Karriere oder Jakobsweg?

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Karriere oder Jakobsweg?
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Sabine Dankbar

Karriere

oder Jakobsweg?

Wegezeit – Wendezeit

Mein Weg nach

Santiago de Compostela

Laumann-Verlag Dülmen

Sabine Dankbar: Titelfoto

2. Auflage 2012

© 2009 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

D-48249 Dülmen/Westfalen

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, Postfach 14 61,

D-48235 Dülmen/Westfalen

ISBN 978-3-89960-320-0 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-89960-414-6 (EPUB)

ISBN 978-3-89960-415-3 (Mobipocket)

E-Mail: info@laumann-verlag.de

Internet-shop: www.laumann-verlag.de

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit ich denken kann, wollte ich unbedingt ein Buch schreiben! Zwischendurch hielt ich es zwar für einen verklärten Kindheitstraum, obwohl Bücher seit jeher von mir regelrecht verschlungen werden und ich sehr, sehr gerne schreibe – Briefe, Texte, Memoranden, usw. Doch nach meinem letzten Arbeitstag im April 2006 setzte sich dieser altbekannte Gedanke wieder neu bei mir fest: »Sabine, schreibe endlich das Buch, dass du immer schon schreiben wolltest!« Ich beschloss, daraus einen meiner Vorsätze für die vor mir liegende freie Zeit zu machen. Immer dann, wenn ich über das Thema nachdachte, kam ich mir prompt selber in den Sinn: Warum nicht über den Menschen schreiben, den ich am besten kannte? Zudem konnte ich feststellen, dass ich mit meinen Themen nicht allein da stand. Es interessierten sich plötzlich viele Menschen in meiner näheren und weiteren Umgebung für die Beweggründe meines Ausstiegs und die Pilgerreise, die ich plante. Warum nicht die Antworten auf diese Fragen in einem Buch verarbeiten? Letztendlich gab dann der eine wesentliche Gedanke den Anstoß, zum Thema dieses Buches wirklich mich selbst zu machen: Ich hatte Abschied genommen, um neu aufzubrechen und um mir einen neuen Weg zu suchen – genau dem wollte ich für mich ganz allein durch das Schreiben meiner Geschichte nachspüren.

Ich wollte bewusst Abschied nehmen. Von der Sabine, die mir selbst immer fremder geworden war. Ich wollte Abschied nehmen von der materiellen Sicherheit durch den festen Job als Geschäftsleiterin, Abschied von einem Leben, das aus überwiegend Arbeit bestand. Abschied von einem Leben, das mir viel Kraft und Motivation genommen hatte. Abschied von einem Leben, das für mich als Frau kein Familienleben zugelassen hatte. Von der Verantwortung, die mir immer mehr zur Last geworden war. Und ich wollte Abschied nehmen von der eigenen Unzufriedenheit, die nicht im Äußeren begründet war, sondern im tiefsten

Inneren brodelte. Ich wollte nicht mehr länger über die Frage nach dem Sinn in meinem eigenen Leben nachdenken, ohne überhaupt die Zeit dazu zu haben.

Ich wollte aufbrechen in ein neues unbekanntes Leben und noch mal von vorn beginnen. Ich wollte mich erinnern, was an vergangenen Träumen und Sehnsüchten noch in mir übrig war. Ich wollte einen Aufbruch, um auf dem Jakobsweg zu pilgern. Einen Aufbruch, um Antworten auf meine Fragen zu finden. Aufbruch, um mich neu orientieren zu können, ohne dabei alten Ballast mit mir herumschleppen zu müssen. Aufbruch, um einen neuen Sinn zu finden. Aufbruch in eine Verantwortung nur für mich selbst. Ich wollte aufbrechen, in eine Zeit, in der ich endlich lernte, mich so zu lieben, wie ich bin und nicht wie ich meinte, sein zu müssen, damit ich geliebt werde.

Ich wollte einen neuen Weg hin zu einem Beruf, der meinen Leidenschaften entsprechen sollte: Menschen und Schreiben. Einen neuen Weg hin zu einer Frau mit eigener Familie. Einen neuen Weg, der mir Zeit lassen sollte und der mich zur Ruhe kommen lassen sollte. Einen neuen Weg, der mich stark und weich zugleich sein lässt. Einen neuen Weg, der von innen heraus aus mir begangen wird. Einen Weg, der meiner ist.

Ich habe nun einen Weg gefunden, der wirklich meiner zu sein scheint, und weil man einen Weg nie allein gehen kann, teile ich gerne meine Geschichte mit Ihnen – wenn Sie mögen. Vielleicht finden Sie sich in einigen Passagen wieder, in anderen sind sie eventuell ganz anderer Meinung als ich – am Ende stimmen Sie mir hoffentlich zu, dass wir nur durch die Begegnung mit uns selbst und mit anderen Menschen wachsen können.

Sabine Dankbar

1. Advent 2008

I. Mut zu Lebensbrüchen

Zum ersten Mal hörte ich vom Jakobsweg in einer Unterhaltung mit meiner Freundin Susanne, die wir während eines gemeinsamen Spazierganges führten. Auch heute noch ist mir die Situation sehr gegenwärtig. Es war ein schöner, später Frühlingstag im Jahr 2003. Wir befanden uns in einem zauberhaften, lichten Wäldchen bei Telgte, der Krippen- und Wallfahrtsstadt nahe Münster. Bei unserem Spaziergang passierten wir ein großes Christuskreuz, das inmitten des Waldes stand. Wir verharrten dort einige Minuten und genossen die Stille, die nur vom Vogelgezwitscher und dem Rascheln der Bäume unterbrochen wurde. In uns breitete sich eine wohltuend leise Stimmung aus, die Natur nahm uns auf eine besondere Weise gefangen. Wir spazierten weiter, unsere Gespräche drehten sich um Glaube und Spiritualität. Der Wald endete plötzlich, und vor uns schlängelte sich ein Feldweg durch neu eingesäte Felder. Susanne erzählte von ihrem Wunsch, irgendwann einmal den Camino zu gehen. Da ich überhaupt nicht wusste, was es damit auf sich hatte, beschrieb Susanne mit der so für sie eigenen Lebendigkeit diesen uralten Pilgerweg, dessen letzte Hauptroute quer durch Nordspanien von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela führt, der sogenannte Camino Francés. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus; welche Bedeutung der Weg für sie habe, warum sie ihn unbedingt gehen möchte und dass sie es bisher aufgrund der fehlenden Zeit, aber auch aus Respekt vor der Hitze noch nicht in die Tat umgesetzt hat. Ihre Begeisterung riss mich mit. Vor allem die Vorstellung, so intensiv mit sich allein sein zu können, lockte mich sehr. Der Abstand vom Alltag, um sich selbst neu zu erfahren – welch eine Herausforderung. Ich war berührt, beeindruckt und tief in mir klang etwas an …

Noch in der gleichen Woche kaufte ich ein Buch, um mehr zu erfahren. Es war das Pilgertagebuch von Andrea Schwarz »Die Sehnsucht ist größer«. Dass ich ausgerechnet dieses auswählte, war alles andere als ein Zufall, nichts im Leben ist Zufall. Dieser sehr persönliche Reisebericht von Andrea Schwarz ist voller Schönheit und Klugheit. Er begeisterte mich und wühlte mich auch auf. Nach der Lektüre stand für mich fest, dass ich diesen Weg gehen würde. Nur wann!? Fünf oder sechs Wochen Urlaub konnte ich mir in meinem Job einfach nicht erlauben. Ich war in der Geschäftsleitung unseres Familienunternehmens in meiner Heimatstadt Ochtrup, nicht weit von Münster entfernt, tätig. Wir entwickeln und produzieren Damenoberbekleidung im mittleren Preissegment und gehören in der deutschen Bekleidungsindustrie zu den größeren Herstellern. Ich hatte Vorbildfunktion. Für die Mitarbeiter in meinem Verantwortungsbereich, der Produktentwicklung, wäre es auch nicht möglich, sich für vier oder mehr Wochen in die Ferien zu verabschieden. Trotzdem, den Camino in Etappen zu gehen, kam für mich auf keinen Fall in Frage. Ich wollte die Magie und Einzigartigkeit des Pilgerns, dieses Loslassen von allem und jedem über einen längeren Zeitraum, genauso erleben.

Das Buch löste aber noch etwas anderes in mir aus. Andrea Schwarz und ihre Motivation zu pilgern, das was der Weg in ihr auslöste und wie sie es beschrieb, brachten in mir Empfindungen zum Klingen, die mich zum einen sehr verunsicherten, zum anderen aber etwas in mir freisetzten. Mich hatte die Sehnsucht gepackt.

Etwa einen Monat nach dem Spaziergang trennte sich mein Freund nach über fünf gemeinsamen Jahren von mir. Besser gesagt: Ich trennte mich, nachdem er zu mir gesagt hatte: »Ich habe dich lieb, aber ich kann nicht richtig Ja sagen, etwas hält mich ab.«

Für mich brach eine Welt zusammen, in der folgenden Zeit litt ich sehr. Wieder war meine Sehnsucht nach einer vertrauensvollen Partnerschaft und der Wunsch nach Kindern in weite Ferne gerückt. Stundenlang zermarterte ich mir meinen Kopf darüber, was ich falsch gemacht hatte, warum er mich nicht so lieben konnte, dass er bei mir blieb. Was störte ihn an mir? Was hätte ich tun können? War ich zu fordernd gewesen, mit meinem Wunsch nach Klarheit? Dann wieder verfluchte ich ihn, weil er mir nicht früher etwas gesagt hatte. Ich fühlte mich um diese fünf gemeinsamen Jahre betrogen, ich fühlte mich mit meinen achtunddreißig Jahren unendlich alt! Nach außen zeigte ich meinen Schmerz kaum, aber in meinen eigenen vier Wänden verbrachte ich viele Stunden mit dem Gefühl grenzenloser Einsamkeit. Gerade die alltäglichen Dinge überforderten mich. Das sonntägliche Frühstücken mit Brötchen und Zeitung noch im Schlafanzug, das ich bisher als so gemütlich empfunden hatte, löste in mir Heulkrämpfe aus. Abends weinte ich mich in den Schlaf und hatte wirre Träume. Ich stellte mir so viele Fragen: Welchen Sinn hat mein Leben? Was will ich wirklich? Bin ich zufrieden? Wo sind meine Träume geblieben? Bin ich eine von den Frauen, die an ihrem Beruf kleben bleiben und irgendwann alt und verbittert sein würden? Davon gibt es gerade in der Modebranche genug. Frauen, die perfekt gestylt sind und immer den neuesten Trend tragen. Die Frauen, die die »Vogue«, die »Elle« und die »Textilwirtschaft« wie die Bibel lesen und außer ihrem Mikrokosmos Mode nichts mehr sehen. Die Frauen, deren gesamter Tagesablauf sich nur noch um den Job und ihr Äußeres dreht. Die Frauen, die nach außen tough und cool wirken und sich im Grunde ihres Herzens nach Menschlichkeit und Wärme sehnen, deren harte und kantige Gesichtszüge genau diese inneren Kämpfe widerspiegeln. Mir sah man anscheinend Letzteres auch schon an.

 

Aber es heißt ja: Zeit heilt alle Wunden. Dies traf auch für mich zu. Meine Eltern, meine vier Geschwister und deren Familien, auch meine Freunde halfen mir über diese schwere Zeit hinweg. Sie luden mich ein, versuchten mich abzulenken, zeigten mir ihre Zuneigung und Liebe auf vielfältige Weise. Der Beruf tat sein Übriges. Meine Arbeit wurde in noch höherem Maße zu meinem Lebensmittelpunkt. Meine Tage begannen morgens sehr früh und endeten spät. Meine Fahrtzeit von Münster nach Ochtrup zu meinem Arbeitsplatz bei bianca, knappe 40 Minuten, nicht eingerechnet. Meine Tage waren reich an Begegnungen, sowohl privat wie geschäftlich. War ich dann einmal allein, versuchte ich die Zeit in vollen Zügen zu genießen. Ich las viel und verschlang ein Buch nach dem anderen.

Aber es fehlte etwas in meinem Leben und so machte sich immer häufiger Unzufriedenheit in mir breit. Ich hatte oft Phasen, in denen ich mich schwer motivieren konnte und nach außen negative Signale sendete. Was fehlte mir? War es die Sehnsucht nach einem Mann, nach einem Kind? Endlich jemanden zu finden, der sich ohne Wenn und Aber für mich entschied, für mich mit allen meinen Stärken, Schwächen, Träumen und Sehnsüchten. Jemand, der vom Zusammenleben ähnliche Vorstellungen wie ich hatte, der keine Angst vor Nähe und Verantwortung empfand, der eine Beziehung als Bereicherung und nicht als Einengung für das gemeinsame Leben wertete. Nach Hause zu kommen, die Anwesenheit eines Menschen zu spüren, willkommen geheißen zu werden, gemeinsam zu Abend zu essen, ohne sich erst wieder einen Sozialkontakt organisieren zu müssen. Die Tür aufmachen zu können, ohne dass mich eine dunkle Wohnung empfing und ich erst Licht und Radio anschalten musste, um mich nicht so allein zu fühlen. Meine Erlebnisse vom Tag ganz einfach erzählen zu können und dem anderen zuzuhören. Sich vielleicht die gemeinsame Lieblingsserie im Fernsehen anzuschauen, dabei gemütlich auf dem Sofa Rotwein zu trinken und sich aneinander zu kuscheln. Sex zu haben und nicht allein ins Bett gehen zu müssen. Sich das alles vorzustellen und es nicht zu haben, das war einfach quälend. Diese Gedanken einfach beiseite zu schieben, war ein Akt der Unmöglichkeit. Ich kann zwar gut allein sein, möchte aber nicht einsam sein.

Mich selbst zu lieben war zu dem Zeitpunkt so verdammt schwer. Wie auch, fragte ich mich selbst, wenn man niemanden findet, der vorbehaltlos ja zu einem sagt. Mein Selbstvertrauen war oft im Keller, schneller als gewöhnlich ließ ich mich verunsichern. Dies verspürte ich ebenso in meinem Beruf, oft fehlten mir Ruhe und Gelassenheit. Das Sich-selbst-in-Frage-Stellen war ein häufiger Begleiter in dieser Zeit. Wie weit hatte mein Beruf, mein über die Maßen voller Einsatz für unser Unternehmen, mit meiner privaten Situation zu tun? In mir gärte es.

Ich kaufte zwei weitere Reisetagebücher und las sie sofort. Die Suche nach dem Sinn in meinem eigenen Leben beschäftigte mich zunehmend, ich reflektierte mich selbst und mein Dasein. An diesen Gedankenprozessen ließ ich nur ganz wenige teilhaben. Mein Alltag lief wie gewohnt, die Arbeit beanspruchte mich sehr. Ungeachtet dieser Tatsachen war mein Aktivitätsindex, sowohl privat wie beruflich, weiterhin sehr hoch. Ich war oft unterwegs, besuchte meine alten Freundinnen in Süddeutschland, schaute mir die Kunstausstellung »MOMA« in Berlin an, probierte ständig Neues aus, wie zum Beispiel einen Tauchkurs, flog mal eben für eine Woche mit einer guten Bekannten auf die Malediven. Ich verspürte eine fieberhafte Lebenslust. Andererseits löste dies alles zwischendurch auch Phasen der Melancholie und Traurigkeit aus. Es waren einfach Lückenfüller, natürlich nicht die Begegnungen mit meinen Freunden, aber alles andere diente der Ablenkung und Zerstreuung. Vielleicht fand ich gerade deshalb wieder häufig den Weg zur Kirche, entweder ging ich in den Dom in die kleine rechte Turmkapelle, um eine Kerze anzuzünden, oder ich besuchte die Kirche des Kapuzinerklosters bei mir in der Nähe. Ich bin und war immer sehr mit meinem katholischen Glauben verbunden, aber in dieser Zeit empfand ich den kirchlichen Raum der Stille noch stärker als zuvor als Trost und Rückzug. Nicht selten überkamen mich die Tränen, wenn ich allein in einer Bank saß. Es waren Tränen der Erleichterung, ich fühlte mich in diesen Momenten so überhaupt nicht mehr allein. Gott war bei mir, das spürte ich.

Der Weg rief mich. Oft musste ich an das Gelesene denken, sah die in den Büchern gezeigten Bilder plastisch vor mir: Die roten Klatschmohnfelder, die Weinberge, durch die sich der Weg hindurchschlängelte, die Pilgerrucksäcke mit den Jakobsmuscheln, aber für mich kam es wegen der äußeren Umstände einfach nicht in Frage. Der Satz »wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, er traf damals nicht auf mich zu. Mein Wille war hier nicht entscheidend, obwohl ich ein sehr willensstarker Mensch bin. Hürden, die sich in meinen Weg stellen, werden ausgeräumt. Woran fehlte es mir nun? War es mangelnder Mut gegenüber dem völlig Unbekannten, der mich zögern ließ? War mir mein Verstand im Weg? Wie so oft jagte ein Gedanke den anderen.

Ordneten sich mein Herz und mein Bauchgefühl meinem Pflichtbewusstsein unter? Heute weiß ich, dass es genau das war, was mich abhielt. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mir diesen Traum erfülle, verhalte ich mich egoistisch, lasse die anderen im Stich. Die anderen, das waren in erster Linie mein ältester Bruder, der als Geschäftsführer die Firma leitet und meine unmittelbaren Mitarbeiter. Auch meinen Vater, der in der Firma nicht mehr aktiv war, wollte ich nicht enttäuschen. Der Verantwortung, die mir übertragen worden war, wollte ich in jedem Fall gerecht werden. Deshalb las ich einfach weitere Bücher über den Jakobsweg, das war schließlich fast dasselbe. Oder nicht?

Im August des nachfolgenden Jahres passierte etwas, was meine damalige Gefühlswelt in andere Bahnen lenkte und mir ganz neue Energien schenkte. Ich verliebte mich wieder. Während eines kurzen Urlaubes lernte ich einen wunderbaren Mann mit seiner Tochter kennen. Ich schwebte über den Wolken, da ich endlich das Gefühl hatte, angekommen zu sein. In einer E-Mail an ihn zitierte ich daher auch eine entsprechende Textzeile: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« Unsere Beziehung empfand ich als Begegnung, die sich auf vielfältige Weise ausdrückte, durch unterschiedliche Spielarten und viele Facetten. Ich empfand unser Zusammensein als etwas ganz Besonderes, da ich sehr viel Zärtlichkeit, Fürsorge und auch Vertrauen verspürte. Wir diskutierten über alles und jedes, besprachen unseren Alltag miteinander, erzählten uns von unseren Sorgen und Ängsten. Wir waren uns sehr nahe, sowohl geistig wie körperlich. Mit seiner Tochter verstand ich mich ebenfalls sehr gut und wurde von ihr sehr schnell akzeptiert. Die ersten Wochen waren sehr harmonisch, problematisch war nur, dass wir eine Fernbeziehung führten. Unsere Heimatstädte waren nicht wirklich weit voneinander entfernt, aber wiederum auch nicht so nah, dass man mal kurz zueinander fahren konnte. Genau hier begann unser Problem, das heißt aus meiner Sicht war es ein Problem. Ich verspürte den immer stärker werdenden Wunsch mehr Zeit miteinander zu verbringen und wollte unsere Wochenenden langfristiger planen. Durch unsere sehr zeitintensiven Berufe war es nicht selbstverständlich jedes Wochenende gemeinsam zu verbringen. Walter berät und coacht als Diplomsoziologe Unternehmen und Einzelpersonen, er war ständig unterwegs. Auch seine Tochter mussten und wollten wir mit einbeziehen. Dadurch entstanden Stresssituationen, wer sollte fahren, wer konnte fahren, alleine darüber nachzudenken und zu sprechen war für ihn schon mit Anspannung verbunden. Ich interpretierte dies als Zurückweisung und mangelnde Zuneigung, mein altes Gedankenmuster, geprägt durch die früheren Erfahrungen, kam wieder zum Vorschein. Ich begann mir unserer Beziehung nicht mehr sicher zu sein und er bestätigte mir dies auch indirekt in einem unserer Gespräche: »Ich kann so schnell nicht von Liebe reden, ich empfinde das Hier und Jetzt als wunderschön, aber über die Zukunft bereits zu sprechen, das ist mir nicht möglich. Ich habe mich auch am Anfang nicht Hals über Kopf in dich verliebt.« Dies nagte sehr an mir, vor allem weil ich sein Verhalten mir gegenüber als komplettes Gegenteil empfand, wertschätzend und liebevoll. Gerade deshalb hielt ich an uns fest. Ich vermisste zwar einiges, aber ich bekam auch sehr, sehr viel und mir machte es so viel Freude mich und meine Gefühle zu verschenken.

Mit meinem Berufsleben haderte ich immer mehr. Es gab Felder in meinem vielfältigen Job, die mir unendlich Spaß machten. Der Umgang mit Mode, sich gedanklich damit auseinanderzusetzen, Frauen durch Kleidung schöner zu machen, ihre persönlichen Stärken zu unterstreichen und ihre körperlichen Problemzonen zu kaschieren, brachte mir sehr viel Freude. Ein weiterer positiver Faktor war der Kontakt mit den Mitarbeitern und die Nähe zu ihnen, Teamentwicklung und -arbeit bewertete ich als entscheidend. Distanziertes Verhalten fand ich meinen Mitarbeitern gegenüber als unangebracht und der Sache nicht förderlich. Transparenz in allem strebte ich an, denn nur gut informiertes Personal konnte entsprechende Leistungen bringen, das war mein Credo. Jederzeit war ich für jeden erreichbar. Meine Belastbarkeit war immens, zwar war ich dabei nicht immer ausgeglichen und nicht die Ruhe in Person, bisweilen war ich auch gereizt und reagierte sehr emotional, aber ansprechbar war ich auf jeden Fall und kümmerte mich sofort, wenn man auf mich zukam.

Häufig war ich beruflich auf Reisen, zusammengerechnet mindestens acht bis zehn Wochen im Jahr. Die Messen und die Lieferantenbesuche in den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen waren spannend, nährten meinen Wissensdurst und stillten meine Neugierde. Allerdings waren es auf der anderen Seite immer nur Momentaufnahmen. Natürlich bekam ich einen Eindruck von Shanghai, Hongkong oder Seoul, schnupperte in diese fremde, asiatische Welt hinein und machte auch Unterschiede in den jeweiligen Mentalitäten fest, aber es blieb immer beim kurzfristigen Eintauchen. Zu mehr war nie Zeit. Abflug, Ankunft, Koffer im Hotel abladen, direkt zum Lieferanten oder zur Messe, weiter zum nächsten Termin, dazwischen ein schneller Imbiss, abends Essen gehen, später todmüde ins Bett fallen, am nächsten Tag wieder der gleiche Ablauf. Nur ein einziges Mal habe ich in Asien einen Tempel besuchen können, allenfalls hier und da einen Besuch auf einem der zahlreichen Märkte, wo unzählige Markenplagiate angeboten werden, ließ der eng bemessene Zeitplan zu. Mindestens zwei Mal im Jahr war ich in Paris, nie habe ich in all den Jahren den Louvre oder den Eiffelturm besucht, dafür kannte ich jedes Modegeschäft zwischen der Champs-Élysées, der Rue Saint Honoré und dem Boulevard Saint Germain. Die Uffizien in Florenz habe ich besichtigen können, weil unser Flugzeug wegen Nebel erst am Nachmittag starten konnte. Wie oft hatte ich mir vorgenommen, einen oder zwei Tage Urlaub anzuhängen, um von diesen Städten mehr zu sehen als die Geschäfte, Restaurants und Hotels. Aber die Kollektionsfertigstellung ließ keinen Platz dafür, mehr von dem Flair zu genießen und die Momentaufnahmen zu tieferen Eindrücken reifen zu lassen. Trotzdem, die Reisen möchte ich nicht missen. Jedes Eintauchen in fremde Welten erweitert den Horizont und die eigenen Sichtweisen, auch wenn es sich nur um kurze Einblicke handelt.

Die Modebranche ist eine wunderschöne, bunte Welt, in der es aber auch schnelllebig und hektisch hergeht. Man ist immer mit mehreren Kollektionen, die auch noch verschiedene Jahreszeiten abdecken, gleichzeitig beschäftigt. Das Karussell dreht sich permanent, Verschnaufpausen gibt es nicht. Man ist laufend in Entwicklungsprozessen. Jeder Einzelne muss in diesem Zirkus Höchstleistungen bringen, Schwächen sind nicht erlaubt. Die Kollektionen müssen fertig werden, damit der Vertrieb vermarkten und die Betriebe produzieren können. Ein Rad muss in das andere greifen. Irgendwann war ich all dem gegenüber müde, nichts ging mehr locker von der Hand. Ich fühlte mich, obwohl erst Ende dreißig, häufig uralt. Mein Beweggrund jeden Tag zur Arbeit zu gehen, war nicht mehr Freude an meinem Beruf, sondern es war in erster Linie Pflichtgefühl unserem Familienunternehmen gegenüber. Ich fühlte Abhängigkeit, eine Abhängigkeit, die ungesund war, die mir wehtat. Meine emotionale Unabhängigkeit war mir abhanden gekommen, ich erlebte mich als unfrei und befangen. Freude, die sich aus meinem Selbst entwickelte, nahm ich nur noch wenig wahr. Das fand ich, war eine schlechte Grundlage für die tägliche Arbeit. Es war nicht fair mir selbst gegenüber und schon gar nicht gegenüber unserem Unternehmen. Meiner Meinung nach hatten alle Mitarbeiter Anrecht auf eine voll motivierte, ohne Selbstzweifel geplagte Führungskraft.

 

Immer wieder kam mir der Jakobsweg in den Sinn. Würde eine Auszeit mich wieder nach vorne bringen, mich wieder klarer sehen lassen? Wie das Zeitproblem lösen?

Die Zeit mit Walter war auch von Höhen und Tiefen geprägt.

Was war das für eine Bindung, die keine Perspektiven kannte?

Je näher mein 40. Geburtstag rückte, desto intensiver dachte ich über mein Leben nach. Immer wieder die gleichen Gedanken. Natürlich war ich dankbar für vieles: Ich war gesund; ganz attraktiv; finanziell unabhängig, konnte mir vieles leisten, ohne großartig dafür zu sparen; konnte Rücklagen für später bilden; hatte eine schöne Wohnung, liebevolle Eltern und Geschwister, süße Neffen und Nichten, wunderbare Patenkinder, tolle und zuverlässige Freunde. Dankbar zu sein, ist eine wunderbare Eigenschaft und ein großartiges Gefühl. Aber darauf wollte und konnte ich nicht mein ganzes Leben aufbauen. Mehr und mehr wuchs die Unsicherheit darüber, ob mich das alles auf Dauer wirklich glücklich machen konnte. Dieses Glück war ein äußeres Glück, nicht in mir verwurzelt. Welche Kraft konnte ich aus mir selbst schöpfen? Was würde passieren, wenn sich um mich herum alles radikal ändern würde? Irgendetwas fehlte. Irgendetwas lief schief. Gleichzeitig verbot ich mir aber solche Überlegungen: »Reiß dich zusammen!«, predigte ich mir, »andere haben wirkliche Probleme, dir geht es doch gut! Sei nicht so undankbar!« Da war sie wieder, meine Selbstdisziplin, mich in bestimmten Momenten zusammenzureißen, um den an mich gestellten Erwartungen gerecht zu werden. Letztendlich war es so auch bequemer. Trotz meiner immer wiederkehrenden Gedanken und Fragen verhielt ich mich wahrscheinlich wie die meisten Menschen in der Situation. Warum verändern, was bestens funktioniert? Das Gewohnte erscheint uns perfekt, da kennen wir uns aus.

Im Frühjahr 2005 geschah dann einiges. In der Firma ging es mehr als turbulent zu, neben der normalen Hektik tauchten zusätzliche Probleme auf. Entlassungen aufgrund von Produktionsverlagerungen wurden ausgesprochen. Es fanden deshalb Umstrukturierungen und organisatorische Neuausrichtungen statt. Emotional empfand ich diese Zeit als sehr belastend. Ein Päckchen kam zum anderen, so erschien es mir. Walter und ich trennten uns und kamen kurze Zeit später doch wieder zusammen. Ausgerechnet zu einer wichtigen Stoffmesse wurde ich so krank, dass ich zu Hause bleiben musste. Ich hatte mir einfach zu viel zugemutet und mein Körper rächte sich mit einer schweren Grippe. Christa, eine meiner besten und langjährigen Freundinnen, schickte mir daraufhin einen Brief. Dieser enthielt ein Schreiben des Mönchs Bernhard von Clairvaux an seinen Freund Papst Eugen aus dem 12. Jahrhundert »Gönne Dich Dir selbst.« Ich las Zeilen, die mich tief berührten: »Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst, soll ich Dich da loben? (…) Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben, dann sei auch Du selbst Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. (…) Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? (…) Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal.« Diese Worte ließen mein schlechtes Gewissen, nicht auf der Messe zu sein, schlagartig zur Ruhe kommen. Im Laufe des Jahres nahm ich diesen Text immer wieder zur Hand, er befand sich jederzeit griffbereit in meinem Timer. Ich versuchte die Worte zu beherzigen und sorgte dafür, dass ich mir immer wieder kleine Inseln der Ruhe, Entspannung und Besinnlichkeit schaffte.

Die Beziehung zu Walter war wieder entspannter, auch weil ich beschlossen hatte, mehr Zeit im Hier und Jetzt zu verbringen, mehr den Augenblick zu genießen und nicht ständig den Blick nach vorne zu werfen. Dies gelang mir ganz gut und dadurch wich der Druck. Wir beschlossen, zum ersten Mal allein, nur zu zweit, ein paar Tage Urlaub zu machen. Unser Reiseziel war eine einsam gelegene Finca im Nordosten von Mallorca. Wir verbrachten traumhafte Tage und kehrten beschwingt einen Tag vor meinem 40. Geburtstag im Mai wieder zurück. Meinen runden Geburtstag feierte ich dann mit meiner Familie, allen meinen Freunden und auch vielen Kollegen aus der Firma mit einer stimmungsvollen Party im Hafen von Münster. Selbst schenkte ich mir eine zehntägige Ayurveda-Kur, die zwei Tage später in Bad Wildstein begann. Die Ruhe dort, das Entgiften des Körpers durch die ayurvedische Kost und die wohltuenden Behandlungen, der Verzicht auf Alkohol, das tägliche Yoga, das Faulenzen im grandiosen Park unter uraltem Baumbestand, die Radtouren an der nah gelegenen Mosel, dies alles tat unendlich gut. Ich fühlte mich zufrieden, obwohl es auch in der Kur Momente gab, in denen ich tieftraurig war. Diese traten immer dann auf, wenn ich mich draußen im Park aufhielt. In meinem Liegestuhl sitzend, schaute ich in die Baumkronen, hörte das Laub rascheln, sah die Eichhörnchen von Ast zu Ast klettern, spürte den Wind in meinen Haaren und versuchte mich der Zeit hinzugeben, die langsam und träge verging. Schmerzlich wurde mir dann bewusst, wie wenig ich gedanklich im Heute war. Ständig waren meine Überlegungen mit dem Morgen, mit der Zukunft beschäftigt. Nicht nur, weil dies mein Job so erforderte, es lag ganz einfach an mir, an meiner Persönlichkeit. Ich brauche Ordnung und Struktur um mich herum, möchte alles planen und vorausschauend bedenken, Chaos ist mir zuwider. Deshalb bin ich immer erst dann zufrieden, wenn alles erledigt ist und mein Dasein klar und übersichtlich vor mir liegt. Mit dieser Haltung ist es sehr schwierig, im Hier und Jetzt zu sein. Ich realisierte, dass ich mir dadurch auch vieles nahm. Wenn ich gedanklich ständig woanders war, konnte ich mich auch auf die Gegenwart nicht voll einlassen. War ich deshalb von den Zielen meines Lebens so weit weg?

In diesem Urlaub dachte ich zum ersten Mal über Kündigung nach und darüber, wie ich mich beruflich verändern könnte. Meine alte Leidenschaft für das Schreiben von Texten und Briefen kam mir in den Sinn. Hatte ich vielleicht sogar das Talent ein Buch zu schreiben? War es nicht leichtsinnig meinen sicheren Job aufzugeben, um etwas mir völlig Neues und Unbekanntes zu wagen?

Nach meiner Rückkehr war meine Erholung schnell dahin, meine Überlegungen waren flink beiseitegeschoben, der alte Rhythmus schlich sich wieder ein. Das Gefühl, niemandem wirklich gerecht zu werden, kehrte zurück. Schwierigkeiten, die auftraten, machte ich häufig an mir und meinem Verhalten fest. »Ich bin schuld, ich habe mich nicht richtig verhalten« waren Sätze, die ich oft und gerne innerlich benutzte. Wieder bemerkte ich nicht oder wollte es nicht bemerken, dass ich mich nur von außen bestimmen ließ. Jegliche Zweifel, die mahnend in mir hochkamen, unterdrückte ich. Zwischendurch schützte ich mich, indem ich verbal austeilte, oft war ich ungenießbar. Meine Unzufriedenheit ließ ich an anderen aus. Keine leichte Zeit, weder für mich, noch für die Menschen um mich herum. Durch Meditation und Auseinandersetzung mit meinem Glauben versuchte ich etwas Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Der Jakobsweg spukte immer noch in meinem Kopf herum, verbunden mit der Sehnsucht einfach alles stehen und liegen zu lassen.