.
In der Nacht, als alle schliefen, schlich sich Loretta aus dem Dormitorium. Sie musste sich beeilen, wenn sie es in der kurzen Zeit, in der die Nonnen ruhten, bis nach Malberg schaffen wollte, wo Walthers ehemalige Ritter Hartmut und Wolfgang in den Dienst getreten waren. Sie huschte über den Klosterhof und verließ das Gelände durch eine kleine Pforte. Es war eine weite Strecke, die sie in der Nacht zurücklegen musste. Sie war dankbar, dass der Mond ihr den Weg leuchtete. Unterwegs erfrischte sie sich kurz an einer kleinen Quelle, bevor sie außer Atem die Burg erreichte.
Es gelang ihr, sich unbemerkt in die Vorburg zu schleichen, wo die Ritter untergebracht waren. Loretta klopfte leise an Hartmuts Tür. Als niemand reagierte, öffnete sie und trat ein. Der Ritter lag in den Armen einer Magd und schnarchte laut. Loretta trat an das Bett, vorsichtig darauf bedacht, nur Hartmut zu wecken. Dieser rieb sich erstaunt die Augen und wollte gerade hochfahren, als Loretta ihn besänftigte.
„Pst, sei leise, ich bin es, Loretta, deine alte Herrin.“
„Was wollt Ihr hier mitten in der Nacht?“, fragte Hartmut erstaunt, der eine Weile brauchte, um zu sich zu kommen.
„Rück ein wenig herüber, dein Liebchen braucht nichts mitzubekommen.“
Vorsichtig entwand sich der Ritter der Magd und ging mit Loretta in die andere Ecke der Kammer.
„Ich brauche deine Dienste und werde gut dafür bezahlen.“
„Dann lasst mal hören.“
„Ich habe von ein paar Pilgern erfahren, dass Mechthild, die neue Gräfin von Homburg, oft alleine mit ihrem Sohn Arnold im Homburger Wald unterwegs ist. Damals, als Walther hingerichtet wurde, habe ich Rache geschworen. Entführ diese Mechthild und ihren Sohn und ich werde dir dieses wertvolle Stück geben.“
Loretta zeigte Hartmut kurz den goldenen Rosenkranz, der im fahlen Mondlicht schwach glänzte.
„Und wenn du sie entführt hast, kannst du sie als Sklaven in ein Land verkaufen, wo sie niemand versteht und ihnen niemand helfen kann.“
Kapitel 2
„Gehen wir heute wieder zur Merburg?“, fragte der kleine Arnold seine Mutter erwartungsvoll.
„Ja, wenn du möchtest. Wir holen uns nur noch bei Emma in der Küche einen Kanten Brot und Speck. Dann können wir an der Ruine etwas essen.“
Mechthild liebte es, mit ihrem Sohn durch die Wälder zu streifen. Sie rückte ihre weiße Haube zurecht und strich ihr dunkelgrünes Kleid glatt. Dann nahm sie Arnold an der Hand und ging mit ihm zur Burgküche. Arnold hüpfte vergnügt auf und ab. Plötzlich entwand er sich seiner Mutter.
„Ich hole schnell mein Schwert, damit ich dich beschützen kann!“
„Ja, mach das. Wir treffen uns am Burgtor.“
Mechthild schaute Arnold lächelnd nach. Wie gut der Junge seinem Vater glich! Das gleiche dunkelblonde, krause Haar und die strahlend blauen Augen. Auch das kleine Mal in Form eines Lindenblattes, welches schon seine Großmutter Margareta zierte, hatte er geerbt. Mechthild strich unwillkürlich über ihren Bauch. Ihre letzte Blutung lag eine Weile zurück und heute Morgen war ihr zum ersten Mal speiübel gewesen. Ob sie wohl endlich ein neues Kind in sich trug? Bei dem Gedanken an Konrad und was für ein Gesicht er machen würde, wenn er davon erfuhr, begann sie zu lächeln und dieses Lächeln trug sie immer noch auf dem Antlitz, als sie bei Emma in der Küche angelangte.
„Was strahlt Ihr so, Herrin?“, fragte die junge, hagere Köchin erstaunt. Sie stand erst seit wenigen Monaten in den Diensten der Grafen von Homburg.
„Ich musste gerade an etwas Schönes denken. Packst du mir schnell einen Kanten Brot und ein Stück Speck ein, Emma? Ich gehe mit Arnold zur Merburg. Er freut sich schon so darauf.“
„Wollt Ihr nicht einen der Ritter bitten, Euch zu begleiten?“
„Nein, das ist nicht nötig. Wir sind den Weg schon hundertmal gegangen!“
„Aber Eure Schwiegermutter wird das nicht gutheißen, Herrin!“
„Sie muss es ja nicht erfahren.“
Mechthild schnappte sich den Beutel mit Essen, den Emma zusammengeschnürt hatte, und beeilte sich zum Burgtor zu gelangen. Emma sah ihr nach und schüttelte den Kopf. Hoffentlich passierte nicht doch noch etwas.
„Mama, Mama, wo bleibst du denn?“, empfing Arnold seine Mutter ungeduldig.
„Emma hat ein bisschen länger gebraucht. Aber jetzt können wir los!“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg am Ritterübungsplatz vorbei, der kurz nach Mittag immer verlassen da lag. Mechthild hatte keine Lust von einem Ritter begleitet zu werden, der möglicherweise die ganze Zeit den Kopf darüber schüttelte, dass sie als Gräfin mit ihrem Sohn im Wald spielte und sang. Die Frühlingssonne wärmte die Luft angenehm und die ersten Vögel zwitscherten. Bald würden die Büsche und Bäume ergrünen. Mechthild sog begeistert die Luft ein. Überall roch es nach Frühling.
„Sieh, dort vorne sitzt ein Hase!“, flüsterte Arnold und schlich leise in die Richtung des Nagetiers. Der Hase richtete sich auf, schnupperte kurz und ergriff hakenschlagend die Flucht, als er die Witterung der beiden aufnahm.
„Schade! Der sah so putzig aus, als er Männchen gemacht hat.“
„Jetzt, wo das Wetter wärmer wird, werden wir noch oft Gelegenheit haben, einen Hasen zu beobachten.“
Sie wanderten über die Bergnase und der Wald wurde dichter.
„Hätte ich doch nur ein Messer mitgenommen, dann könnte ich mir einen Stock schnitzen!“
„Da hast du aber Glück, dass deine Mutter an alles gedacht hat!“
Mechthild löste den kleinen Dolch, den sie immer bei sich trug, von ihrem Gürtel und reichte ihn dem Jungen.
„Danke!“, rief dieser erfreut und suchte sich gleich einen geeigneten Zweig, den er mit dem Messer bearbeiten konnte. Mit angestrengtem Gesicht schabte er mit dem Dolch über das Holz, bis das Ende des Steckens ganz spitz geworden war. Dann ritzte er vorsichtig ein Zickzackmuster in die Längsseite.
„Siehst du, wie spitz er geworden ist? Man kann ihn nicht nur zum Abstützen, sondern auch als Speer für die Jagd benutzen! Den muss ich unbedingt Vater zeigen!“
Mechthild fuhr andächtig über die Spitze.
„Ja, der ist richtig gut geworden, aber bis du mal zur Jagd gehst, dauert es noch ein Weilchen.“
„Vater hat gesagt, ich dürfte nächstes Jahr schon mit und mit meiner Armbrust schießen!“
Graf Konrad hatte seinem Sohn eine kleine, kindgerechte Armbrust anfertigen lassen und der Junge übte voller Stolz damit. Er stellte sich genauso geschickt an wie sein Vater und Großvater vor ihm.
„Jetzt lass uns erst einmal weiter zur Merburg gehen.“
Es dauerte nicht lange, bis sie zu den Felsen oberhalb des Fischweihers vor der Ruine gelangten.
„Mit dem vielen Moos sehen diese Felsen ganz weich aus!“
Arnold setzte sich auf den größten der Felsen und ruhte sich kurz aus. Auch Mechthild nahm Platz.
„Wusstest du, dass hier, vor langer Zeit, dein Onkel Simon bei einer Jagd ums Leben gekommen ist?“
„Hier auf diesen Felsen?“
„Nein, dort unten. Aber auf diesen Felsen hat der Knecht von Simons Vetter gelegen und ihn mit einer Armbrust erschossen.“
„Aber das ist ja entsetzlich! Warum hat er das getan?“
„Simons Vetter Walther wollte Graf von Homburg werden und wurde es später auch, bis man hinter sein falsches Spiel gekommen ist und erkannt hat, dass dein Vater der wahre Graf ist.“
„Das hört sich spannend an. Erzählst du mir genau, wie das war?“
„Vielleicht später einmal. Komm, wir gehen weiter.“
Arnold sprang auf und rannte zum Weiher. Bevor Mechthild etwas sagen konnte, hatte er sich seiner Lederschuhe entledigt, die Beinlinge hochgezogen und watete durch das seichte Wasser.
„Aber Arnold! Es ist doch noch viel zu frisch!“
„Vielleicht kann ich mit meinem Speer einen Fisch fangen!“
Der Junge watete durch das Schilf am Ufer und spähte angestrengt ins Wasser. Als er einen kleinen Fisch entdeckte, blieb er ganz ruhig stehen, kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an. Blitzschnell stach er mit dem Speer zu, doch der Fisch war noch schneller und verschwand.
„Schade, beinahe hätte ich ihn erwischt! Dann hätte Emma uns Fisch braten können!“
„Das hätte bestimmt für die ganze Burg gereicht“, scherzte Mechthild.
Auch seine nächsten Versuche scheiterten. Arnold stieg aus dem Wasser und rannte durch die Wiese, bis seine Füße wieder trocken waren. Als er endlich genug davon hatte, gingen sie hinüber zur Burgruine. Dort band Arnold sein Holzschwert ab und begann wild gegen unsichtbare Feinde zu kämpfen. Mechthild setzte sich auf die Mauerreste und sah ihm zu. Wie würde es sein, wenn das neue Kind erst da wäre? Hätte sie dann überhaupt noch Zeit für Arnold? Ihre Spaziergänge im Wald würden seltener werden. Auch ließe sie Margareta hochschwanger überhaupt nicht mehr alleine ziehen. Aber bis dahin war noch Zeit. Vielleicht sollte sie noch warten, bevor sie von ihrer Schwangerschaft berichtete. Dann könnte sie noch ein wenig ihre Freiheit genießen.
Mechthild packte das Brot und den Speck aus. Sie schnitt beides in Stücke und rief dann:
„Ist da vielleicht ein hungriger Ritter?“
„Ja, gewiss!“
Arnold kam angerannt und ließ sein Schwert auf den Boden fallen. Er setzte sich zu Mechthild auf die Mauer und ließ es sich schmecken.
„Hm! Draußen an der frischen Luft schmeckt es immer am besten!“
Arnold langte reichlich zu. Er biss immer abwechselnd von Brot und Speck ab und musste fest kauen.
„Aua! Oh, sieh mal - mein Zahn!“
Arnold hielt Mechthild überrascht den kleinen weißen Milchzahn entgegen.
„Tatsächlich! Der erste Wackelzahn ist draußen! Mein kleiner Junge wird groß!“, Mechthild lächelte und betrachtete anerkennend den Zahn.
„Das müssen wir unbedingt Vater erzählen! Jetzt muss er mich auf die nächste Jagd mitnehmen! Komm wir gehen gleich zurück!“
Arnold war zu aufgeregt, um noch weiter zu essen. Mechthild packte alles zusammen und dann traten sie den Rückweg an. Arnold hatte den Zahn behutsam in seinen Beutel verstaut und begann begeistert Jagdlieder zu singen. Auch Mechthild stimmte mit ein. Als sie den Ritterübungsplatz erreichten, wo die Grafen gerade mit den Rittern übten, schaute Konrad erstaunt auf und kam ihnen entgegen.
„Na, ihr seid aber gut gelaunt!“
„Vater, Vater!“, rief Arnold, „sieh, was ich hier habe!“
Der Junge zog ganz aufgeregt den kleinen Zahn aus seinem Beutel und hielt ihn dem Vater hin.
„Was ist denn das? Das ist ja ein Zahn! Komm lass dich ansehen! Zeig mir deine Zähne.“
Arnold öffnete mit einem breiten Grinsen den Mund und zeigte seinem Vater die Zahnlücke.
„Unser kleiner Junge wird zum Mann!“, rief Konrad erfreut.
„Jetzt übertreib nur nicht,“ Mechthild lächelte, „sonst will er gleich nach Kirkel und Page werden.“
„So lange dauert das auch nicht mehr.“
Wehmütig wurde Mechthild bewusst, dass Konrad damit recht hatte. In spätestens zwei Jahren würde Arnold Page sein! Sie durfte gar nicht daran denken! Umso wichtiger war es jetzt, dass sie so viel Zeit wie möglich mit ihm verbrachte.
„Vater, hier sieh meinen Speer! Ich habe ihn selbst geschnitzt. Er ist vorne ganz spitz. Beinahe hätte ich einen Fisch damit gefangen.“
Während Arnold bei Konrad blieb und seinem Vater vorführte, wie er mit dem Speer Fische fangen konnte, verabschiedete sich Mechthild und ging zum Burgbrunnen, um sich ein wenig zu erfrischen. Sie bat eine Magd, einen Eimer mit frischem Wasser hochzuziehen und wusch sich Hände und Gesicht mit dem kühlen Nass.
„Grüß dich Mechthild!“, ertönte eine Stimme vom Oberhof der Burg herunter. An den Zinnen, die den Oberhof begrenzten, stand Mechthilds Schwester Irmgard mit ihren Töchtern Jutta und Katharina und winkte herab.
„Seid gegrüßt, ihr drei!“
Mechthild machte sich lächelnd auf den Weg die Treppen hinauf. Irmgard war ein wenig fülliger als Mechthild, aber ansonsten glich sie ihrer Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten, die gleichen haselnussbraunen Haare und dunklen Augen und die Grübchen in den Wangen, die sich beim Lächeln besonders abzeichneten. Ihre Tochter Jutta war fast ein Jahr älter als Arnold. Sie trug das lange glatte, blonde Haar ordentlich geflochten. Über ihr blaues Kleid hatte sie eine weiße, saubere Schürze gebunden. Wie so oft sahen ihre blauen Augen leicht tadelnd auf Mechthild herab, deren Garderobe bei ihrer Wanderung durch den Wald ein wenig gelitten hatte. Doch die kleine Katharina, die kaum fünf Jahre zählte, war ein richtiger Wildfang. Ihre braunen Locken ließen sich einfach nicht bändigen und ihr braunes Kleidchen wurde immer von ein paar Flecken geziert. Sie war das Gegenteil ihrer großen Schwester und strahlte Mechthild aus ihren grünen Augen an.
„Warst du wieder im Wald, Tante Mechthild?“
„Ja, ich habe einen Spaziergang mit Arnold gemacht. Wir waren drüben an der Merburg. Es war wunderschön! Wollt ihr nicht auch einmal mit uns kommen?“
„Oh, ja!“, frohlockte Katharina begeistert.
„Aber Tante, das ist doch viel zu gefährlich!“, rief Jutta entsetzt.
„Wenn wir alle zusammen gehen und vielleicht noch Ritter Hanricus mitnehmen, wird das schon gehen,“ mischte sich Irmgard ein.
„Können wir gleich morgen losziehen? Bitte, bitte!“, bettelte Katharina begeistert.
„Wenn Konrad und Friedrich nichts dagegen haben.“
„Lasst uns nun zum Rittersaal gehen. Die Abendmahlzeit wird bald aufgetragen.“
Die Frauen und Kinder machten sich auf den Weg und nahmen an dem großen Herrentisch Platz. Es dauerte nicht lange, bis sich der Saal füllte. Konrads Mutter, Margareta, setzte sich auf ihren Platz in der Mitte der großen Tafel. Mit ihren zweiundsechzig Jahren war sie immer noch eine stattliche und würdevolle Frau. Sie trug ein schlichtes braunes Gewand und eine Kette mit einem goldenen Kreuz. Ihre grauen Haare hatte sie unter einer weißen Haube versteckt und ihr Gesicht wurde von Lachfältchen geziert. Die Grafen Konrad und Friedrich trafen mit ihren Rittern, Knappen und Knechten hungrig von ihren Übungen ein. Der kleine Arnold war immer noch an der Seite seines Vaters und redete mit ihm über Waffen. Auch das Gesinde fand sich ein und die Pagen begannen damit, das Essen aufzutragen.
„Hab ich einen Hunger!“, rief Graf Friedrich, Konrads Vetter, als der deftige Fleischeintopf seinen Duft verbreitete. Friedrich war nur wenige Jahre älter als Konrad, sein dunkelblondes Haupthaar begann sich zu lichten, doch dafür wuchs sein Bart umso dichter und sein grünes Wams spannte sich über seinem Bauch. Genau wie Konrad trug er den Titel „Graf von Homburg“. Gemeinsam und gleichberechtigt regierten sie über die kleine Grafschaft im Westrich.
„Das Frühlingswetter macht wohl Appetit“, lächelte Irmgard über ihren Mann.
Die Pagen füllten die Holzschalen mit Eintopf und die irdenen Becher mit verdünntem Wein. Altgräfin Margareta, die viele Jahre als Äbtissin einem Kloster vorgestanden hatte, erhob sich und sprach einen Segensspruch. Dann langten alle zu. Vor wenigen Jahren hatte in der Gegend eine Hungersnot geherrscht, doch die mageren Jahre waren endlich vorüber und das Essen reichte für alle.
„Morgen wollen wir wieder eine Wanderung zur Ruine der Merburg machen und Irmgard und die Mädchen wollen uns begleiten. Wir nehmen Ritter Hanricus zum Schutz mit, wenn du ihn entbehren kannst“, wandte sich Mechthild an Konrad.
„Oh, das geht leider nicht, Mechthild. Morgen reite ich nach Kirkel und ich hätte gerne, dass du mich begleitest. Magdalena geht es nicht so gut.“ Magdalena, die von allen nur Leni genannt wurde, war Konrads Ziehmutter. Sie hatte ihn als Säugling im Wald gefunden, nachdem sein Vetter Walther veranlasst hatte, dass man ihn aussetzte und für tot erklären ließ.
„Oh, ich verstehe. Dann müssen wir unsere Wanderung verschieben.“ Jutta atmete erleichtert auf. Sie ging nicht gerne durch den Wald. Die Bäume jagten ihr immer ein wenig Angst ein. Katharina hingegen verzichtete nur ungern auf das kleine Abenteuer.
„Magdalena geht es schlecht?“, mischte sich Margareta ein.
„Ja, Thea hat einen Boten geschickt. Sie hat so starke Schmerzen und kann kaum noch aufstehen.“
„Das tut mir leid. Richtet ihr die besten Grüße und Wünsche von mir aus. Ich werde für sie beten.“