WIE SCHATTEN ÜBER TOTEM LAND

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»Was passiert dann?«, erkundigte sich der Dandy.

»Deep Lakes wird Sie verstecken und wenn wir uns mit Ihnen treffen, erzählen Sie uns, was drinnen ist und wo die Mädchen sind.«

»Und was soll ich tun, nachdem ich meine Pflicht erfüllte?«

»Nachdem Sie uns benachrichtigt haben, können Sie sich auf den Weg zurück ins New-Mexico-Territorium machen. Und wenn die Sie dazu zwingen, Ihr Pferd zurückzulassen, bringen wir es mit, und auch etwas Wasser, damit Sie nach Norden reiten können.« Brent sah zu Long Clay und erkundigte sich: »Das ist alles, oder? Wie wir besprochen haben?«

»So geht es los«, antwortete der Revolverheld. »Sobald ich die Beschreibung vom Grundriss gehört habe, arbeite ich an den Details für den Rettungsplan.«

Zum Dandy sagte Brent: »Machen Sie sich vorzeigbar und steigen Sie auf Ihre Stute. Meine Schwestern warten.«

Kapitel 11

Zwei Schlaflieder

Eine winzige Faust klopfte an die Außenseite der Schlafzimmertür und eine ebenso kleine und zarte Stimme fragte: »Padre?« Die ineinander verschlungenen Eheleute zögerten.

In der Spalte steckend, aus der die Klopfende vor zehn Jahren herausgekommen war, sah Humberto von Patricias gerötetem Gesicht auf und zur Tür hinüber. »Dos minutos, por favor.«

»Si«, antwortete seine jüngste Tochter, Estrellita.

Humberto bezweifelte, dass er seinen Höhepunkt in der verbleibenden Zeit erreichen konnte – er war keine Vierzig mehr, aber in jedem Fall würde er Patricia ein vielsagendes Lächeln aufs Gesicht zaubern. Er schwor das Bild der üppigen Barfrau Marietta nicht herauf, aber sie erschien dennoch in seinen Gedanken und bescherte ihm eine unerwartete Erleichterung, die so intensiv und wohltuend war, wie der Tequila, der aus der besonderen, blauen Agave gewonnen wurde, die man in Guanajuato anbaute.

Der Balladensänger kletterte von seiner zufriedenen Frau herunter, legte ihr eine warme Decke über den Körper, zog seine leinene Schlafanzughose an, ging zur Schlafzimmertür und entriegelte das Schloss, das nur zugesperrt wurde, wenn er und Patricia miteinander romantisch waren. Im Flur stand Estrellita, der kleine Stern. Ihre großen Augen waren furchtgeweitet und ohne zu fragen wusste er, dass ein Albtraum sie erschrocken hatte.

Humberto trat in den Flur, schloss die Schlafzimmertür und fragte seine Tochter, ob sie ein Gutenachtlied hören wollte.

Estrellita dachte über die angebotene Arznei nach und sagte: »Dos cantos.«

»No.« Humberto hätte zugestimmt, zwei Lieder für sie zu spielen, sie war sein bezauberndster Kunde und sie besaß eine weit blühendere Fantasie als jeder Erwachsene, aber es war halb ein Uhr nachts und er spürte, dass er ihre Bitte ablehnen musste. »Un canto solamente.«

Das zehnjährige Mädchen, das sein außerordentliches Handelsgeschick von seiner Mutter geerbt hatte, sagte, es würde einen Kompromiss eingehen und eineinhalb Lieder akzeptieren.

Kopfschüttelnd erklärte der Balladensänger, dass ein Lied eine Geschichte war, die in ihrer Gänze oder gar nicht erzählt werden musste. Wann immer sie während eines bekannten Schlaflieds einschlief, beendete er die Geschichte am nächsten Tag.

Estrellita bat ihn darum, »Die Anhänger des Heiligen Pedros von Objeto« zu singen. Diese epische Ballade war so lang wie zwei normale Lieder.

»Si.« Der Balladensänger war sich völlig bewusst, dass er von seinem hinterlistigen kleinen Stern übervorteilt worden war.

Humberto nahm Estrellitas winzige Hand, ging mit ihr zu dem Haken aus Hickoryholz, an dem sein Guitarritakoffer hing, und nahm das einzigartige Instrument an sich, das er nicht ganz so sehr vergötterte wie seine Frau und seine beiden Töchter, aber mehr als seine Tanten oder Onkel oder Vettern oder Neffen. Vater und Tochter gingen den Flur hinauf, an Annas Krücken vorbei, und betraten das Zimmer, das der Balladensänger während Patricias zweiter Schwangerschaft gebaut hatte.

Der Raum lag im Dunkeln. Weder der Mond noch die Sterne schienen durch Estrellitas Fenster und die Berge draußen waren nicht vom tiefschwarzen Himmel zu unterscheiden. Humberto stellte seinen Guitarritakoffer ab, riss ein Streichholz an und entzündete den Docht einer Laterne, die zu hoch hing, als dass seine Tochter sie hätte erreichen können. Bernsteinfarbenes Licht verjagte die Dunkelheit.

Das kleine Mädchen verschloss die Tür, als ob sie beabsichtigte, jede kommende Musiknote einzufangen, kletterte ins Bett und sagte ihrem Vater, dass sie bereit war.

Humberto packte seine Guitarrita aus und setzte sich aufs Fensterbrett. Hinter ihm bildeten der Himmel und die Berge einen Vorhang aus Schwärze.

Eine zarte Melodie trieb von den Saiten des Instruments in die Ohren des Mädchens. Anders als einige Musiker, die laut singen mussten, um die richtige Tonlage zu treffen, intonierte Humberto in jeder Lautstärke geschickt.

Der Liedtext beschrieb ein erfundenes, südamerikanisches Städtchen, das sich am Grund eines Tals befand und von grünen Wäldern und hohen, weißen Bergen umgeben war.

»Objeto Bendito!«, sang Estrella gemeinsam mit ihrem Vater. Humberto hörte mit Freude, dass seine Tochter die Töne fast perfekt traf.

Die Menschen, die in Objeto Bendito lebten, gingen zur Kirche und sprachen vor jeder Mahlzeit ein Tischgebet und würdigten Sein großes Opfer. Sie waren fromm.

Humberto spielte eine Melodie, bei der jede Note ausschließlich auf dem ersten Schlag gezupft wurde – dieser Refrain verdeutlichte die unerschütterliche Hingabe der Stadtbewohner zum Erlöser.

Wie es oft der Fall mit Katholiken ist, die in ländlichen Gemeinden leben, erweiterten die Einwohner von Objeto Bendito die Dreifaltigkeit um einen Provinzheiligen, dem sie Anerkennung zollten.

»San Pedro del Objeto!«, sang Estrellita wegen ihrer Aufregung ein wenig zu früh. Humberto fügte eine zweitaktige Etüde hinzu, damit er sich vorbeugen und sie auf die Stirn küssen konnte.

Der heilige Pedro von Objeto war der himmlische Schutzpatron der Stadt und dies war seine Geschichte.

Auf Estrellitas Gesicht lag ein riesiges Lächeln.

Vor zweihundert Jahren, genau um elf Uhr siebzehn und neun Sekunden am Abend, entwischte ein Säugling aus seinem Bettchen. Er krabbelte aus seinem Haus, über dunkles Kopfsteinpflaster und zum Geschäft des Kunsthandwerkers, das sich am anderen Ende der Siedlung befand. Als seine Eltern ihn am nächsten Tag fanden, war der Junge von feuchtem Ton bedeckt. Seine Mutter und sein Vater entschuldigten sich beim Ladenbesitzer und erstatteten ihm das Material, das ihr Kind ruiniert hatte.

Sie brachten den kleinen Pedro nach Hause, und mit einem langen Schuhlöffel aus Elfenbein, den der Mann benutzte, um seine kniehohen Stiefel anzuziehen, kratzten sie sehr behutsam den Ton von der Haut des Babys. Die Eltern legten ihr Kind wieder in sein Bettchen und gingen schlafen.

Am nächsten Morgen, als Mutter und Vater Pedros Zimmer betraten, fanden sie zwei Babys. Das eine war Pedro und das andere war aus Ton gemacht. Die Eltern wussten nicht, wie ihr sechs Monate altes Kind dieses zweite Baby geformt haben konnte, und sie vermuteten göttliche Hilfe. Dieses Tonkind wurde zum ersten heiligen Objekt.

Der Siedlung, die sich am Grund eines Tals befand und von grünen Wäldern und hohen, weißen Bergen umgeben war, wurde der Name Objeto Bendito gegeben.

»Objeto Bendito!«

Während seines gesamten Lebens verfeinerte der heilige Pedro von Objeto das Objekt, das er als Kleinkind begonnen hatte. Er ging bei einem Schreiner in die Lehre, meisterte die Kunst der Holzbearbeitung und schnitzte aufwendige lockige Haare für sein Objekt, eine Strähne nach der anderen. Aus Lapislazuli fertigte er Augen für sein Objekt. Aus feinen Perlen schuf er perfekte Finger- und Zehennägel für sein Objekt.

Als er ein Mann von vierzig Jahren war, studierte Pedro die Schaubilder der Anatomie und danach begann seine langwierigste Verfeinerung. Er füllte Tonstücke, keines größer als eine Erbse, durch ein winziges Loch in der linken Schulter in sein hohles Objekt hinein, und mit langen Nadeln und einer Pinzette formte er Knochen, Nerven, Arterien und Organe im Inneren des Jungen.

Der heilige Pedro von Objeto starb, als er sechsundsechzig war – genau doppelt so alt, wie der Sohn Gottes als Judas Iskariot ihn verriet und er gekreuzigt wurde. Der Schutzheilige wurde auf dem Marktplatz beerdigt und von jedem Menschen in Objeto Bendito betrauert.

Humberto sah, dass seine Tochter schläfrig wurde.

Am nächsten Tag gingen die Stadtbewohner hin, um frische Blumen auf das Grab des heiligen Pedro zu stellen, und sie fanden das Objekt auf dem Grabhügel liegen. Die Dörfler zogen Göttlichkeit in Erwägung. Sie gingen zum Haus des heiligen Pedro und sahen, dass der Kleiderschrank, in dem das Objekt aufbewahrt wurde, noch immer verschlossen war; sie wussten, dass der Schutzheilige mit dem einzigen Schlüssel begraben worden war.

Die Stadtbewohner fielen auf die Knie. Dieses Ereignis war das zweite vom heiligen Pedro, dem Schutzpatron von Objeto Bendito, gewirkte Wunder.

Der weiße Halbmond auf Estrellitas Gesicht wurde von einem runden, schwarzen Gähnen verschluckt.

Humberto ließ seinen Akkord verklingen und verkündete, dass er das Lied morgen beenden würde.

»Gracias.« Estrellitas Lider wurden schwer, widerstanden noch einen Moment und gaben schließlich nach.

Der Balladensänger beugte sich vor, küsste seine heiligste Kreation auf die Stirn, öffnete seinen Guitarritakoffer und sah den Beutel voller Goldnuggets, den er früher am Abend von dem verzweifelten Texaner bekommen hatte.

 

Obwohl er nicht an das direkte göttliche Eingreifen glaubte, von dem er sang, sprach Humberto ein stummes Gebet für die entführten Gringas. Er steckte sein viersaitiges Kind weg, blies die Flamme des Laternendochts aus und spürte den schwermütigen Knoten in seinem Inneren, der jedem guten Vater am Tag der Geburt seiner ersten Tochter verliehen wurde.

Kapitel 12

Die Empfänger von Scotch und Tequila

Nathaniel Stromler rückte seine königsblaue Melone zurecht und ging über die einzige gepflasterte Straße in Nueva Vida auf ein weißes, dreistöckiges Gebäude zu, das von Kutschen, Postkutschen und Pferden, die wie Satin glänzten, umgeben war. Unter einem Vordach und von zwei spiegelgleichen Laternen beleuchtet hing ein grün-goldenes Schild.

Castillo Elegante

De

Humo, Bebidas & Dados

Den weltgewandten, angehenden Hotelier aus Michigan, der schon dreimal Europa besucht und sich einmal – zufällig – im Orient aufgehalten hatte, erinnerte das Lokal nicht an das elegante Schloss, welches das Schild versprach, aber die in einer Linie vor allen Fenstern schwebenden Zigarettenrauchschemen, das gellende Gelächter und die plötzlichen Ausrufe, die gleichzeitig freudig und wütend waren, bestätigten die behaupteten Zigarren, Drinks und Würfel. Zwei glattrasierte Männer in kiefergrünen Uniformen flankierten die Eingangstür aus Mahagoni und beobachteten den Gringo, während er sich näherte. Sie trugen brandneue Pistolen und strenge Mienen, und Nathaniel war sich nicht sicher, ob sie privat angeheuerte Wachen oder offizielle Gesetzeshüter waren, oder beides.

»Guten Abend, Señor«, sagte der Mann auf der linken Seite in gekünsteltem aber sauberem Englisch. »Willkommen im Castillo Elegante.«

»Gracias«, antwortete Nathaniel, »y buenas noches a ustedes.«

Beide Männer waren von seiner präzisen und selbstsicheren Ausdrucksweise überrascht.

Der Gringo schritt unter das Vordach und entdeckte einen charmanten Aushang an der Tür, der alle armen Männer, die glaubten, dass sie im Castillo Elegante rauchen, trinken oder spielen konnten, davon in Kenntnis setzte, dass sie hier nicht willkommen waren.

No Hay Hombres Pobres Permitido.

Die Wache zur Rechten zog die schwere Tür auf und offenbarte ein hell erleuchtetes und verrauchtes, kiefergrünes Inneres.

»Amigos.« Nathaniel bedachte die Wachen mit zwei Zehn-Peso-Goldmünzen und sah an ihren leuchtenden Augen, dass eine solche Großzügigkeit ungewöhnlich war.

»Gracias, Señor«, sagte der eine.

Der andere nickte dankend.

Nathaniel hielt es für das Beste, wenn die bewaffneten Männer ihm gegenüber wohlwollend wären, falls die Dinge während seiner Erkundung unerwartet schief liefen.

Das Gewicht seiner misslichen Lage und einen scharfen Stich von Furcht spürend zögerte der Mann aus Michigan im Eingang und warf einen Blick zurück auf seine hellbraune Stute, auf den finsteren Himmel und in die Schatten, die seinen versteckten Komplizen Deep Lakes verhüllten, dessen genaue Position unbekannt war. Nathaniel wappnete sich, füllte seine Lunge mit kühler Luft und betrat einen ansehnlichen Salon, der mit kiefergrünen Tapeten und Sofas ausgestattet war, und von Menschen bevölkert wurde, die nicht zu verstehen schienen, dass die Morgendämmerung weniger als vier Stunden entfernt war.

Eine Schar Mexikaner in glänzendblauen Anzügen hatte sich versammelt und die Augen des Gentlemans brannten von dem dichten Zigarren- und Zigarillorauch, den sie ausatmeten. Kellnerinnen boten jedem Mann, der nicht auf ihre Brüste fixiert war, die von starren Spitzenkorsetts in einen verlockenden Vordergrund gezwängt wurden, ein Lächeln und Getränke an. Ein junger Mariachi, eine Frau mit Kastagnetten und ein uralter Trompeter, allesamt in goldbefransten, kiefergrünen Anzügen, traten unbeachtet in einem Alkoven auf, der von zwei spiegelgleichen Laternen beleuchtet wurde.

Als er seinen ersten Rundgang durch den Salon antrat, dachte Nathaniel über die Beschreibung von Manuel Menendez nach. »Menendez ist fünfzig, korpulent, eins siebzig groß, hat einen Schnurrbart, einige Leberflecke und ein paar graue Haare.« Der im Kreis gehende Gringo erkannte, dass die Hälfte der Männer, die den Raum bevölkerten, so beschrieben werden konnte und wenn er nicht eine Kellnerin oder einen zufälligen Fremden bitten würde, seine Zielperson zu identifizieren, wäre er nicht in der Lage, den mexikanischen Gentleman von seinen vierzig Doppelgängern zu unterscheiden. Somit war Juan Bonito, ein »eins-sechzig großer Mestize mit einer flachen Nase und einem eingerissenem Ohr« der Herr, auf den Nathaniel seine Suche zu konzentrieren entschied, auch wenn Ojos ihn gewarnt hatte, dass der Bursche »merkwürdig und weit weniger aufgeschlossen als Menendez« war.

Drei Runden durch den Raum offenbarten dem Gringo den auffällig kleinen Mann nicht. Davon überzeugt, dass sich Juan Bonito nicht im Parterre aufhielt, suchte Nathaniel nach der Treppe, die zu den Obergeschossen führte, und entdeckte in einem dunklen Durchgang eine goldene, diagonale Linie, die sich als Geländer erwies.

Eine Gliedmaße wand sich schlangengleich um den Arm des Gringos und er hielt den Atem an.

»Hallo, gut aussehender und großer Amerikaner.«

Nathaniel sah nach rechts und erblickte eine junge Mexikanerin mit großen, unschuldigen Augen und einem lasziven Grinsen. Das Mädchen sah aus wie achtzehn oder jünger, obwohl sie vielleicht Mitte zwanzig war. Wie Neger und Orientalen, alterten auch Mexikaner langsamer als andere Menschen.

»Buenas noches«, antwortete Nathaniel ein wenig verunsichert. Es war Jahre her, dass er zum letzten Mal die Wärme einer hübschen Frau gespürt hatte, die nicht seine Verlobte war.

»Sind Sie heute in die Stadt geritten? Aus Texas?«

»Sie liegen zweimal richtig.«

»Möchten Sie ein heißes Bad?« Die bemalten Lippen der Frau formten ein Lächeln. »Ich werde Sie ordentlich waschen.«

Nathaniel ersann eine höfliche Antwort. »Ich … kam nicht wegen … weiblicher Gesellschaft her.«

Die Frau zog ihre Hand schlagartig vom Arm des Gringos zurück und sagte: »Ich wasche nur.« Sie machte einen Schritt von ihm weg und fügte hinzu: »Sie riechen nach Pferd.«

»Ich entschuldige mich für meine Anmaßung. Ich dachte …«

Die empörte Frau ließ ihn stehen.

Nathaniel, der zweimal New York besucht hatte, überprüfte die Taschen seiner Hose, um nachzusehen, ob die Badefrau sich ein unrechtmäßiges Einkommen oder eine neue, amerikanische Taschenuhr beschafft hatte, aber er ermittelte alle seine Besitztümer. Er ging zur Treppe am anderen Ende des Raumes und während er sie hinaufstieg, stellte er sich vor, wie wohltuend ein warmes Bad wäre – von dem Mädchen oder Kathleen oder ihm selbst verabreicht. Die Träumerei rief ihm nutzloserweise seine Erschöpfung und seine vielen Schmerzen in Erinnerung.

Nathaniel trottete die Stufen hinauf. Das goldene Rechteck über ihm wuchs und aus ihm heraus drangen die plötzlichen Rufe von Gewinnern und Verlieren, die sich mit dem Ritual beschäftigten, den Zufall in ihre Geldbeutel einzuladen. Inmitten dieses Lärms erklangen die kristallklaren Saiten einer Harfe.

Der Gringo schritt durch die Tür und in einen luxuriösen Raum, der mit goldenen Tapeten ausgestattet und mit weißen Diwanen und Schemeln möbliert war, die von mehr als zwanzig Spielern besetzt wurden. Die Kellnerinnen trugen schimmernde Korsetts, die die verlockenden Ansätze ihrer gebräunten Brüste zeigten, was den Spielern zweifelsohne dabei half, kluge Entscheidungen zu treffen, wenn sie gegen das Haus wetteten, und eine Mulattin in einem Seidenkleid spielte eine zarte Melodie auf einer großen, goldenen Harfe am anderen Ende des Raumes. An den Wänden hingen vier impressionistische Ölgemälde, die stattliche Pferde auf trostlosen Berggipfeln zeigten. Nathaniel begriff, dass dieser Raum Europa heraufbeschwören sollte, aber für ihn schien er von einem Mann gestaltet, der niemals mehr als drei Meilen von der Hacienda, auf der er aufgewachsen war, weggereist war. Hätte der Gringo ein Cembalo gesehen, er hätte laut aufgelacht.

Die Spieler konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf Karten, Würfel, Drinks, Frauenleiber und die Augen von Bluffern und waren daher weniger daran interessiert den Rauch zu verdichten, wie es ihre flatterhaften Mitmenschen unten waren. Während Nathaniel sich einen Überblick über den Raum verschaffte, beruhigten sich seine brennenden Augen.

An einem weißen Tisch mit erhöhtem Rand saß ein kleiner Mann, der einen braunen Anzug trug. Sein Rücken war Nathaniel zugewandt und ebenso seine ungleichen Ohren, von denen eines so aussah, als ob seine obere Hälfte aus nächster Nähe abgeschossen worden war. Ein nervöser Herzschlag ergriff die Brust des Gringos.

Nathaniel umkreiste den Tisch und nahm verstohlen von der flachen Nase seiner Zielperson Kenntnis, über der eine ausgeprägte Stirn saß, die eine Mischung aus mexikanischer und uramerikanischer Abstammung nahelegte. Dieser Mann war Juan Bonito.

Zusätzlich zu seinem engen, braunen Anzug trug der hässliche, kleine Mann eine rote Melone, eine passende Fliege und strahlend weiße Handschuhe und wirkte daher wie etwas, das einen Leierkastenmann mit erhobenen Handflächen und einer blödsinnigen Agenda begleiten würde.

Heftig schüttelte Juan Bonito die Würfel in einem goldenen Becher, der mit funkelnden Glasperlen besetzt war, und dasselbe taten seine drei Kameraden, die alle der vagen Beschreibung von Manuel Menendez entsprachen. Das zurückprallende Elfenbein donnerte wie ein Hagelsturm. Das Quartett stülpte die Becher um und knallte sie auf den Tisch. Verborgene Würfel kamen zum Liegen und Spieler warfen kurze Blicke unter angehobene Deckel.

Nathaniel wusste nicht, ob sie die Form von Bluff spielten, in der es einen Verlierer pro Runde gab, oder die Variation, in der ein Sieger mehreren Verlierern den gesamten Topf abnahm, aber so oder so schien der Einsatz sehr hoch für ein Schätzspiel – jede Person hatte fünfzig Pesos im Wettkreis liegen.

Der Gringo wusste es besser, als sich dem Tisch zu nähern, bevor die Runde beendet war, und beobachtete das Spiel daher aus einer respektvollen Distanz.

»Empezas«, sagte Juan Bonito zu einem Mann in einem Nadelstreifenjackett.

Der nachdenkliche Bursche bot fünf Dreien.

Ein Mann, der auf einem feuchten, unangezündeten Zigarillo herumkaute, sagte: »Seis los tres.«

Der nächste Spieler im Uhrzeigersinn bot sieben Dreien.

»Schwindler!«, rief Juan Bonito.

Die Männer hoben ihre Becher an und die offenbarten Würfel zeigten fünf Dreien.

Mit strahlend weißen Handschuhen nahm der kleine Mestize den Gewinn von dem Gentleman, den er angebrüllt hatte, inspizierte die Pesos bedächtig und fügte sie der Metropolis aus Münzen hinzu, die neben seinem rechten Ellbogen stand. Die übrigen Einsätze blieben unberührt.

Nathaniel fragte, ob er sich dem Spiel anschließen dürfe.

Der Mann, der gerade verloren hatte, machte zwischen sich und Juan Bonito Platz, damit der Gringo sich setzen, das kaputte Ohr des Gewinners – das aussah wie eine verbrannte Venusmuschel – betrachten und verlieren konnte.

»Gracias, Señor.«

Eine Mexikanerin mit kräftigen Armen schob einen Stuhl vor die Lücke und platzierte einen goldenen Becher mit Würfeln auf dem Tisch. Nathaniel dankte ihr und setzte sich.

Sein verletztes Ohr berührend sagte Juan Bonito: »Wir spielen hier nicht um Pfennigbeträge.«

Der Gringo zog seinen Geldbeutel aus seinem Jackett, öffnete das Zugband und schüttete zwanzig Pesos von hohem Wert auf den weißen Holztisch. Juan Bonito und seine Kameraden nickten.

Nathaniel beschloss, dass ein vermögender Mann – oder zumindest das erdachte Individuum, das er verkörperte – an einigen seiner Vorlieben festhalten würde, während er außer Landes war, und sich nicht übermäßig darum kümmern würde, ob er sich bei den Einheimischen beliebt machte oder nicht. Er wandte sich an die Frau, die seinen Stuhl herangeschoben hatte, und sagte: »Quiero un escocés, viejo y dulce, por favor.«

Die Kellnerin empfahl Águila Azul, einen besonders feinen Tequila, der unter den kultivierten Herren, die das Castillo Elegante besuchten, sehr beliebt war, doch der Gringo lehnte ihren Vorschlag höflich ab. Die Frau nickte brüskiert und entfernte sich, um ein Glas alten und süßen Scotch zu holen.

 

Nathaniel und der Verlierer der vorherigen Runde platzierten beide je fünfzig Pesos auf dem Wettkreis.

»Empeziamos«, verkündete Juan Bonito.

Die Spieler schüttelten die Würfel in ihren Bechern und ein Hagelsturm klappernden Elfenbeins löschte alle anderen Geräusche aus. Der Mestize nickte. Die Männer schlugen ihre Becher auf den Tisch und nahmen ihre Würfe in Augenschein. Nathaniels Würfel zeigten eine Zwei, zwei Dreien, eine Vier und eine Sechs.

»Perdón.« Der forsche Gringo gab bekannt, dass er das erste Gebot abgeben wollte.

Zwei nickende Köpfe erteilten ihm die Erlaubnis.

Nathaniel sagte: »Seis los cuatros.« Das war eine ungewöhnlich hohe eröffnende Ansage.

»Lügender Schwindler!«, rief Juan Bonito.

Die Gentlemen hoben ihre Würfelbecher an und die nach oben gerichteten Seiten ihrer Würfel zeigten vier Vieren – zwei weniger, als Nathaniel gewettet hatte. Juan Bonito beanspruchte das Geld des Gringos, inspizierte jede Münze bedächtig und errichtete ein neues Gebäude am Ostrand seiner Geldmetropolis.

Das Quintett spielte eine weitere Runde. Wieder machte der Gringo eine hohe Ansage und wurde vom kleinen Mestizen herausgefordert.

»Verflixt!«, rief Nathaniel aus.

Juan Bonito warf dem amerikanischen Naivling ein freundliches Lächeln zu und sagte: »Beginnen Sie nicht mit hohen Zahlen. Bei so vielen Mitspielern …« Er beschrieb einen Bogen mit seiner Hand. »… wird es Ihnen nichts bringen.«

»Gracias.«

»Nächstes Mal werde ich anfangen.« Juan Bonito klopfte Nathaniel freundschaftlich auf die Schulter.

Die Spieler ließen ihre Würfel klappern und schlugen ihre Becher auf. Die Runde begann beim Mestizen und endete mit der schlechten Wette des Gringos.

»Verflixt!«, rief Nathaniel. Er hoffte, dass er es mit der Zurschaustellung seiner Unfähigkeit nicht übertrieb.

Die Frau mit den kräftigen Armen stellte ein Glas Scotch neben den linken Ellbogen des Gringos.

Nathaniel griff nach einer Goldmünze, aber sein Handgelenk wurde von Juan Bonito festgehalten.

»Nein«, rügte der Mestize. »Ich nehme Ihr Geld. Ich bezahle für den Drink.«

»Gracias.«

Der kleine Mann reichte der Frau ein Zwanzig-Pesos-Stück, was eine überaus großzügige Bezahlung war.

»Ich denke, wir sollten die Richtung der Ansagen ändern«, schlug Juan Bonito dem Gringo vor, »damit ich Sie keinen lügenden Schwindler mehr nennen kann.«

»Gracias.«

Nathaniel fiel es schwer, sich vorzustellen, wie dieser gewissenhafte Bursche dafür bezahlte, sich an einer Frau in Gefangenschaft zu vergehen, aber er wusste, dass Männer zu etwas Anderem werden konnten – etwas, das sie verabscheuten –, wenn der Wolf der Lust in ihnen knurrte. Der Mestize könnte sehr wohl über ein dunkles Reservoir verfügen, das mit den unfreundlichen Blicken und Bemerkungen angefüllt war, die sein Auftreten, seine Statur und sein ironischer Name hervorriefen.

»Wir spielen in der neuen Richtung«, erklärte Juan Bonito.

Der Gentleman mit dem unangezündeten Zigarillo zwischen den Lippen wechselte den Mundwinkel, in dem der durchgeweichte Zylinder steckte, als wäre er eine Wetterfahne für die Wettreihenfolge.

Nathaniel legte fünfzig Pesos hin.

»Empezamos.«

Becher verwandelten sich in Ersatzrasseln und wurden auf das weiße Holz geschlagen. Zwei Runden voller Ansagen umkreisten den Tisch. Der Mann mit dem feuchten, unangezündeten Zigarillo nannte den Burschen zu seiner Rechten einen Lügner und verlor fünfzig Pesos, als die Würfel gezeigt wurden. Der Sieger, dessen Name Victor war, verließ den Tisch mit seinem Gewinn und eine weitere Runde wurde gespielt, in welcher Nathaniel Juan Bonitos Bluff ausrief und ein wenig seines Geldes zurückgewann.

Die Nacht zog sich dahin.

Nathaniel spendierte seinem Spielmentor einen Drink und bekam die Aufmerksamkeit zweimal zurückgezahlt.

»Unehrlicher, lügender Schwindler!«

Beim letzten Mal, als Nathaniel eine Uhr gesehen hatte, hatte sich der kleine Zeiger der Ziffer Fünf genähert. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass er vor weniger als vierundzwanzig Stunden im Haus der Footmans vor der Tür zum Babyzimmer gestanden und den leisen Kummer seiner Verlobten mitangehört hatte. Dieser traurige Moment erschien ihm jetzt beinahe so weit entfernt wie seine Kindheit in Michigan.

Der Mann mit dem unangezündeten Zigarillo beschloss, dass er die feuchten Tabakblätter anzünden musste, die seine Nase den ganzen Abend über verlockt hatten – seine Frau erlaubte ihm nur ein Tabakprodukt am Tag, da er lungenkrank war –, und ließ Nathaniel und Juan Bonito daher allein am Tisch.

Nach drei Stunden des Glücksspiels war der Moment der Befragung endlich gekommen. Nathaniel befeuchtete seinen Mund mit einem Schluck Scotch und wandte sich seiner Zielperson zu.

Juan Bonito, der nach seinem dritten Tequila aufgehört hatte, Englisch zu sprechen, außer wenn er jemanden einen »unehrlichen, lügenden Schwindler« nannte, verkündete, dass er nach Hause gehen müsse.

Ein Stich der Angst durchbohrte Nathaniel. Ruhig schlug er vor, gemeinsam einen letzten Drink einzunehmen.

Juan Bonito dachte über den Vorschlag nach.

»Uno mas, mi amigo«, beharrte der naive Amerikaner. Es war das erste Mal, dass der Gringo den Mestizen »Freund« nannte.

Der kleine Mann grübelte über das Angebot nach. »Si, amigo – uno mas.«

»Bueno.«

Juan Bonito griff neben seinen Stuhl, holte einen Aktenkoffer aus Krokodilleder hervor, legte ihn auf den Tisch und verkündete, dass er sein Geld reinigen würde.

Obwohl Nathaniel die geplante Aufgabe recht merkwürdig fand, nickte er ungezwungen und bestellte die letzte Runde bei einer Kellnerin, die über einen unerschöpflichen Vorrat an Locken, Lächeln und Energie verfügte.

Juan Bonito öffnete mehrere Stahlriegel und klappte seinen schweren Lederkoffer auf. Am Deckel waren ein fünfschüssiger Revolver und ein gezacktes Messer befestigt. Es war klar, dass kein Bandit auch noch das gesunde Ohr des kleinen Mannes abschießen würde. Der Mestize verteilte seine frisch errungenen Banknoten auf der Tischoberfläche, hob eine Parfümflasche mit dem Etikett »Agua« in die Höhe, sprühte Wasser auf die zerknitterten Scheine und ordnete sie in vier säuberlichen Stapeln an, die er mit einem feuchten Tuch bedeckte. Der kleine Mann warf dem Gringo einen Blick zu und erklärte, dass er sauberes Geld mochte.

»Das ist das Beste«, stimmte Nathaniel zu.

Juan Bonito holte vier Kerzen hervor, stellte sie in ein leeres Glas, riss ein Streichholz an und entzündete jeden Docht. Er schüttelte das phosphorhaltige Ende, bis die Flamme zu einem Zickzack aus Rauch wurde, ließ den winzigen Zunder fallen und zog etwas aus seinem Reptilienkoffer heraus, das aussah, wie ein kleines Bügeleisen.

»Muy intelligente«, lobte Nathaniel.

Die Augen voller ernsthaftem Vorsatz hielt der Mestize die Unterseite seines kleinen Bügeleisens über das Quartett aus Flammen. Der Geruch erhitzten Metalls überwältigte die schwächeren Gerüche von Zigarilloasche und verflüchtigten Drinks.

Beiläufig merkte der Gringo an, wie gut ihm gefiel, was er von Nueva Vida gesehen hatte.

Juan Bonito ließ sein Bügeleisen rotieren und empfahl die Pernil-Tamales im Casa Jorge und die Grillhütten auf der Westseite der Stadt, die ihren östlichen Geschwistern überlegen waren.

Nachdem er dem Mestizen für den Rat gedankt hatte, beugte sich Nathaniel vor und merkte mit leiser Stimme an, dass es etwas anderes gab, nach dem es ihm verlangte, besonders, solange er von seiner Frau getrennt war.

»Bebidas por Señor Bonito y el Americano«, sagte die Kellnerin, als sie einen Tequila und ein Whiskyglas voll Scotch abstellte.

Nathaniel zog eine Münze aus seiner stark geschmälerten Geldbörse und bezahlte die Drinks.

»Gracias.« Die Frau wickelte sich lasziv eine Locke um einen Finger und ging fort.

Juan Bonito drückte sein Bügeleisen auf das feuchte Tuch, das die Geldscheine bedeckte, und Wasser zischte. Durch die Dämpfe hindurch fragte der Mestize den Gringo, ob er eine anständige Frau suchte.

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