Freiheit und ihre Dialektik

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II.5 Die Kritik der Philosophie und die Kritik am Kapital
II.5.1 Folgen für eine kritische Theorie

Wert ist als in idealistischen Begriffen zu bestimmendes Substanz-Subjekt, welches sich mit sich identisch setzt, sich unter Vermehrung reproduziert und so zum die Menschheitsgeschichte bestimmenden Subjekt wird, zu kritisieren. Die Kritik dieser gesellschaftlichen Verhältnisse, in welchen sich ein solches Subjekt scheinbar absolut reproduziert, setzt aber voraus, dass der reale Vorrang dieses Verhältnisses gegenüber den einzelnen Subjekten erkannt wird. Dass das Kapital als Hegel’sches Substanz-Subjekt sich darstellt, provoziert die Kritik sowohl am gesellschaftlichen Produktionsverhältnis als auch am Idealismus der Hegel’schen Philosophie, denn dieses Substanz-Subjekt ist nicht ›gesellschaftliches Gesamtsubjekt‹, sondern Herrschaftsverhältnis und als solches der Vernunft widersprechend. In der Bestimmung des Kapitalverhältnisses ist die Erkenntnis enthalten, dass das die Gesellschaft beherrschende Prinzip den Widerspruch in Begriff und Wirklichkeit der Freiheit perpetuiert und dass nur durch die Abschaffung dieses herrschenden Prinzips die Befreiung der Menschen möglich ist.

In der klassischen deutschen Philosophie wird ›Subjekt‹ als eine vernünftige Struktur bestimmt. Geschichtsphilosophisch stößt diese Bestimmung auf eine Aporie: Die einzelnen Zwecke der Subjekte sind nicht in einem vernünftigen Allgemeinen vermittelt. Ohne aber ein solches vernünftiges Ganzes anzunehmen, lässt sich wiederum das einzelne Subjekt nicht denken. Mit der Kritik der politischen Ökonomie ist gezeigt, dass Subjektivität und die einzelnen Subjekte in einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur sich bilden und durch diese bestimmbar sind und dass diese Strukturen nicht bestimmbar sind durch philosophische Ideen, sondern durch die Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Subjekt des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist in der bürgerlichen Gesellschaft das Kapital, das sich als widersprüchliche Einheit von Kapital und Nicht-Kapital herausstellt. Diese widersprüchliche Einheit ist Grundlage für die Reproduktion der einzelnen Subjekte, welche nicht als reine Vernunft-Subjekte existieren. Grundlage der Bestimmung der einzelnen Subjekte ist so mit Hegel die Subjektivität des Reproduktionsprozesses der gesellschaftlichen Totalität. Doch diese Subjektivität ist als Herrschaftsverhältnis zu erklären und damit nicht bloß als ›Freiheit‹ im Sinne der Hegel’schen Rechtsphilosophie.

Daher sind die einzelnen Subjekte »mit Grund«191 nicht versöhnt mit der gesellschaftlichen Totalität.192 Die Subjekte bilden sich als Konkurrenz-Subjekte in einem sie beherrschenden, sich verselbstständigenden System – einem System, welches allerdings auch seine Widersprüche in den Subjekten reproduziert und damit nicht in den philosophischen Subjekt-Begriff aufzulösen ist. Das ›automatische Subjekt‹ reproduziert sich nicht aus sich selbst heraus, sondern reproduziert gesellschaftliche Widersprüche (wie den tendenziellen Fall der Profitrate, das Streben nach Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitigem Streben nach Erhöhung der Mehrarbeit, kurz: die Vermehrung des abstrakten gesellschaftlichen Reichtums bei gleichzeitiger Produktion von Armut), weil es herrschaftliches Subjekt ist, das auf die lebendige Arbeit zugreift und das auf deren Ausbeutung und auf Gewalt beruht.

»Was irrational ist am Begriff des Weltgeistes, entlehnte er der Irrationalität des Weltlaufs. Trotzdem bleibt er fetischistisch. Geschichte hat bis heute kein wie immer konstruierbares Gesamtsubjekt. Ihr Substrat ist der Funktionszusammenhang der realen Einzelsubjekte.«193 Ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt als Subjekt der Geschichte wäre erst noch herzustellen, und zwar auf Grundlage der Bildung der Subjekte als Klassensubjekte, welche das Subjekt des kapitalistischen Gesamtprozesses abschaffen. In zentralen Begriffen der klassischen deutschen Philosophie sedimentiert sich ihre herrschaftliche Grundlage in Widersprüchen.

Für eine kritische Theorie der Gesellschaft bedeutet dies, dass sie nicht mehr ungebrochen an den Begriffen der klassischen deutschen Philosophie festhalten kann, worauf Adorno und Horkheimer reflektierten und was der Anstoß ihres Vorhabens war, eine marxistische Dialektik zu entwickeln. Die Kritik am philosophischen System ist vom Begriff der Wahrheit einer kritischen Theorie nicht zu trennen. Dies wird in der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie deutlich.194 Ein affirmativer Rückgriff auf klassisch philosophische Begründungen von Kritik ist somit nicht mehr möglich. Damit ist jedoch nicht eine ›normative Leerstelle‹ oder ein ›Begründungsdefizit‹ kritischer Theorie verbunden. Vielmehr zeigt sich, wird die Kritik ausgeführt, wie kritische Theorie über die klassische Philosophie hinausgehen muss.

Bereits im Manifest der kommunistischen Partei von 1848 formulierten Marx und Engels, dass die Aufhebung des Privateigentums und die Aufhebung der bürgerlichen Form der Freiheit der Individuen mit der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft vollzogen werden müssen. »Und die Aufhebung dieses Verhältnisses nennt die Bourgeoisie Aufhebung der Persönlichkeit und Freiheit! Und mit Recht. Es handelt sich allerdings um die Aufhebung der Bourgeois-Persönlichkeit und -Selbständigkeit und -Freiheit.«195 Gegen die ›schlechten Seiten‹ der kapitalistischen Ökonomie die ›guten Seiten‹ der bürgerlichen Freiheit, die Freiheit und Gleichheit der Individuen und den diese schützenden Staat, zu verteidigen, ist auch heute verbreitet – gerade wenn es um Kritik an materialistischer, sich auf Marx beziehende Kritik an der nach wie vor und mittlerweile global kapitalistisch produzierenden Gesellschaft geht. Marx kritisierte solche Form der Kritik bereits an Proudhon, in dessen »Dialektik« »der Prozeß der dialektischen Bewegung sich reduziert auf die einfache Prozedur, Gut und Schlecht einander gegenüberzuhalten, Probleme zu stellen, die darauf hinauskommen, das Schlechte auszumerzen und eine Kategorie als Gegengift gegen die andere zu verabreichen, von da an haben die Kategorien keine Selbsttätigkeit mehr […]. Die Aufeinanderfolge der Kategorien hat sich verwandelt in ein bloßes Gerüst. Die Dialektik ist nicht mehr die Bewegung der absoluten Vernunft. Es gibt keine Dialektik mehr, es gibt höchstens nur noch pure Moral.«196

In aktuellen Debatten wiederum wird versucht nachzuweisen, dass Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie ohne die philosophischen Konzeptionen von Freiheit und Persönlichkeit keine Kritik hätte formulieren können197 und der heutige Gesellschaftskritiker diese normativ-begründende Leerstelle zu füllen habe. Dies ist etwa der Ansatz von Habermas, der beansprucht, die kritische Theorie über ihr normatives Fundament aufzuklären und dadurch »ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen.«198 Aktuell verfolgt auch Quante ein solches Programm, wenn er die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie als Anerkennungstheorie ›rekonstruieren‹ möchte. »Den ethischen Gehalt seines Denkens können wir mittels der Anerkennungstheorie, die der Marxschen Konzeption des gegenständlichen Gattungswesens eingeschrieben ist, entfalten.«199 Dass dies nicht das Marx’sche Programm im Kapital war, ist auch Quante bewusst, weshalb er in Anspielung auf die 11. These über Feuerbach hinzufügt: »Es ist deshalb unsere Aufgabe, Marx nicht nur zu interpretieren.« Entweder also sei der Habermas’sche Maßstab der Kritik hegelsch in der Marx’schen Kritik des Kapitalismus enthalten200 oder aber man müsse einen solchen Maßstab heute durch moralphilosophische Reflexion in Anschluss an Kant erneut suchen und der Analyse als Kritik hinzufügen. Solches äußerliches Hinzufügen eines Maßstabs der Kritik setzt zunächst voraus, dass, wie es im Anschluss an Althusser v. a. Michael Heinrich systematisch versuchte, zwei unterschiedliche Modi der Kritik bei Marx angenommen werden: Kritik der Wissenschaft und Kritik der Gesellschaft stehen so als zunächst unabhängige Formen der Marx’schen Kritik nebeneinander, was auch unter der Trennung von esoterischem und exoterischem Marx geläufig ist und als Abgrenzung gegen einen sogenannten ›Weltanschauungsmarxismus‹ firmiert.201 Auf Grundlage einer solchen Trennung können dann Anerkennungstheorien wie die von Honneth anknüpfen, die versuchen, eine durch diese falsche Trennung erst konstruierte ›Leerstelle‹ zu füllen.

Ein Beispiel für eine solche Verbindung bietet Ellmers, der die ›Neue Marx-Lektüre‹ Heinrichs und Elbes durch eine »anerkennungstheoretisch fundierte[] Rekonstruktion des geschichtlichen Kampfes um soziale Freiheit«202 ergänzen möchte und dazu »die Frage [stellt; S. H.], ob die gesellschaftliche Wertschätzung oder Anerkennung der Arbeiten von Marx in einem stärkeren Maße als wertbildender Faktor hätte berücksichtigt werden müssen.«203 Ellmers vertritt in dem Aufsatz Abstrakte Arbeit und Anerkennung die »Hauptthese«, »dass die marxsche Werttheorie an Überzeugungskraft gewinnt, sobald den drei Bedeutungen des Adjektiv gesellschaftlich [diese seien: der Bezug zur gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeitszeit, der Bezug zum gesellschaftlichen Bedarf und die Geschichtlichkeit der Gesellschaft; S. H.] eine weitere zur Seite gestellt wird: die gesellschaftliche Wertschätzung«.204 Ausgehend von der irrtümlichen Bestimmung Heinrichs, dass Wert eine Eigenschaft sei, die im Tausch erzeugt werde205, und eine bloße Relation darstelle, versucht Ellmers eine ›Korrektur‹ der Marx’schen Werttheorie zu leisten: »Dementsprechend ist abstrakte Arbeit nicht nur insofern gesellschaftlich bestimmt, als sie von der Produktivkraft der Arbeit und der zahlungsfähigen Nachfrage abhängig ist, sondern auch insofern, als soziale Wertschätzungen in sie eingehen. Anders gesagt weist abstrakte Arbeit eine Anerkennungsdimension auf – die Marx jedoch nicht eigens thematisiert, sondern die hinter naturalistischen Anklängen verborgen bleibt.«206

 

Wird zunächst der Wert als Geltungsverhältnis bestimmt, das sich im Tausch bildet, dann wird damit die objektive und herrschaftliche Grundlage der Wertbestimmung geleugnet. Wenn der Kritiker des fetischisierten Bewusstseins seine wissenschaftliche Kritik dadurch vollzieht, dass er erklärt, dass dem Wert der Waren ein ›gesellschaftliches Verhältnis‹, das im Tausch erzeugt werde, zugrunde liege, dann kann daran anschließend anerkennungstheoretisch die Forderung gestellt werden, die Wertschätzung der Arbeiten in die Wertbestimmung aufzunehmen. – So wird mittels der positivistischen Trennung zwischen scheinbar rein wissenschaftlicher Analyse eines falschen Bewusstseins auf der einen Seite und normativen Urteilen auf der anderen verschleiert, dass die Wertbestimmung keineswegs von der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft abhängt, sondern sie ihre Grundlage im Kapitalverhältnis und dessen Herrschaft hat. »Die aktiven Gruppen und Individuen jedoch, die jenen Umschwung herbeiführten, standen anders zur Theorie, sie haben sich nicht in ununterbrochener Reihenfolge von Gelehrten in Praktiker und von Praktikern wieder in Gelehrte zurückverwandelt. Ihr Kampf gegen das Bestehende war die wirkliche Einheit des Gegensatzes von Theorie und Praxis. Weil sie eine bessere Wirklichkeit im Sinne hatten, haben sie die gegebene zu durchschauen vermocht.«207

II.5.2 Habermas’ Tilgung der Kritik der politischen Ökonomie

In der Rezeption einflussreich wurde der von Habermas als ›Paradigmenwechsel‹ proklamierte Versuch, kritische Theorie von der Marx’schen Kritik zu lösen. Habermas warf in seiner Theorie des kommunikativen Handelns der kritischen Theorie Adornos vor, dass sie in Aporien ende, was mit einem ›Scheitern‹ negativer Dialektik gleichgesetzt wird und zur Begründung dient, eine ›kommunikationstheoretische Wende‹ zu proklamieren, welche diese Aporien löse, indem Vernunft als kommunikative Rationalität definiert wird. Dadurch sollen die Aporien der früheren kritischen Theorie vermieden und ein ›Maßstab der Kritik‹ ausgewiesen werden können.

Die Aporien, auf welche Adornos Negative Dialektik führt, sind allerdings nicht solche eines falschen Denkens und keine ›Scheinprobleme‹, die durch einen anderen Vernunftbegriff zu korrigieren wären, sondern Konsequenz philosophischen Denkens auf der Grundlage einer in ihrem Wesen widersprüchlichen Gesellschaftsordnung. »Reduziert man wie Habermas Paradoxien auf simple logische Widersprüche, wendet man genau das Prinzip von Denken an, welches Adorno in seiner Auseinandersetzung mit der Subjektphilosophie kritisierte. Der Zensurstempel des Denkens, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, verewigt nur den gesellschaftlichen Antagonismus mit Hilfe der Unterdrückung des Widersprechenden.«208 Philosophie, die den Anspruch auf Wahrheit nicht preisgibt, sondern mit ihm ernst macht, kann solche Aporien, die für die Philosophie als eine rein szientifisch verstandene Disziplin ein Problem darstellen mögen, nicht durch Ausflucht in einen anderen, subjektiv gesetzten Begriff von Vernunft auflösen, sondern muss diesem ausgeschlossenen Dritten und dem Prinzip des Ausschlusses, Ausdruck verleihen. Wahr ist, dass die Aporien der Philosophie, insbesondere die Aporien der Moral nicht im Denken aufzulösen sind, da sie auf dem grundlegenden, widersprüchlichen Wesen dieser Gesellschaft beruhen und daher deren Widerspruch ins Bewusstsein heben können.

»Die Theorie des kommunikativen Handelns ist keine Metatheorie, sondern der Anfang einer Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen.«209 Mit Habermas, der beansprucht, die kritische Theorie Adornos und Horkheimers fortzuführen, wird kritische Theorie in eine Theorie kommunikativer Vernunft umgedeutet, welche als Maßstab der Kritik gesellschaftlicher Erscheinungen dienen könne. Auf die Marx’sche Kritik des Kapitals rekurriert Habermas nicht210, sondern unternimmt den Versuch, Gesellschaft normativ zu begründen. Es geht Habermas um die »Formierung von Grundbegriffen«211 und ein darauf sich gründendes »zweistufiges Konzept der Gesellschaft, welches die Paradigmen Lebenswelt und System auf eine nicht nur rhetorische Weise verknüpft; und schließlich um eine Theorie der Moderne«.212 Die Trennung von Lebenswelt und System verortet Habermas im Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften: Hier trennen sich Ökonomie und Staat (materielle Reproduktion, System) von der symbolischen Reproduktion der Gesellschaft und erlangen Selbstständigkeit. Das »System« ist dabei als Abkopplung von der Lebenswelt zu begreifen. Wenn in traditionalen Gesellschaften Kultur und Ökonomie noch direkt zusammengehörte, so differenziert sich die ›moderne Gesellschaft‹ aus und die symbolische Reproduktion wird ›autonom‹.

Bereits in einer solchen Programmatik wird eine grundlegende Verabschiedung von Theorie, die den Anspruch hat, »als ganze ein einziges entfaltetes Existenzialurteil«213 zu bilden, und die zentral auf der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie aufbaut, vollzogen: Die von Habermas aufgeworfene Frage nach dem kritischen Maßstab – also nach einer positiv zu fassenden Vernunft, welche Kritik überhaupt erst legitimiere – wechselt den Gegenstand: Nicht mehr ist Gesellschaft und der bereits bei Marx inwendige Zusammenhang von Theorie und Gesellschaft Gegenstand der Sozialphilosophie, sondern letztere müsse zunächst einmal begründen, mit welcher philosophischen Berechtigung sie die gesellschaftlichen Zustände kritisieren dürfe.214 Es geht Habermas insbesondere um Legitimationsfragen und die Begründung moderner Herrschaftsverhältnisse. Des Weiteren verschließt solche Theorie sich durch ihren anti-ökonomischen Impetus gerade den zentralen Einsichten der auf der Kritik der politischen Ökonomie aufsattelnden kritischen Theorie, womit sie in einen Idealismus zurückfällt, der an den Hegel’schen Vernunftbegriff unhistorisch anschließt.

Die Marx’sche Kritik der bürgerlichen Gesellschaft ist wie oben dargestellt keine bloße Fortsetzung der klassischen Philosophie, sondern ihre notwendige Negation und Aufhebung in Gesellschaftstheorie.215 Dabei war die Kritik des Kapitalverhältnisses Kritik der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft im Ganzen.216 Marx zeigte, dass es ein der kapitalistischen Produktionsweise selbst geschuldeter Irrtum ist, die später sogenannten Sphären der Lebenswelt als aus sich selbst heraus erklärbar zu interpretieren. Weder als reine transzendentale Ideen noch als durch kommunikatives Handeln erzeugte217 lässt sich Rationalität bzw. Vernunft in der bürgerlichen Gesellschaft fassen.

Der Versuch der Trennung kritischer Sozialphilosophie von der ökonomischen Basis, die Verortung von Freiheitspotenzialen in Sphären der Lebenswelt oder Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft führt zu einer Theorie, wie sie heute insbesondere im Rückbezug auf und durch ›Rekonstruktion‹ der Hegel’schen Rechtsphilosophie verbreitet ist. Im Bereich der Sozialphilosophie wird u. a. von Axel Honneth eine Fortführung der ›Frankfurter Schule‹ als Anerkennungstheorie vorangetrieben218, die in der Hegel’schen Rechtsphilosophie eine Darstellung verwirklichter sozialer Freiheiten erkennt, welche in der fortgeschrittenen bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen seien.

Solche sozialphilosophische Abtrennung der Kritik der politischen Ökonomie bei gleichzeitiger Konzentration auf normative Grundlagen ›der Moderne‹ wurde (im unterstellten Anschluss an die kritische Theorie) von Habermas als ›Paradigmenwechsel‹ eingeleitet, der behauptete, dass der »ökonomistische Ansatz« von Marx »angesichts der Pazifizierung des Klassenkonflikts und des langfristigen Erfolges, den der Reformismus in den europäischen Ländern seit dem zweiten Weltkrieg im Zeichen einer im weiteren Sinne sozialdemokratischen Programmatik errungen hat«, versage.219 Durch demokratische und wohlfahrtsstaatliche Errungenschaften habe sich der Klassenkonflikt in den erzielten Kompromissen gleichsam aufgelöst, weshalb Sozialphilosophie sich auf die Rolle der Kultur konzentrieren solle. Für die »Lebenswelt«, worunter bei Habermas Privatsphäre und Öffentlichkeit gefasst werden, sei der »soziale Gegensatz«, der in der privaten Verfügungsmacht über die Produktionsmittel weiterhin liege, nicht mehr relevant. »Die aus der Lebenswelt ins System verschobene Klassenstruktur verliert ihre historisch greifbare Gestalt.«220 Habermas trennt zwischen der »Struktur des Wirtschaftssystems«, welche nach wie vor kapitalistisch sei, und der sozialen Realität der Menschen, die in diesem Wirtschaftssystem und für dieses arbeiten.221 Deren Realität, ihre »Lebenswelt«, sei aufgrund der sozialdemokratischen Reformen nicht mehr durch den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital bestimmt. »Marx hat die Werttheorie allein auf den Tausch von Arbeitskraft gegen Arbeitslohn konzentriert und die Verdinglichungssymptome an der Arbeitswelt abgelesen. Ihm stand der historisch begrenzte Typus von Entfremdung vor Augen, den beispielsweise Engels an der ›Lage der arbeitenden Klasse in England‹ illustriert hatte.«222 Habermas macht darauf aufmerksam, dass sich die Erscheinungen des Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert geändert haben.223 In den Metropolen des Kapitalismus gibt es Sozialversicherungen, Begrenzungen des Arbeitstages und das Verbot von Kinderarbeit. Habermas behauptet, dass mit den ›Errungenschaften‹ der Sozialdemokratie der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital nicht mehr zentral für die Gesellschaft sei. Da die Lebenswelt der Lohnabhängigen eine andere sei als im 19. Jahrhundert, brauche es auch eine Theorie der Gesellschaft, welche dies berücksichtige.

Die Trennung von Lebenswelt und System in der ›Moderne‹ beinhaltet für Habermas ein Potenzial zur Entwicklung einer kommunikativen Rationalität und zur Freiheit. Für Habermas verliert die materielle Grundlage der gesellschaftlichen Reproduktion in ›der Moderne‹ an Bedeutung für die Entwicklung und die Dynamiken gesellschaftlicher Prozesse. Er sieht durch die (mit Marx durch den Widerspruch des Kapitalverhältnisses als ideologisch zu erklärende) Trennung von System und Lebenswelt zugleich die Möglichkeit einer Moralisierung: »Mit der Institutionalisierung des Klassenkonfliktes verliert nämlich der soziale Gegensatz, der sich an der privaten Verfügungsgewalt über die Mittel der Produktion gesellschaftlichen Reichtums entzündet, immer mehr seine strukturbildende Kraft für die Lebenswelt sozialer Gruppen, obgleich er für die Struktur des Wirtschaftssystems nach wie vor konstitutiv ist. Der Spätkapitalismus macht sich die relative Entkopplung von System und Lebenswelt auf seine Weise zunutze. […] Je besser der Klassenkonflikt, der mit der privatwirtschaftlichen Form der Akkumulation in die Gesellschaft eingebaut ist, eingedämmt und latent gehalten werden kann, um so mehr drängen Probleme in den Vordergrund, die nicht unmittelbar klassenspezifisch zurechenbare Interessenlagen verletzen.«224 Der gesellschaftliche Integrationsprozess, durch welchen der Klassenkonflikt in spätkapitalistischen Gesellschaften latent gehalten wird, ist vor allem durch die Entwicklung der Sozialdemokratie als seiner Erscheinung auf der politischen und sozioökonomischen Ebene charakterisiert. Die angeblich nicht mehr unmittelbar klassenspezifisch zurechenbaren Interessenlagen, in denen Habermas das Potenzial sieht, eine nicht unter dem Primat der Kapitalverwertung stehenden gesellschaftlichen Vernunft zu bilden, bleiben jedoch machtlos, lassen sie sich nicht profitabel integrieren. Hatte noch Adorno darauf beharrt, dass die Vernunft in den einzelnen Subjekten nicht ohne Bezug auf das Wesen der Gesellschaft zu begreifen sei, und aufgezeigt, dass das Kapitalverhältnis auch den Subjekten und deren Vernunft zugrunde liegt225, so verweist Habermas dagegen nun auf eine ›kommunikative Vernunft‹, welche sich durch Institutionalisierung von Konflikten entwickele, und deutet damit die Systemzwänge und objektiven Widersprüche um in Freiräume. Damit wird der noch von Adorno und Horkheimer negativ verwendete und in seiner Bedeutung hervorgehobene Begriff von Freiheit als etwas noch zu Realisierendes226 und im Widerstand gegen die Herrschaft Aufscheinendes verabschiedet und zugleich die Objektivität von Herrschaftsverhältnissen geleugnet. Der Widerspruch in der Vernunft, wie ihn Adorno insbesondere an Kant darstellte und auf die Realität der Vernunft in der bürgerlichen Gesellschaft bezog, wird damit verdeckt und ein solches Verdecken der objektiven Begründungsprobleme unversehrter Rationalität hat nach Adorno eine »gesellschaftliche Funktion: Widersprüche durch Verleugnung zudecken.«227

 

Eine Gefährdung für die freie Entwicklung (der Individuen in) der Lebenswelt (und damit der gesellschaftlichen Durchsetzung der kommunikativen Vernunft) entsteht für Habermas aus deren ›Kolonialisierung‹ durch das System, wodurch an sich vorhandene Freiheitsspielräume beschnitten würden.228 Jedoch ist bereits diese Trennung von System und Lebenswelt229 eine, welche durch die Bedingungen der kapitalistischen Produktion zu erklären ist: »Die Trennung von symbolischer und systematischer Reproduktion, die bei Habermas die Eigenwertigkeit von Lebenswelt und Subsystemen zweckrationalen Handelns charakterisiert, entspringt nach Marx tatsächlich dem mit dem Kapitalverhältnis gesetzten Schein, als seien die Distributionsverhältnisse unabhängig von der Produktion und die Produktion dann wiederum nur als allgemeine begreifbar.«230 Habermas geht von einem Prozess der Autonomisierung der gesellschaftlichen Sphären in der Moderne aus, sodass es zu einer relativen Unabhängigkeit von System (Ökonomie und Staat) und Lebenswelt (Privatsphäre und Öffentlichkeit) kommen konnte.231 In letzterer sieht er das Potenzial einer Demokratisierung der Gesellschaft, welche sich auf das System auswirken könne und so letztlich den Zwang zur Mehrwertproduktion, das Motiv der Profitsteigerung soweit überwinden könne, dass eine am Gebrauchswert orientierte Produktion innerhalb des Kapitalismus stattfinden könne. Dies setze aber eine Stärkung der Lebenswelt gegen die ›Kolonialisierung‹ durch das System voraus, damit sich auf dem Weg einer kommunikativen Vernunft andere Interessen als ökonomische Systeminteressen bilden und verwirklichen können. Damit werden allerdings diese Trennung und damit die ökonomische Basis der Produktionsform zur unhinterfragbaren und unhinterfragten Voraussetzung erklärt und wie es Marx an den von ihm kritisierten Ökonomen aufzeigt, »die Produktion als ewige Wahrheit entwickel[t], während […] die Geschichte in den Bereich der Distribution« gebannt wird.232

Dementsprechend geht es Habermas auch nicht darum, ideologische Bewusstseinsformen aufzudecken, welche die Herrschaftsverhältnisse verschleiern, und ihre Basis in gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen zu analysieren, sondern um eine ›kulturtheoretische Kritik‹ der Lebenswelt und die Legitimation von Herrschaft. Um die Kolonialisierung, »das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes«, zu durchschauen, bedarf es laut Habermas einer kulturtheoretischen Analyse, welche sich von der ideologiekritischen Tradition kritischer Theorie löst, womit die Verabschiedung von ihrer Fundierung in der Kritik der politischen Ökonomie gemeint ist: »Die in System-/Lebenswelt reformulierte Theorie der spätkapitalistischen Verdinglichung bedarf also der Ergänzung durch eine Analyse der kulturellen Moderne, die den Platz einer überholten Theorie des Klassenbewusstseins einnimmt.«233 Nicht mehr die aus den Klassenkonflikten und daraus ableitbaren ökonomischen wie sozialen Machtkämpfe sollen demnach gesellschaftsformend wirken, sondern eine ›autonom‹ verlaufende und zu kritisierende kulturelle Bildung, welche nicht unter dem Diktat der Wertverwertung stehe, sondern vielmehr dieses überwinden könne. – Damit geht Habermas über zu einer Begründung von Vernunft und zugleich Gesellschaftstheorie, welche sich orientiert am Ideal der herrschaftsfreien Kommunikation in der Praxis durchsetze und so von den gegebenen Herrschaftsstrukturen – welche sich in der Kommunikation reproduzieren – abstrahiert. Vernunft wird dabei von geschichtsphilosophischen und damit teleologischen Problemen losgelöst gedacht und soll damit zugleich zur normativen Grundlage einer Gesellschaftstheorie werden234: »Mit der vorliegenden Untersuchung will ich eine Theorie des kommunikativen Handelns einführen, die die normativen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie aufklärt. Die Theorie des kommunikativen Handelns soll eine Alternative für die unhaltbar gewordene Geschichtsphilosophie bieten, der die ältere Kritische Theorie noch verhaftet war«.235

Durch die Lösung der Gesellschaftstheorie von der Grundlage in der Kritik der politischen Ökonomie und deren Ersetzung durch eine Theorie der Normativität wird letztlich auf die Erklärung von Gesellschaft und damit auf die Bedingung der Möglichkeit von Handeln in der Gesellschaft verzichtet.236 Dies führt zu einem »Konservatismus der kritischen Theorie«, was unter anderem bereits Ritsert und Rolshausen feststellten.237 Wenn es bspw. Habermas darum geht, »das Konstrukt einer Praxis, die immer schon auf rationales Einverständnis angelegt sei«238, gegen die Kolonialisierung durch die Imperative des Marktes zu retten, so impliziert dies die Annahme einer vorangestellten Rationalität, welche sich unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen herstelle und entwickele. »Das soziale Leben erscheint als eine Art Kontinent, der unter der Fremdherrschaft von Monetarisierung und Verwaltung leidet.«239 Dies hat zur Konsequenz, dass durch die Erklärung von Gesellschaft aus den in ihr sich vollziehenden ›kommunikativen Akten‹, welche ihrerseits überhaupt nur durch ihren Bezug auf die gesellschaftlichen Kernstrukturen zu erklären wären, an die unmittelbare Erfahrung der gesellschaftlichen Abgeschlossenheit angeschlossen wird und die Frage nach dem Zusammenhang spezifischer Rationalitätsformen mit den Systemimperativen nicht mehr in den Blick kommt. So stellt sich die gesellschaftliche Immanenz in der Theorie bei Habermas dar, der hier als ein prominenter Vertreter der neueren ›kritischen Theorie‹ angeführt wird und dessen Theorie in angeführten Punkten als exemplarisch für diese Affirmation in moderner Gesellschaftstheorie gelten kann: »Es gehe nicht mehr um ›Aufhebung‹ von Kapitalismus und Bürokratie, sondern um Eindämmung der Übergriffe ihrer Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche. Vom irrationalen Ganzen kann [bei Habermas; S. H.] keine Rede mehr sein.«240

Rademacher kommt in ihrer Studie zu Habermas’ Adorno-Revision zu dem Schluss, dass »Kritische Theorie […] mit den Denkverboten und paradigmatischen Ausschließlichkeitsansprüchen der Kommunikationstheorie von Habermas methodisch wie inhaltlich nicht vergleichbar und vereinbar« ist. »Gerade mit seinem programmatischen Anspruch, die Grundideen Adornos durch den Paradigmenwechsel zur Kommunikationstheorie ›theoriefähig‹ zu machen und so zu ›retten‹, zieht Habermas […] Kritischer Theorie ihren gesellschaftskritischen Stachel. Von dem Begriff ›Kritische Theorie‹ bleibt bei Habermas nur der Name. Ihre Intentionen haben sich in ihr Gegenteil verkehrt.«241 Ausgehend von den Vorwürfen der mangelnden philosophischen Begründung der Kritik in der kritischen Theorie und ihrer Aporien wird das Habermas’sche Programm der Revision kritischer Theorie weiterhin betrieben und verkehrt Theorie weithin in das Gegenteil dessen, was unter dem Namen ›kritische Theorie‹ von Horkheimer und Adorno intendiert war: nicht unversöhnliche Kritik der gesellschaftlichen Herrschaft, sondern Anpassung der Theorie an diese ist das Ergebnis. Solche Anpassung vollzieht sich durch das Tilgen der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie in einer ›kritischen Theorie‹ der Gesellschaft, wodurch eine solche Theorie ihrem Gegenstand nicht gerecht werden kann und zur Apologetik wird.

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