WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND

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Nachdem sein Herz zehnmal gepocht hatte, erwiderte Nathaniel ruhig: »Der lange Ritt könnte zu einem abgelegenen Ort führen, wie du vorgeschlagen hast, oder fort zu einem nähergelegenen und dann jeden Abend bei Sonnuntergang zurück.«

»Es erscheint weit wahrscheinlicher, dass du nach Mexiko reiten wirst, da verlangt wurde, dass der vornehme Reiter ›fließend Spanisch‹ sprechen muss.«

»Das ist eine realistische Möglichkeit«, gab Nathaniel zu. »Ich weiß es nicht.«

»Dennoch beabsichtigst du, mich hier zu lassen und mit Fremden fortzureiten, wo immer sie dich hinführen mögen.«

»Ich beabsichtige, vierhundertfünfzig Dollar in einer Woche zu verdienen.«

Kathleen spitzte die Lippen, als wäre sie im Begriff, ihrem Verlobten Gift in die Augen zu spucken. »Der angebotene Lohn ist beträchtlich genug, um die Sicherheit bei dieser Anstellung in Zweifel zu ziehen … und ihre Legalität.«

»Sofern es nichts Ungesetzliches oder Unmoralisches ist, werde ich tun, was man von mir verlangt.«

Ungläubig schüttelte Kathleen ihren Kopf. »Und ich werde keinen Einfluss auf diese Entscheidung haben?«

»Du hast deine Meinung geäußert.«

»Zu einem Zeitpunkt, an dem du für gegenteilige Meinungen taub warst – du hattest die Angelegenheit lange vor unserem Gespräch entschieden.«

»Das hatte ich«, stimmte Nathaniel zu. »Das ist etwas, das ich tun muss.«

Die Frau schnaubte durch die Nasenlöcher. »Was, wenn ich dir sage, dass ich das New-Mexico-Territorium verlassen und zu meiner Familie in den Osten zurückgehen werde, wenn du diese Arbeit annimmst?«

»Ich liebe dich innig, aber wenn du nicht länger sicher bist, dass ich ein angemessener Ehemann bin – wenn du nicht länger glaubst, dass meine Handlungen uns zu einem größeren Lebensglück verhelfen können –, dann steht es dir frei, ein besseres Leben mit jemand anderem zu suchen. Wir sind noch nicht verheiratet.«

Kathleen war fassungslos.

Nathaniels Magen verkrampfte sich angstvoll. Er glaubte nicht, dass Kathleen ihn verlassen würde, aber die Möglichkeit bestand – sie war eine kluge, gebildete und attraktive Frau, und sie hatte den Zug zur Grenze nicht bestiegen, damit sie als Dienstmädchen für die Footman-Familie arbeiten konnte, während ihr Verlobter Schuhe flickte. Wie jedes Paar waren sie zwei unabhängige, von einem Band mit unbestimmbarer Belastungsgrenze zusammengehaltene Menschen, und dieses Gespräch setzte jenes Band zweifellos unter Spannung.

Entfernte Tiergeräusche und nähergelegenes Knarren im Haus durchdrangen das bleierne Schweigen.

Unfähig, die dicker werdende Luft zu atmen, sagte der Gentleman: »Es würde fünf Monate dauern, um so viel in der Werkstatt zu verdienen.«

»Vier Monate.« Der Tonfall der Frau war scharf.

»Kathleen. Wenn die Arbeit gefährlich oder gesetzeswidrig ist, werde ich nicht gehen.« Mit einem Blick ins zweifelnde Gesicht seiner Verlobten fügte er hinzu: »Es ist eine sehr beträchtliche Summe.«

»Das ist es.« Ihr Ton wurde sanfter.

Die Last fiel von Nathaniels Schultern ab – der Streit war beendet. »Und«, fügte der Gentleman hinzu, »die Möglichkeit besteht, dass diese Arbeitgeber schlicht wohlhabende Männer sind, denen vierhundertfünfzig Dollar wenig bedeuten.«

»Der in der Annonce verwandte Schreibstil deutet nicht auf eine gute Kinderstube hin«, antwortete die Frau, »aber ich nehme an, es ist möglich.«

Nathaniel durchquerte den Raum mit einem kleinen Schritt, setzte sich auf die Matratze und küsste Kathleen. Für einen Moment ließ sie ihn gewähren, dann löste sie sich, hastig, als wären sie turtelnde Jugendliche und der verurteilende Kopf eines Elternteils hätte sich gerade in einem Fenster materialisiert.

»Schau nicht so bestürzt.«

»Du hast dich mir verschlossen«, erklärte Nathaniel, der äußerst selten zurückgewiesen wurde. Erneut drückte er seine Lippen auf die seiner Verlobten, doch sie hielt ihren Mund in entschiedener Weigerung geschlossen. Als er sich zurückzog, sagte der Gentleman: »Beim ersten Mal erging es mir besser.«

»Nicht heute«, erklärte die Frau. »Mein Kopf ist zu sehr voller Sorgen, als dass ich mit dir romantisch sein könnte.«

Nathaniel legte seine rechte Hand auf die Leinwand aus nackter Haut, die von einem Spitzendekolleté eingerahmt war, und übte leichten Druck aus, drängte Kathleen sanft dazu, sich hinzulegen.

Die Frau widerstand. »Ich bin zu sehr mit deiner Abreise beschäftigt.«

Mit einem Lächeln sagte der Gentleman: »Bitte leg dich hin.«

»Nathan, ich habe keine Lust …«

»Ich verstehe. Und ich verspreche, dass ich voll bekleidet bleiben werde.« Nathaniel sah in Kathleens smaragdgrüne Augen und spürte ihren Herzschlag deutlich unter seiner rechten Handfläche. »Es dient ausschließlich deinem Vorteil.«

Auf den Wangen der Frau zeigten sich einige verstohlene Sommersprossen und sie nickte.

»Leg dich hin.«

Kathleen legte sich zurück, in die Locken ihres langen, schwarzen Haars und den changierenden Stoff ihres rosafarbenen Nachthemds, und wurde sanft von der heugefüllten Matratze empfangen. Nathaniel berührte die weiche Haut direkt über ihrem linken Knie mit den Lippen und platzierte einen zweiten Kuss unter ihrem Nachthemd, genau dort, wo Bein und Becken sich verbanden. Er blies warme Luft über den Nexus der Frau und ihr gesamter Körper erbebte.

Während er seine Fingerspitzen über den Innenschenkel seiner Verlobten gleiten ließ, fragte der Gentleman: »Wirst du mir erlauben, deine Stimmung zu heben?«

Kathleen machte ein Zugeständnis.

Der Blick des angehenden Hoteliers und zukünftigen reisenden, zweisprachigen Gentlemans glitt über den ruhenden Körper seiner Verlobten und zum Fenster hinaus, zum glänzend grauen Himmel, den weder Sonne noch Mond betraten. In den Wachphasen seiner dreieinhalb Stunden unterbrochenen Schlafes hatte Nathaniel über die Investoren an der Ostküste nachgedacht, über die neue Arbeitsstelle und den Fortschritt, den er mit vierhundertfünfzig Dollar – plus den sechshundertvierundzwanzig Scheinen, die er in den letzten dreizehn Monate zusammengespart hatte – an seinem zerstörten Hotel würde machen können, und war aufgewühlt. Obwohl er noch immer müde war, wusste er, dass er nicht wieder einschlafen würde, und entschied sich darum, seinen Tag zu beginnen.

Nathaniel kletterte über Kathleens lange Beine, setzte seine nackten Fußsohlen sachte auf dem Boden auf – betrat man sie ohne Zartgefühl, imitierten die Holzdielen die Babys, die früher hier gewohnt hatten – und lehnte sich vor. Langsam verlagerte er sein Gewicht, bis er aufrecht stand.

Er zog gelbe Reitkleidung über seine Hemdhose, hob seine Schuhe auf, machte einen Schritt ostwärts, streckte seine freie Hand aus, drehte den Schlüssel herum, verließ das Zimmer, schloss die Tür und machte sich auf den Weg zum Dachboden, wo sein Reisegepäck aufbewahrt wurde, solange er und seine Verlobte als Untermieter in einem Zimmer wohnten, das für Menschen gebaut worden war, die nichts bedeutenderes besaßen als Windeln, Schnuller und Zähne von Reiskorngröße.

Leise gähnend schritt Nathaniel durch den Flur im Obergeschoss, am Hauptschlafzimmer vorbei und auf die Holzleiter zu, die zum Dachboden führte. Hinter dem schleichenden Gentleman öffnete sich eine Tür und er drehte sich um.

Aus dem verdunkelten Schlafzimmer erschien Ezekiel, der sich seinen behaarten Nacken kratzte – eine Stelle, die immerwährend zu jucken schien –, während sein gesunder Bauch sich zwischen den beiden Hälften seines offenen Morgenrocks aufblähte. Der untersetzte Mann gähnte eine Begrüßung.

»Guten Morgen«, antwortete Nathaniel.

»Ziemlich kühl für den Sommer.« Ezekiel sah über die Schulter des Untermieters und sagte: »Geh'n Sie zum Dachboden hoch?«

»Ich muss mein Gepäck und einige Kleidungsstücke holen. Ich werde für eine Woche fortgehen.«

Der Viehzüchter neigte seinen Kopf zur Seite, möglicherweise, um der Hand, die seinen Nacken kratzte, neue Möglichkeiten zu eröffnen, und fragte: »Geschäfte?«

»In der Tat.«

»Kathleen bleibt hier?«

»Sie wird hierbleiben und ihren Pflichten nachkommen.«

Die Mitte der buschigen Ansammlung aus Augenbrauen und Backenbart, aus der Ezekiels Gesicht bestand, verengte sich merkwürdig. »Warum schleichen Sie so herum?«

»Ich wollte niemanden aufwecken.«

»Wir haben Sie beide gestern Nacht streiten gehört.« Die missbilligend zusammengekniffenen Furchen, die Ezekiels Augen verdunkelten, taxierten Nathaniel in unverblümter und aufdringlicher Manier.

Die Anspielung verärgerte den Gentleman, aber er schluckte die Beleidigung hinunter. »Ich laufe nicht davon.«

»Sie werden keine bessere Frau finden.« Ezekiel senkte eine kratzende Hand von seinem Nacken und benutzte die andere. »Ich hab sie mit meinen Kindern gesehen und ich hab gesehen, wie sie mit Ladenbesitzern handelt oder sie zurechtweist, wenn sie versuchen, sie zu betrügen. Sie ist ein guter Fang – vollkommen und schön – und sie hat sogar zu Ihnen gehalten, als dieser Sturm Ihr Hotel zerstört hat.«

»Ich liebe Kathleen und habe nicht die geringste Absicht, sie im Stich zu lassen. Es tut mir leid, Sie letzte Nacht gestört zu haben, aber wir legten unsere Differenzen gütlich bei.«

Nicht überzeugt verzog der Viehzüchter seinen Mund.

»Sie können sie wecken, wenn Sie die Richtigkeit meiner Worte überprüfen wollen«, schlug Nathaniel vor. Es fiel ihm schwer, die Bitterkeit aus dieser Bemerkung herauszuhalten.

»Das ist nicht nötig.« Ezekiel brachte die ursprüngliche Hand zu seinem Nacken zurück, zog den klaffenden Morgenrock über seinem Bauch zusammen, drehte sich um und ging in sein Schlafzimmer. »Es gibt genug erfolgreiche Kerle in Leesville, die ihr den Hof machen würden, wenn Sie allzu lang herumtrödeln oder sie hintergehen.«

 

Die aufeinandergepressten Lippen des Gentlemans lieferten keine Antwort.

Die Schlafzimmertür schloss sich.

Beschämung und Wut standen heiß in Nathaniels Gesicht geschrieben, als er sich umdrehte, zum Ende des Flurs ging, die Leiter erklomm, den Dachboden betrat und einen großen, grünen Mantelsack ausfindig machte. Dahinein packte er Wasserschläuche, einen Flachmann, Unterkleidung, Stofftaschentücher, Handschuhe, einen zweireihigen, königsblauen Dreiteiler, ein langschößiges, schwarzes Smokingjackett, zwei weiße Hemden, Manschettenknöpfe, italienische Schuhe, Schuhcreme, zwei Fliegen – königsblau und schwarz –, eine rote Krawatte, eine königsblaue Melone, einen schwarzen Zylinder und einen Roman mit dem Titel La Playa de Sangre, anhand dessen er seine Spanischkenntnisse verdeutlichen konnte.

Anschließend stieg er vom Dachboden herab und schritt durch den Flur im Obergeschoss. Als der Gentleman ein klagendes Geräusch von jenseits der geschlossenen Tür des Babyzimmers vernahm, blieb er stehen.

Das Paar hatte sich am Abend zuvor verabschiedet und Kathleen hatte Nathaniel ausdrücklich darum gebeten, am Morgen abzureisen, ohne sie zu wecken, sodass sie ein banges Lebewohl vermeiden konnten.

Mit seinem schweren Mantelsack in der linken Hand im Flur stehend lauschte der große, blonde Gentleman aus Michigan dem leisen Schluchzen seiner Verlobten. Das Geräusch zog ihm die Eingeweide zusammen und ließ sein Sichtfeld verschwimmen.

Und dann ging er.

Kapitel 3

Die Plugfords

Brent Plugford atmete tief ein, und mit der für die Jahreszeit unangemessen kühlen Morgenluft kamen die Gerüche, die die Hotelwohnung erfüllten: feuchte Unterkleidung, Seife, schimmelndes Holz, geöltes Leder, Eisen, kalter Zigarettenrauch und billiger Bourbon. Der neunundzwanzigjährige Cowboy öffnete die Augen und sah Long Clay, dessen hochgewachsener, schlanker Körper mit einem schwarzen Hemd und passenden Hosen bekleidet war, am Fuß seines Bettes stehen wie den Spätnachmittagsschatten einer Vogelscheuche.

Der silberhaarige Mann zeigte auf die Person, die neben Brent schlief. »Weck ihn auf.«

»Okay.«

Long Clay ging zum Fenster.

Brent setzte sich auf, streckte seine steifen Muskeln, fuhr sich mit einer Hand durch sein lockiges, braunes Haar und blickte nach links. Auf dem Bett ausgestreckt lag sein jüngerer Bruder, Stevie Plugford, im Tiefschlaf – und im Longjohn von letzter Woche. »Stevie, du musst aufsteh'n. Wir zieh'n los.«

Der Einundzwanzigjährige grunzte.

»Aufwachen«, befahl Brent. »Jetzt.« Der Cowboy schüttelte seinen Bruder an der linken Schulter.

Stevie schlug die Hand seines Bruders weg und zog sich eine Decke über den Kopf.

»Du hättest nicht so viel Bourbon trinken sollen«, schimpfte Brent. »Ich hab dir gesagt, das sollst du nicht.«

»Schmor in der Hölle.«

Long Clay zog eine schwarze Pistole, packte sie beim Lauf und ging aufs Bett zu.

Zu dem hochgewachsenen, schlanken Mann sagte Brent: »Ich krieg ihn schon …«

Der Griff der Waffe traf auf den Klumpen, der Stevies Kopf war.

Der junge Mann schrie auf, zog die Decke nach unten und rieb sich sein tomatenfarbenes Ohr. »Gottverdammt, das hat wehgetan.« Stevie sah zu Long Clays dreieckigem Gesicht hinauf, in dem kalte, blaue Augen saßen, ein dünner, grauer Schnurrbart und ein lippenloser Mund, und entschied sich dagegen, direkte Kritik zu äußern.

Der Revolverheld wandte sich von dem jungen Mann ab, steckte seine schwarze, sechsschüssige Pistole, die eine von zweien an seiner Hüfte war, ins Holster und durchquerte das Zimmer.

Auf der Fensterbank und vom trostlosen, grauen Himmel umrissen, saß John Lawrence Plugford, ein riesiger Mann von sechsundfünfzig Jahren mit einem wilden Bart und einer abgetragenen, grauen Latzhose. »Du trinkst nichts mehr, bis wir daheim sind.« Es klang, als ob die Kehle des Mannes voller trockenem Herbstlaub wäre.

»Ich hatte gar nicht so viel«, verteidigte sich Stevie. »Nur …«

»Zwing Pa nicht, sich zu wiederholen«, sagte Brent. »Wir sind hier nicht auf Vergnügungsfahrt.«

»Weiß ich.«

Brent verspürte einen schrecklichen Schmerz in seiner Brust, als er über den Grund ihrer Reise nachdachte.

Eine Faust klopfte dreimal an die Tür. Zwei Feuersterne, die gezogene Pistolen waren, beschrieben einen Bogen vor Long Clays schwarzem Hemd.

Ein Schlüssel kitzelte klagende Schließzylinder und die Tür öffnete sich. Im Flur, mit zwei Lammkoteletts in der linken Hand, stand Patch-Up, ein kleiner und rundlicher, grauhaariger Neger in einem kastanienbraunen Anzug, der viel feiner war als sämtliche Kleidungsstücke der weißen Männer. Er beäugte die Mündungen von Long Clays Revolvern – eine war auf sein Gesicht gerichtet, die andere zeigte auf sein Herz – und kaute furchtlos. Mit dem Mund voller Essen sagte der Neger: »Wenn es um die Lammkoteletts geht, dann bin ich gewillt, einen Handel einzugehen.«

Der hochgewachsene, schlanke Revolverheld steckte seine Waffen in die Holster und wandte sich ab.

Patch-Up schluckte, betrat das Zimmer und schloss die Tür. »Guten Morgen, Leute.«

»Morgen«, antwortete Brent.

»Morgen«, krächzte Stevie.

Der Neger ging zum Fenster und streckte dem riesigen Patriarchen das zweite Lammkotelett entgegen. »Deine Leibspeise.«

John Lawrence Plugford schüttelte den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf den grauen Sonnenaufgang vor dem Fenster. Der wilde Bart, der in seinem Gesicht und auf seinem Hals wuchs, wirkte wie eine Explosion der Entrüstung.

»Es ist gut durch«, fügte der Neger hinzu.

Der riesige Mann blieb desinteressiert.

»Pa«, sagte Brent, »du musst was essen. Wir haben heute einen langen Ritt vor uns.«

John Lawrence Plugford nahm das angebotene Fleisch, flüsterte: »Danke«, und drehte sich wieder zum grauen Fenster um. Das Lammkotelett lag in seinen starken Händen wie ein Musikinstrument, das er nicht zu spielen wusste.

Brent streckte sich, setzte seine Fußsohlen auf dem ausgetretenen Teppich auf und ging zu der gelben Kommode, auf der gewaschene Unterkleider ausgestreckt dalagen wie flache, graue Männer.

»Wo steckt dieser Indianer?«, fragte Stevie.

»Hast du seinen Namen vergessen?«

»Nein.«

»Es gibt einen Grund, warum Menschen Namen haben. Sogar Nigger und Indianer.«

»Wo steckt Deep Lake?«, fragte Stevie.

»Er heißt Deep Lakes«, erklärte Patch-Up. »Da ist ein ›s‹ am Ende.«

»Aber es gibt nur einen von seiner Sorte.«

»Er heißt eben so.«

Stevie stand vom Bett auf und streckte sich. »Willst du mich reizen?«

»Du solltest respektieren, wie die Menschen genannt werden wollen. Willst du etwa, dass ich dich Stovie nenne?«

»Will ich nicht. Wo ist Deep Lakes?«

»Weiß nicht.«

Brent sah von seinen feuchten langen Unterhosen auf und fragte: »Hat er nicht mit dir im Gesindehaus übernachtet?«

»Die Köche haben sich geweigert, mit einem Indianer im selben Zimmer schlafen«, sagte Patch-Up. »Ich hab ihnen gesagt, dass er zivilisiert ist, aber das sind argwöhnische Neger. Deep Lakes meinte, er würde irgendwo ein Lager aufschlagen und die Stadt zeitgleich mit uns verlassen.«

Unglücklich darüber, dass der Ureinwohner ausgegrenzt worden war, sagte Brent: »Er hätte mit diesem Problem zu mir kommen sollen.«

»Er will seine Gesellschaft nicht aufzwingen, wenn er unerwünscht ist.«

»Okay.«

Brent legte feuchte Socken, die noch immer nach Seife rochen, in seinen Koffer. Neben ihm begann Stevie, seine Habseligkeiten zusammenzusuchen.

Aus dem Wandschrank ertönte ein dumpfer Schlag, dem ein kaum hörbares Stöhnen folgte. Brents Gesicht verfinsterte sich vor Wut.

»Gott verdamme diesen dummen Idioten«, sagte Stevie.

Long Clay durchquerte das Zimmer und öffnete die Schranktür. In der Kammer stand eine riesige, schwarze Reisetruhe aufrecht und wackelte.

Der Revolverheld schlug mit dem Griff seiner Pistole aufs Holz. »Halt's Maul oder ich werd böse.«

Der Mann in der Truhe wurde still.

Brent sah zu seinem Vater. John Lawrence Plugfords hasserfüllter Blick versengte die Luft. Das ungegessene Lammkotelett fiel in die Sägespäne und die rechte Hand des riesigen Mannes landete klatschend auf dem Griff seiner abgesägten Schrotflinte.

»J.L.«, warnte Patch-Up.

Brent eilte zum Fenster, packte das rechte Handgelenk seines Vaters und sagte: »Lass los.«

Long Clay stellte sich zwischen John Lawrence Plugford und die Truhe und zog einen Flachmann voll Bourbon aus seiner Gesäßtasche. Licht fiel auf das silberne Behältnis und funkelte in den wilden Augen des Patriarchen.

»Beruhige dich«, sagte der Revolverheld.

John Lawrence Plugford löste den Griff um seine abgesägte Schrotflinte, nahm den Flachmann von Long Clay, drehte den Verschluss auf und steckte die Öffnung in das Dickicht, das seinen verschwundenen Mund umgab. Er trank drei große Schlucke und richtete seinen Blick kurzerhand wieder auf den grauen Morgen. Wie es im letzten halben Jahr so oft der Fall gewesen war, hatte der riesige Patriarch nichts zu sagen.

Patch-Up hob das heruntergefallene Lammkotelett auf, wischte die Sägespäne von seiner Oberfläche und wickelte es in ein Stück Wachspapier.

Long Clay sah zu Brent und Stevie. »Leert die Truhe aus und bringt sie in den Wagen. Sofort.«

Kapitel 4

Eine Ballade für das treue Volk

Humberto Calles ging auf den Galgen zu, der vor zwei Sommern in Nueva Vida errichtet worden war, mehr als fünfzig Jahre, nachdem das treue Volk des Landes den bleichen Texanern wertvolle mexikanische Morgen Land abgetreten hatte. Die Strafkonstruktion war ein sichtlich eindrucksvolles Symbol der Gerechtigkeit, das Schaulustige regelmäßig mit einem unterhaltsamen Spektakel versorgte, besonders wenn der erhängte Mann übermäßig lange zappelte oder aus Versehen von der Schlinge geköpft wurde.

Der einsame Wanderer erreichte den Galgen, wischte sich Schweißperlen von der Stirn, bedecke seine kahle Kopfhaut mit einem Sombrero, erklomm die mit kunstvollen Fliesen dekorierten Stufen, die mit Sicherheit dem Auge eines jeden zum Tode verurteilten Ästheten schmeichelten, und stieg zu einem leeren, grauen Himmel hinauf. Von seiner Kletterpartie außer Atem schritt der vierundfünfzigjährige Mexikaner über die Plattform zum Geländer.

Von der Bühne des Todes aus fragte Humberto die Schaulustigen, ob sie ein Lied hören wollten.

»¡Por favor!«, riefen acht der vierundzwanzig Menschen unter ihm. Humberto betrachtete die Versammlung, um zu sehen, ob Stadtbedienstete zugegen waren – sie mochten es nicht, wenn ihr seriöses Bauwerk für nicht tödliche Unterhaltung genutzt wurde –, entdeckte aber niemanden, der ihm Schwierigkeiten bereiten könnte.

Während er die vier über die edelsteinverzierten Bünde seiner blauen Guitarrita gespannten Saiten stimmte, musterte der Balladensänger die Menge. Die Versammlung bestand aus gemächlichen Menschen – Näherinnen, Bauern und alten Männern –, und so beschloss Humberto, ein langes und melancholisches Lied zu spielen, das an ihrem Mitgefühl rühren würde. Er griff einen Akkord auf dem glasierten Gitarrenhals und zupfte die Saiten kräftig mit den dicken Nägeln, die aus den Fingerspitzen seiner rechten Hand ragten. Über diesem steten Arpeggio musikalischer Regentropfen stellte Humberto die Komposition vor, eine Ballade namens »Unter den Kieselsteinen«, die die wahre Geschichte eines Mannes erzählte, der vor mehr als fünfzig Jahren im Krieg gegen die bleichen Texaner gekämpft hatte. Einen satten, übermäßigen Akkord anstimmend begann Humberto zu singen.

Schwarze Wolken ergossen sich auf ein kleines Bauerndorf in Mexiko. In einem Adobenhaus, das erst drei Jahreszeiten alt war, verabschiedete sich ein Mann namens Alexzander von seiner Frau, Gabrielle, die mit ihrem ersten Kind schwanger war. Der Fünfundzwanzigjährige bedauerte es zutiefst, seine Liebste verlassen zu müssen, aber der Krieg gegen die bleichen Texaner lief schlecht und er musste dafür sorgen, dass das treue Volk des Landes behielt, was ihm rechtmäßig gehörte. Gabrielle weinte.

 

Humberto spiele vereinzelte, hohe Noten im pizzicato auf der dünnsten Saite seiner Guitarrita.

Trotz ihrer Traurigkeit protestierte die selbstlose Mexikanerin nicht gegen die Abreise ihres Ehemannes, denn sie wusste, dass er seine Pflicht erfüllen musste. Sie küssten sich.

Humberto bildete zwei Melodien, die zu einer einheitlichen Tonfolge wurden – der Refrain ihrer Liebe.

Von vier seiner Jugendfreunde begleitet verließ Alexzander die kleine Stadt, reiste nach Norden und schloss sich einem angeschlagenen Regiment an, das sein Lager auf einer Hacienda in Tejas errichtet hatte, die vor Kurzem von der mexikanischen Armee eingenommen worden war. Die Gringos hatten zwei entscheidende Schlachten in der umliegenden Gegend gewonnen und Alexzanders Vorgesetzter, El Capitán Jesus Garcia, wusste, dass ein unorthodoxes Manöver vonnöten war, um die Texaner zu besiegen.

Der Plan des Offiziers war einfach. Alexzander und seine Jugendfreunde sollten sich in einem Bergpass verstecken, durch den die feindlichen Boten ritten, und die Nachrichtenüberbringer abschlachten, bevor sie je das texanische Fort erreichten. Alexzander, ein gebildeter Mann, der sowohl Englisch als auch Spanisch lesen und schreiben konnte, würde die Dokumente so abändern, dass es dem treuen Volk des Landes zugutekam, und die überarbeiteten Sendschreiben wieder den Leichen der Gringos zustecken, damit das Fort sie fand. Die Soldaten bezweifelten, dass sie es schaffen würden, ihre Mission zu erfüllen, aber der Krieg neigte sich dem Ende zu und solche verzweifelten Schachzüge waren alltäglich.

Humberto spielte zweimal eine langsam absteigende Melodie, die den sinkenden Mut Mexikos darstellte.

Am Tag bevor die Einheit aufbrechen sollte, erhielt Alexzander einen eine Woche alten Brief von Gabrielle, in dem sie ihn davon in Kenntnis setzte, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte. Sie hatte den winzigen Jungen in einen Schal gewickelt, hinten im Garten neben dem Teich begraben und das Grab mit glatten Kieselsteinen geschmückt, die sie vom Grund des Baches geholt hatte, in dem sie und Alexzander einst im Halbdunkel gestanden und ihren ersten Kuss geteilt hatten.

Humberto spielte die Melodie ihrer Liebe.

Alexzander bat Capitán Jesus Garcia, ihm einen zweitägigen Fronturlaub zu gewähren. Der betrübte Soldat hoffte, nach Süden in sein Dorf zu reiten, seine trauernde Ehefrau zu trösten und ein weiteres Kind zu zeugen, ehe er seine verzweifelte und aussichtslose Mission antrat. Der hochrangigere Offizier erwartete, dass ein Trupp texanischer Boten in naher Zukunft durch den Pass kommen würde, und lehnte das Ersuchen ab.

Der Balladensänger schlug heftig in die Saiten seiner Guitarrita und dämpfte sie dann. Unter der Galgenplattform standen siebenundzwanzig Zuschauer, von denen sich jeder eine persönliche und eindeutige Version der Geschichte, die er erzählte, ausmalte.

Alexzander schickte seiner Frau einen Brief, in welchem er sie darum bat, nach Norden zu reiten und sich in der verlassenen Scheune zu verstecken, die am östlichsten Rand der Hacienda stand. Er wusste, dass sie dieses Schreiben frühestens in sechs Tagen erhalten würde.

Humberto schwang seine langen Fingernägel und beschleunigte das Lied.

Alexzander und seine vier Freunde begaben sich zu dem Pass, in dem sie den texanischen Boten auflauern würden. In einem primitiven Unterstand versteckte sich das Quintett und wartete. Zwei Wochen später kamen die texanischen Boten durch den Hohlweg – eine Gruppe von dreißig bleichen Gringos.

Der Balladensänger schlug wilde Triolen an; die Menge der einunddreißig Menschen war reglos und still.

Obwohl zahlenmäßig sechs zu eins unterlegen, griff Alexzanders Einheit, mit alten Pistolen und Messern bewaffnet, den Feind an. Die Hälfte der bleichen Texaner wurde im Kampf erschlagen, und vier der Mexikaner fielen tot auf die Erde, die ihnen rechtmäßig gehörte. Alexzander wurde in den Bauch gestochen und ins linke Bein geschossen.

Humberto zupfte seine Guitarrita heftig und legte eine Pause ein. Ohne Begleitung durch sein Instrument sprach er weiter.

Die Mission war ein Fehlschlag.

Der Balladensänger zupfte eine langsame und zarte Melodie in Moll.

Alexzander erhob sich auf seine Hände und Knie und kroch auf die Hacienda zu. Ihm war kalt und er hatte Durst, aber er gab nicht auf.

Die langsame und zarte Mollmelodie wurde wiederholt.

Alexzander erreichte die Hacienda und kroch durchs Gras, auf die Scheune zu, in der er hoffte, sich mit seiner Liebsten, Gabrielle, zu treffen. Die Nacht senkte sich herab, während er sich vorwärts kämpfte, langsam und unter großen Schmerzen, doch der Mexikaner blieb unerbittlich.

Im Morgengrauen betrat Alexzander die Scheune. Er kroch durch das Heu, vorbei an Kühen mit zerrissenen Eutern und blutigen Ziegen, die ihresgleichen gefressen hatten. Gabrielle rief seinen Namen, stieg von ihrem Versteck herab und eilte an seine Seite.

Humberto spielte die Melodie ihrer Liebe.

Kurz nachdem sie das Baby gezeugt hatten, das heranwachsen würde, um dieses Lied zu schreiben und zu singen, starb Alexzander in Gabrielles Armen.

Die Zuschauer unter dem Galgen applaudierten und riefen anerkennende Worte, während der letzte Akkord verklang.

»Gracias«, sagte Humberto. »Gracias.«

Durch seine Ballade lebte Alexzander weiter und die Mexikaner kannten seinen Namen und dachten an die vielen rühmlichen Opfer, die über fünf Jahrzehnte zuvor vom treuen Volk des Landes im Kampf gegen die bleichen Texaner erbracht worden waren. Dem Künstler wurde warm ums Herz, als er sah, wie sich zwei Achtzigjährige feuchte Spuren von ihren runzligen Wangen wischten.

»Bonita cantando«, lobte eine faltige Siebzigjährige, die die langgezogenen Hälse zweier schwarzer Hennen in ihrer gebräunten Faust gepackt hielt.

Gold- und Silberpesos klimperten und bedeckten das blaue Filzfutter des Guitarritakoffers, den Humberto zuvor am Fuß des Galgens aufgestellt hatte. Zu seinen Wohltätern sagte der Balladensänger: »Gracias. Amigos, gracias.«

Die Menge war nicht groß genug, um eine bedeutende Geldsumme zusammenzubringen, aber Humberto machte sich nicht allzu viele Sorgen. Die Reiter aus Amerika würden seinen finanziellen Problemen bald ein Ende bereiten.