Ab in die Karibik!

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Ab in die

Karibik

Ein Roman

von

S. in der Heiden

Impressum

Ab in die Karibik

© 2016 S. in der Heiden

1. Ausgabe 2016

Verlag: epubli GmbH, Berlin. www.epubli.de ISBN: 978-3-7418-1157-9 Buchsatz und Cover: Andrea Fritz, http://www.ebooktreibhaus.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

… Ab in die Karibik, wo das schöne Wetter

ist und die Sonn’ sich nie verpisst …

Inhaltsverzeichnis

Unverhofft

Echte Fründe ston zesamme …

15. Januar

16. Januar

17. Januar

18. Januar

19. Januar

20. Januar

21. Januar

23. Januar

24. Januar

25. Januar

30. Januar

1. Februar

2. Februar

4. Februar

5. Februar

6. Februar

Et hätt noch schlimmer kumme könne

Dem Tod so nah

Der Mann aus dem Seniorenheim

Unverhofft

Das Schönste,

was wir erleben können,

ist das Geheimnisvolle. (Albert Einstein)

Der 17. März sollte ein denkwürdiger Tag für Clara und Peter werden. Bis zu jenem Datum haben sie ein halbes Jahrhundert lang ein gut strukturiertes Leben in nie gefühlter Einsamkeit geführt. Ausgerechnet auf dem Weg zur Landesver­siche­rungs­anstalt erwischt sie Amors Pfeil. Liebe ist kein Privileg der Jugend. Auch bei Clara und Peter wird sie das Leben auf den Kopf stellen.

Clara Kasimier hat heute dienstfrei und einen Termin bei der Landesversicherungsanstalt in der Kreisstadt. Immer wenn sie in die Kreisstadt will, fährt sie mit ihrem Auto zum Eitorfer Bahnhof und von dort per Zug in die Stadt. So auch heute am 17. März.

Trotzdem die Sonne scheint, ist es recht kühl an diesem Tag. Wie so oft trägt sie Blue-Jeans, ihren sonnengelben selbstge­strick­ten Baumwollpullover, eine olivfarbene Outdoorjacke und dunkel­braune feste Schnürschuhe. Clara legt großen Wert auf praktische und atmungsaktive Kleidung. Konventionen für Frauen ihres Alters scheren sie nicht. Mit einer mittelbraunen großen Hand­tasche über der Schulter und einem Ordner mit persönlichem Inhalt, nämlich ihren Rentenunterlagen und Gehaltsbeschei­ni­gungen, verlässt sie ihr Haus. Ein hübsches, gepflegtes Häuschen im Grünen, schon etwas älter, von ihren Eltern geerbt. Clara ist hier aufgewachsen. Nur kurze Zeit hat sie mal woanders gewohnt, ansonsten immer hier. Sie hängt an diesem Haus. Der neue Anstrich in Weinrot und die neuen weißen Fensterrahmen ver­leihen dem in den sechziger Jahren gebauten Haus ein jüngeres Aussehen.

Ihre Handtasche und den Ordner verstaut sie auf dem Bei­fahrersitz, sie selbst schwingt sich hinter das Lenkrad. Auch wenn sie nicht mehr jung ist, fit ist sie geblieben und normalgewichtig bei einer Größe von 1,65 Meter. Im Gegensatz zu einigen ihrer Freundinnen. Die haben sich spätestens ab dem 50. Geburtstag gehen lassen. Du lebst nur einmal, haben sie gesagt und sich dabei nachmittags gemütlich zum Tortenessen getroffen. Für Clara ist die Zukunft noch immer von Bedeutung. Sie hat sie mit dem erreichten halben Jahrhundert nicht einfach an den Nagel gehängt. Seit über vierzig Jahren besucht sie regelmäßig einen Tanzverein.

Vorsichtig wie immer fährt sie rückwärts aus der Einfahrt. Bis zum Bahnhof ist es nicht weit. Dort stehen in Reih und Glied Parkuhren, die gefüttert werden müssen. Clara ist eine sparsame Frau und stolz darauf. Sie lächelt, kennt sie doch einen kostenfreien Stellplatz für ihren kleinen gelben Flitzer. Die fünf Minuten Fußweg zum Bahnhof nimmt sie gerne in Kauf. Diese sind bereits in ihrem Zeitplan eingerechnet.

Als Clara den Fahrschein zieht und zum Bahnsteig geht, muss sie nicht lange warten. Ihr Zug fährt gerade ein. Fünf Halte­stationen weiter wird sie am Ziel sein.

Clara Kasimier hat ein Geheimnis und das betrifft einen Anteil ihrer Persönlichkeit, den sie für sich behält, den niemand kennt außer ihr selbst und ihre beste Freundin Babs.

Clara liest mit großer Leidenschaft Liebesromane. Just in diesem Augenblick schwirrt in ihrem Kopf der Gedanke an den zuletzt gelesenen Roman mit dem großen blonden Helden mit den stahlblauen Augen herum. Die letzten Nächte hat sie von nichts anderem geträumt und auch am Tag schweifen ihre Gedanken wieder und wieder zu diesem hübschen jungen Romantiker. So gestattet Clara Kasimier manch männlicher Figur aus einem ihrer Romane Teil ihrer Realität zu werden, zumindest eine kleine Zeit lang. Sie teilt ihr Leben ausgesprochen gerne mit ihren jugend­lichen Phantasie­liebhabern.

Manchmal liest sie die Romane ihrer Helden mehrmals hinter­einander, um ihnen aufs Neue nahzukommen. Ein Ersatz zur echten Männerwelt.

Clara ist Krankenschwester. Einmal war sie verheiratet, für eine kurze Strecke ihres Lebens, die schon eine Ewigkeit zurückliegt. Sie hatte ihren Mann in der Kur kennen und lieben gelernt. Sie waren beide wegen Bandscheibenvorfällen in dieser Kur. Er war geschieden und hatte zwei kleine Töchter. Er war Claras ganz große Liebe und hat ihr das Herz gebrochen, als er nach einigen Monaten glücklicher Zweisamkeit die Scheidung forderte, um wieder zu seiner ersten Frau und den Kindern zurückzugehen.

Der Zug rollt an und Clara nimmt entspannt auf einer Zweierbank am Fenster Platz. Ihre Tasche und den Ordner legt sie auf den freien Sitz vor dem Fenster. Zufrieden lächelt sie vor sich hin, ihre Gedankenwelt reicht ihr dafür aus.

Am ersten Halt steigt Peter Poppel in den Zug. Groß, schlank und dunkelhaarig ist er in einen grauen Trenchcoat gekleidet. Den trägt er offen. Darunter erkennt man Blue Jeans und einen dunkelblauen Pullover, aus dem ein weißblauer Kragen hervor­schaut. Er hat eine Aktentasche dabei.

Peter Poppel fühlt sich heute nicht wohl. Ihn plagen Kopf- und Gliederschmerzen. Hätte er diesen Termin nicht Wochen im Voraus geplant und wäre er kein derart zuverlässiger Mensch, er hätte ihn wohl verlegt.

Peter Poppel ist Steuerberater und ehrenamtlich in insgesamt fünf Vereinen Kassenwart. Ein wenig introvertiert, zugegeben, aber durch Humor ausgezeichnet. Von seinen Vereinskollegen wird er „als immer greifbar“ geschätzt. „Wenn man Poppel braucht, ist er da“, hat Hans, ein Freund aus dem Skatverein, einmal gesagt und hinzugefügt: „Auf den Poppel ist eben Verlass. Der setzt sich für den Verein ein. Der wirkt nur schüchtern, aber der kann kämpfen und ist hartnäckig, wenn es um unsere Belange geht. Dem macht keiner ein B für ein A vor.“ Dann hat Hans ihm als Zeichen der Anerkennung auf die Schulter geklopft.

Frauen gegenüber macht er einen ängstlichen, unbeholfenen Eindruck. Ihm wurde auch mal nachgesagt, homosexuell veranlagt zu sein. Im Grunde weiß keiner viel über ihn persönlich. Außer dass er seine Mutter Zuhause pflegt und von der Karibik schwärmt. Als Hans ihn mal verkuppeln wollte, hat Peter abgewehrt. „Kommt für mich nicht in Frage. Lieb gemeint, Hans, aber wenn ich sehe, wie viele Ehen in meinem Bekanntenkreis kaputt gegangen sind, auch solche von denen ich es niemals erwartet hätte … Nein, da bleibe ich lieber alleine.“

Peter hat bis vor kurzem noch seine Mutter gepflegt. Auf­opferungsvoll bis zu ihrem Tod. Dass sie nun nicht mehr da ist, muss er erst einmal verarbeiten. Sein ganzer Tagesablauf hat sich durch ihren Tod geändert. Die plötzliche Umstellung fällt ihm schwer. Die Sachen seiner Mutter und ihre Wohnung, alles ist noch so, wie sie es verlassen hat. Seitdem sie verstorben ist, hat Peter die Wohnung seiner Mutter nicht mehr betreten. Täglich geht er an ihrer Türe vorbei, seufzt tief und lässt sie dann hinter sich, bevor er nach oben in seine Wohnung schleicht.

Seit ihrem Tod fühlt sich Peter gesundheitlich angeschlagen und ausgerechnet heute ist ihm besonders unwohl. Ihm ist kalt, er hustet, im Hals kratzt es und die Nase läuft. Er wäre besser zum Arzt gegangen. Aber dort hat er erst in einer Woche seinen Termin zum Check-Up bekommen; so wie jedes Jahr. Nie käme ihm in den Sinn sich einen Termin wegen einer „Unpässlichkeit“, einer Erkältung zum Beispiel, zu holen. Da setzt er doch auf Selbstmedikation, vom Apotheker empfohlen, auf vitaminreiche Kost und Gerätesport in der Fitness-Oase, in der er fast täglich trainiert.

 

Er ist Kassenwart des Judo-Clubs und trägt selbst den blauen Gürtel. Eine stolze Leistung für einen Mann seines Alters. Peter ist kein Muskelpaket, aber auch kein Weichei. Wer genau hinsieht, kann definierte Arme erkennen. Auch sein Bauch und seine Oberschenkel sind in Form, aber so genau ist das nicht zu erkennen unter seinen Anzügen, die er in der Arbeit tragen muss.

Mittlerweile hat sich das Abteil gefüllt, kein Sitzplatz ist mehr frei. Nur neben Frau Kasimier, deren Nachbarsitz noch immer von ihrer Handtasche und dem Ordner belegt wird.

Frau Kasimier bemerkt es nicht. Sie ist in ihrer Traumwelt gefangen. Wenn sie die Handtasche und den Ordner doch nur auf ihren Schoß nähme, sinniert Peter und hält sich krampfhaft an der Stange fest. Unentwegt schaut er auf den menschenleeren Sitz. Aber die Dame anzusprechen, nur um einen Sitzplatz zu erhalten? So etwas Ungehöriges macht Peter Poppel nicht. Lieber steht er und hält sich weiterhin an der Stange fest. Er kennt das, Sitzplätze sind rar und er fährt diese Strecke heute nicht zum ersten Mal. Doch heute hätte er wirklich gerne diesen Sitzplatz gehabt. Die Glieder sind ihm so schwer und der Kopf so umnächtigt. Heute hätte er sich sogar neben diese hübsche Frau gesetzt, heute hätte es ihm nichts ausgemacht.

Ihm ist so schwindelig. Er überlegt sogar, wie es wohl wäre, sich auf den Boden zu setzen. Doch das verbietet ihm natürlich sein Anstand. Reiß dich zusammen, sagt er sich immer wieder. Mit flehendem Blick schaut er immer wieder auf den freien Platz. Frau Kasimier erwidert seinen Blick und lächelt ihn versonnen an. Verlegen und leicht errötend lächelt Peter zurück, macht aber keine Anstalten, nach dem ersehnten Platz zu fragen. So hält er sich bis zur Endstation krampfhaft an der Stange fest. Alle Menschen sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, keiner bemerkt, wie es um ihn steht. Peters Kopf ist heiß, seine Augen glänzen fiebrig und der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er glänzt wie eine Speckschwarte.

Am Ziel. Peter verlässt den Zug. An jedem der Sitze und an jedem Handlauf muss er sich festhalten. Mit letzter Kraft begibt er sich zur Einsteinstraße. Auch Frau Kasimier verlässt hier den Zug, um in der Einsteinstraße ihre Rente berechnen zu lassen. Sie ersehnt den vorgezogenen Ruhestand. Sie ist beim Roten Kreuz, der Tafel und im Mehrgenerationenhaus aktiv und möchte sich dort künftig noch mehr engagieren.

Clara hat es nicht eilig. Gedankenverloren schaut sie sich die Auslagen in den Schaufenstern an. Fast wäre sie dabei noch vor ein rotes Auto gelaufen, welches Clara beim Überqueren der Straße vollkommen übersieht. „Kannste nicht aufpassen, blöde Kuh!“, ruft ihr der Fahrer sehr unfreundlich und unanständig zu. Augenblicklich ist ihr Bewusstsein völlig klar. Über diese freche Ansage des Fahrers ist Clara erbost. So ein unverschämter Kerl. Kein Benehmen. Über sich selbst ist sie verärgert, weil ihr in diesem Moment kein passendes Kontra eingefallen ist. Sicher, sie war nicht unschuldig, aber gleich so beleidigend zu werden, ist für sie ein absolutes No-Go.

Im Gebäude befindet sich ein Aufzug, den Clara jetzt nutzt. Normalerweise nimmt Clara lieber die Treppe. Doch durch die beleidigenden Worte des Autofahrers innerlich noch so aufgewühlt, läuft sie direkt auf die geöffnete Fahrstuhltüre zu und ohne weiter über eventuelle Folgen nachzudenken, steigt sie ein. Denn Clara hat, seit sie im Krankenhaus einmal in einem der Aufzüge stecken blieb, Angst, das könne ihr noch einmal passieren. Kurz vor ihr besteigt Peter den Aufzug. Er nimmt ihn nur, weil er sich so unwohl fühlt. Ansonsten nutzt er jede Gelegenheit, fit zu bleiben, und Treppen eignen sich auf das Beste für diesen Zweck. Kreidebleich und mit Schweiß auf der Stirn steht er an die Metallwand des Aufzugs gelehnt. Der Knopf ist bereits gedrückt, stellt Clara mit einem Blick fest. Dieser Mann will also in die gleiche Etage. Bis zu jenem Moment hat sie ihn gar nicht beachtet. Auch so ein Phänomen.

Clara ist eine sehr gute Krankenschwester, an ihren Patienten bemerkt sie jede Veränderung. Aber außerhalb des Krankenhauses ist ihre Wahrnehmung nach innen gerichtet. Neben ihr könnte jemand sterben, sie würde es wahrscheinlich nicht bemerken. Männerblicken weicht Clara für gewöhnlich aus.

Mit einem gewaltigen Ruck fährt der Aufzug an. In diesem Moment verlassen Peter seine Kräfte und er sackt zu Boden. Bewusstlos liegt er vor den Füßen der erstaunten und erschro­ckenen Clara. Auf engstem Raum bemerkt sie es also doch. Niemand anderes kann hier zu Hilfe eilen.

Sie bückt sich zu dem Unbekannten hinunter und spricht ihn an. Keine Reaktion. Sie überprüft seinen Puls an der Halsschlagader und überprüft seine Atmung, indem sie ihm den Hals überstreckt und ihr Ohr für zirka zehn Sekunden dicht über seinen leicht geöffneten Mund hält. Sie knöpft ihm den Mantel und die oberen Knöpfe seines Hemdes auf. Sie greift mit ihrer flachen Hand unter sein Hemd, um diese auf seinen nackten Rippenbogen zu legen und seine Atmung zweifach spüren können. Schnell stellt sie fest, dass Atmung und Puls vorhanden sind und so legt sie ihren Patienten automatisch in die stabile Seitenlage.

Sie hat es in vielen Erste-Hilfe-Kursen gelernt und im Laufe ihrer zahlreichen Berufsjahre immer wieder zur Anwendung ge­bracht. Sie ist geübt. Den Rettungsdienst verständigen, geht ihr durch den Kopf. Kein Netz.

Erst jetzt bemerkt sie, dass der Aufzug feststeckt. Oh Gott, nicht schon wieder. Egal, welchen der Knöpfe sie auch drückt: Es tut sich nichts. Sie klopft vorsichtig an die Wand, ruft „Hilfe“. Clara kontrolliert nochmals die Atmung des Bewusstlosen. Noch kein Grund zur Panik, immerhin, Atmung ist vorhanden. Was kann sie tun? Sie schaut sich den Mann genauer an und spricht ihm Mut zu; Mut, den sie selbst nötig hat. Schon wieder steckt sie in einem Aufzug fest.

Die Angst treibt ihr den Schweiß auf die Stirn. „Hoffentlich dauert es nicht wieder so lange wie damals“, spricht sie vor sich hin. „Tief durchatmen“, sagt sie sich immer wieder. Es kann sie ja keiner hören. Wie ein Mantra: „Tief durchatmen.“ Unterdessen streichelt sie gedankenverloren den Oberarm des Fremden.

Sie lässt ihre Gedanken zu ihrem Roman wandern, um sich ab­zu­lenken und eine Panikattacke zu vermeiden. Bloß nicht hyper­­ven­tilieren.

Wie hätte Elisabeth gehandelt, wäre ihr Geliebter bewusstlos vor ihr zusammengesackt? Hätte sie neben ihm gekniet?

Vorsichtig streichelt Clara durch das volle Haar des Unbekannten. Wie schön es sich anfühlte. Es ist totenstill. Sie kontrolliert noch­mals die Atmung und bemerkt wieder diesen herrlichen Geruch seiner Haare. Es sind nur wenige Zentimeter. Was, wenn sie einmal in ihrem Leben was wagt? Keiner würde es mitkriegen. Sie allein wüsste davon. Sie schließt die Augen und drückt ihre Nase in das herrlich duftende Haar. Ganz weich ist das Haar. Es duftet nach exotischen Hölzern und erinnert sie an den Duft der Karibik. Sie steckt die Nase noch mal in sein herrlich duftendes Haar. Der herrliche Duft berauscht ihre Sinne und sie schließt die Augen und vergräbt ihre Nase in seinem Haar. Dabei streichelt sie ihm immer wieder über den Rücken. Wie gut sich das anfühlt. Sie ist Elisabeth und am Boden liegt ihr geliebter blonder Engel.

Peter liegt erstarrt am Boden. Das Ganze ist ihm sehr befremd­lich, fühlt sich aber dennoch gut an. Küsst sie meinen Kopf? Will sie ihn küssen? Gleichermaßen erstaunt, in große Verlegenheit gebracht und erschrocken von der Fülle der Ereignisse, hält er seine Augen geschlossen. Er atmet den wunderbaren Duft ihres Parfüms ein. Er kennt diesen Geruch. Seine Arbeitskollegin benutzt das gleiche Parfüm. Es heißt Chanel N°19. Er hatte seine Kollegin nach dem Parfüm gefragt, als es durch ihre Anwesenheit im Büro mal wieder so herrlich duftete.

Daraufhin hatte er dieses Parfüm für seine Mutter zum Geburtstag gekauft. Aber seine Mutter hat den Geburtstag nicht mehr erlebt.

Krampfhaft versucht er den Bewusstlosen zu mimen, obwohl sein rechtes Bein bereits eingeschlafen ist und die Hüfte schmerzt. Was hat die mit mir vor? Wenn die mir an die Hose geht, soll ich dann wach werden oder es über mich ergehen lassen? Bis jetzt fühlen sich ihre Berührungen gut an.

Clara legt jetzt ihren Kopf auf seine Schulter und träumt Passagen ihres zuletzt gelesenen Romans. Der Fremde ist schließlich bewusst­los. Ihre Finger wühlen in seinem dichten, wunderbar duftenden Haar.

Solange ich bewusstlos bin, folgert Peter in seinem Fieberdenken, kann ich mich nicht erwehren. Er fühlt eine zweite Hitze in sich aufsteigen, die nichts, aber auch gar nichts mit seinem Krank­heitsbild zu tun hat. Jain brüllt es ihm aus den Abgründen seiner Wünsche, Sehnsüchte und Widerstände entgegen und er ent­schließt beherzt, in der Starre seiner vorgespielten Bewusstlosig­keit zu bleiben. Eine andere Entscheidung kann und will er nicht treffen.

Plötzlich ein kräftiges Ruckeln des Aufzuges. Clara rutscht ängstlich von dem fremden Mann weg, der jetzt gar nicht mehr so fremd ist, und setzt sich mit dem Rücken an die Wand des Aufzuges. Auch Peter überkommt ein jähes Angstgefühl. Er löst sich aus seiner erstarrten Haltung und sitzt auf einmal aufrecht in der Mitte des Fahrstuhls.

Kräftig ruckelnd fährt dieser auf und nieder, ohne anzuhalten. Vom Keller zur achten Etage und wieder zurück. Beide sagen kein Wort. Ihre Blicke sind zur Raumdecke gerichtet. Sie meiden Kontakt. Die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben.

Unvermittelt öffnet sich die Aufzugstüre und beide krabbeln auf allen Vieren und von Panik getrieben aus der Kabine. Die vor dem Aufzug versammelten Personen staunen nicht schlecht. Begrei­fen aber ohne Worte, dass etwas passiert sein muss. Irgend­jemand hat die Ordner, die Aktentasche und die Handtasche aus dem Fahrstuhl geholt und den beiden übergeben. Fragen stürmen auf sie ein, doch weder Clara noch Peter verstehen sie, noch geben sie Auskunft über die Ereignisse.

Um Clara und Peter war es geschehen. Noch aber begriffen sie beide nicht das Ausmaß ihrer Begegnung. Auf den grauen Fluren der Landesversicherungsanstalt kniend, gelähmt vor Furcht und über­flutet von Hormonen, die fürs Verliebtsein verantwortlich sind, nehmen Clara und Peter die Rettungssanitäter bloß sche­men­haft wahr. Sie stammeln nur, als sie angesprochen werden.

Deshalb und nur deshalb entschließen sich die Sanitäter, Herrn Poppel und Frau Kasimier in ihrem Rettungswagen gemeinsam ins Herz-Jesu-Krankenhaus zu fahren. Sicher ist sicher. Frau Kasimier transportieren sie liegend und Herrn Poppel sitzend. Einer der Sanitäter wendet sich erneut an beide, stellt wiederum seine Fragen, doch weder der Mann noch die Frau sind in der Lage, ihm auch nur einigermaßen sinnvoll zu antworten. Undeutlich stammeln sie. Die Eintragung des Sanitäters in sein Buch lautet also: psychisch labil.

Im Herz-Jesu-Krankenhaus verbleiben beide zwei Tage, schlafen Wand an Wand und sortieren ihre Gedanken getrennt. Keiner von ihnen traut sich das Zimmer zu verlassen. So groß ist die Angst, einander zu begegnen.

Als sie schließlich entlassen werden, verlassen sie das Kranken­haus mit gesenktem Kopf, ohne sich zu begegnen und ohne mit einem Arzt oder wenigstens einem ihrer Besucher über die Geschehnisse gesprochen zu haben. Noch nicht einmal Claras beste Freundin, Babs, der sie normalerweise alles anvertraut, erfährt davon. Einzig der Arzt hatte von Clara erfahren, dass der ihr Unbekannte bewusstlos war. Was Peter später bei seiner Untersuchung zu einem Schweißausbruch und in Gewissensnot brachte. Ohne dem Arzt ins Gesicht zu schauen, hat Peter geant­wortet: „Ich kann mich an nichts mehr erinnern!“

Wieder Zuhause angekommen, überspült der Alltag die Gescheh­nisse und lässt sie nach und nach in den Hintergrund treten. In ihren einsamen Stunden jedoch, bevorzugt vor dem Zubettgehen, wenn der Lärm des Tages erlischt, denkt Frau Kasimier an Herrn Poppel und Herr Poppel an Frau Kasimier und Geschehen im Aufzug. Ihr Geheimnis treibt beiden zu passenden und unpas­senden Gelegenheiten die Röte ins Gesicht und verursacht ihnen lebhafte Träume.

So vergeht die Zeit.

Es wird Weihnachten, Silvester, und schließlich beginnt das neue Jahr.

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