Bio-psycho-soziales betriebliches Gesundheitsmanagement für Sozial- und Gesundheitsberufe

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Nationale Präventionskonferenz

Im Präventionsgesetz wurde die Nationale Präventionskonferenz (NPK) festgeschrieben. Die NPK zielt darauf ab, eine nationale Präventionsstrategie zu initiieren und kontinuierlich weiterzuentwickeln (§§ 20d und 20e SGB V) (NPK 2018). Die Träger der NPK bilden eine Arbeitsgemeinschaft, die sich aus gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen und sozialer Pflegeversicherung zusammensetzt (§ 20e SGB V). Die NPK erarbeitet bundeseinheitliche, trägerübergreifende Rahmenempfehlungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten und Betrieben. Sie enthält die Vereinbarung gemeinsamer Ziele, zentraler Handlungsfelder, relevanter Zielgruppen, zu beteiligende Organisationen sowie Dokumentations- und Berichtspflichten (NPK 2018).

Freiwilligkeit

Unternehmen können über die Krankenkassen Unterstützung anfordern. Die Krankenkassen sind verpflichtet, sich im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung zur Unterstützung der Unternehmen einzubringen. Die Unterstützungsangebote der Krankenkassen variieren. Im Leitfaden Prävention werden die Handlungsfelder und Kriterien, in denen die Krankenkassen sich engagieren können, definiert (Kap. 5.) (Das Bundesgesetzblatt im Internet 2015, GKV 2018). Einige Kassen bieten Beratung, Begleitung und Weiterbildung bei der Implementierung eines BGM / BGF an (u. a. Techniker Krankenkasse o.J.). Auf Basis betrieblicher Analysen werden gemeinsam Strategien und Maßnahmen definiert. Veränderungsprozesse am Arbeitsplatz, in der Organisation und für die MitarbeiterInnen werden bestimmt. Im § 20b Abs.2 SGB V wird eine Zusammenarbeit zwischen den Krankenkassen und den Unfallversicherungsträgern gefordert (Das Bundesgesetzblatt im Internet 2015, GKV 2018). Der Betrieb kann auch ohne Begleitung durch die KV vorgehen.

Betriebliche Kosten für Primärprävention

Die Kosten für Primärprävention in Betrieben werden gesetzlich geregelt über den Ausgabenrichtwert je Versicherten finanziert, der im Jahr 2019 7,52 EUR beträgt (§ 20 Abs. 6 SGB V). Von diesen 7,52 EUR sollen mindestens 2,15 EUR für Leistungen zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten (§ 20a SGBV) und mindestens 3,15 EUR für die BGF (§ 20b SGB V) ausgegeben werden. Mindestens 1 EUR der 3,15 EUR pro Person sollen in BGF-Leistungen für Krankenhäuser, Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen (§ 107 Abs.1 SGB V) und für ambulante wie stationäre Pflegeeinrichtungen (§ 71 Abs.1 SGB V) fließen (Das Bundesgesetzblatt im Internet 2015. Diese gesetzlichen Neuregelungen sollen ein verstärktes Bewusstsein im Bereich der BGF initiieren.

Der Gesetzgeber stärkt betriebliche Gesundheitsförderung durch eine mögliche steuerliche Entlastung der Betriebe (§ 3 EStG). So können bis zu 500 EUR pro Person und Kalenderjahr steuerlich angesetzt werden, wenn die Ausgaben den gesetzlichen Anforderungen genügen.

Leistungen im Krankheitsfall

Klassischerweise tritt für Versicherte bei Erkrankung § 27-53 SGB V in Kraft. Darin sind die Leistungen im Krankheitsfall definiert. Beim Auftreten von arbeitsbedingten gesundheitlichen Störungen bzw. Schädigungen können auch Leistungen der GUV in Anspruch genommen werden.

Sollten Unfälle im Arbeitskontext oder arbeitsbedingte gesundheitliche Störungen auftreten, muss die Wiederherstellung der Gesundheit der Versicherten geleistet oder Entschädigung gezahlt werden. Medizinische und berufliche Rehabilitation und finanzielle Entschädigung sind im Versicherungsschutz der DGUV enthalten (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 1996).

Medizinische Leistungen zur Prävention

Gemäß § 14 Abs. 1 SGB VI bietet die Rentenversicherung Versicherten ohne Rehabilitationsbedarf, aber mit besonderen gesundheitlichen Risiken, medizinische Leistungen zur Prävention an. Die Maßnahmen werden meist berufsbegleitend angeboten und dienen der Sicherung der Erwerbsfähigkeit.

BEM

Das SGB IX Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen regelt die berufliche Wiedereingliederung von ArbeitnehmerInnen (Kap. 2.2), die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen oder wiederholt arbeitsunfähig waren (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2016).

Nationale Präventionskonferenz (NPK) (Hrsg.) (2016): Bundesrahmenempfehlungen nach § 20d Abs. 3 SGB V. In: www.bundesgesundheitsministerium.de. 5.09.2020

Bundesministerium für Gesundheit (2015): Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und Prävention (Präventionsgesetz PrävG) vom 17. Juli 2015. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2015 Teil I Nr.31 ausgegeben zu Bonn am 24.Juli 2015. In: www.bgbl.de. 5.09.2020

Wichtiger Hinweis: Es sollte immer tagesaktuell das jeweilige Gesetz recherchiert werden, da sich die Gesetze kontinuierlich angepasst werden. Gesetze werden im Bundesanzeiger veröffentlicht: www.bgbl.de oder www.gesetze-im-internet.de.

Faber, U., Faller, G. (2017) : Hat BGF eine rechtliche Grundlage? Gesetzliche Anknüpfungspunkte für die Betriebliche Gesundheitsförderung in Deutschland. In: Faller, G. (Hrsg.), 57–76

2.5 Einführung der Unternehmensbeispiele zum BGM

Im folgenden Abschnitt werden fiktive Unternehmensbeispiele vorgestellt, die in den nachfolgenden Kapiteln aufgegriffen werden, um auf exemplarische Weise die Einführung und den Aufbau eines betrieblichen Gesundheitsmanagements umzusetzen. Es werden eine kommunale Verwaltungsbehörde, ein mittelständischer Produktionsbetrieb und ein Non-Profit-Unternehmen beschrieben, da diese sich thematisch und strukturell unterscheiden. Dies soll der LeserInnenschaft den möglichen Transfer in die Praxis des bio-psycho-sozialen betrieblichen Gesundheitsmanagements erleichtern.

Fallbeispiel I: Landkreis Zukunftsblick (abgekürzt ZuBli):

Der Landkreis ZuBli ist eine kommunale Behörde von hoher regionaler Bedeutung, da er ca. 1.400 MitarbeiterInnen unterschiedlichster Professionen beschäftigt. Dazu gehören die Verwaltung, EDV-Fachkräfte, MediengestalterInnen, HandwerkerInnen (u. a. GärtnerInnen, StraßenbaumitarbeiterInnen), IngenieurInnen, technische ZeichnerInnen, ArchitektInnen, SozialpädagogInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens (z. B. ÄrztInnen, PflegerInnen, Lebensmittelkontrolleure). Weitere Personen sind in der Abfallwirtschaft, als RaumpflegerInnen, KüchenhelferInnen sowie im Rettungsdienst beschäftigt. Die Verwaltung des Landkreis ZuBli ist hierarchisch gegliedert. Die oberste Stelle verkörpert die LandrätIn, der Dezernate und Ämter mit ihren Abteilungen unterstellt sind. Diese unterteilen sich wiederum in unterschiedliche Sachgebiete. Der Landkreis ZuBli befindet sich im ländlichen Raum und umfasst 18 Gemeinden. Er dehnt sich über eine Fläche von 1.354,3 m3 mit einer Bevölkerungsdichte von 132 EinwohnerInnen / m3 (ca. 178.676 EinwohnerInnen) aus. Nun plant der Landkreis ZuBli ein systematisches BGM aufzubauen und kontinuierlich umzusetzen. Ziel ist es, sowohl die Arbeitsfähigkeit der MitarbeiterInnen bis zur Rente zu gewährleisten, als auch die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen und gesundheitliche Belastungsfaktoren zu minimieren.

Transferaufgabe: Welche Ressourcen und Belastungsfaktoren können Sie beim Landkreis ZuBli entdecken?

Fallbeispiel II: Mittelständischer Betrieb Hephai GmbH & Co. KG:

Dieser mittelständische Betrieb wurde im Jahr 1895 gegründet und stellt Metallgussteile her. Der Betrieb wird als GmbH & Co. KG geführt und verfügt über ein Stammkapital von 2,0 Mio. EUR. Das Betriebsgelände gehört zum Betriebseigentum und verzeichnet eine Fläche von 30.000 m2. Die Belegschaft umfasst 232 MitarbeiterInnen in Vollzeit. In der Fertigung sind die Arbeitsgänge eingeteilt in die Bereiche Formen und Gießen, Reinigen der Fertigungsteile, CNC-Fräsen, Montieren und Lackieren. Im Bereich der Verwaltung und des Vertriebes handelt es sich um Büroarbeitsplätze mit häufigem, persönlichem, telefonischem und schriftlichem Kundenkontakt. Der Betrieb plant die Bereiche Personalmanagement, Qualitätsentwicklung, Arbeitsschutz, Fehlzeitenmanagement und Gesundheitsförderung zu verknüpfen. In den letzten Jahren lässt sich eine Erhöhung der Krankheitsrate um 10 % in der Fertigung und um 5 % in der Verwaltung feststellen. 93 % der Belegschaft sind männlichen und 7 % weiblichen Geschlechts. Die weiblichen Mitarbeiterinnen sind ausschließlich in der Verwaltung und im Vertrieb tätig. Die Altersverteilung beträgt 9,3 % in der Alterspanne unter 30 Jahren, 9,5 % zwischen 30 und 39, 37 % zwischen 40 und 49 Lebensjahren sowie 32 % sind Personen im Alter zwischen 50 und 59 Jahren sowie 12,2 % der Belegschaft sind bereits über 60 Jahre. Die meisten Arbeitsunfähigkeitstage sind unspezifisch (40,2 %), d. h. dem Betrieb liegen keine Daten vor. 18,3 % der ArbeitnehmerInnen leiden unter Muskel-Skelett-Erkrankungen, 16,1 % unter Erkrankungen der Atemwege, 13, 5 % unter Erkrankungen der Verdauungsorgane und 11,9 % unter Psychischen und Verhaltensstörungen laut AOK Bericht 2020.

Die Personalleitung intendiert mit der Einführung des BGM eine Reduktion von Muskel-Skeletterkrankungen, die Verbesserung des Betriebsklimas sowie der MitarbeiterInnenzufriedenheit und die Maximierung der Produktqualität. Die Geschäftsführung klagt über mangelnde Innovationsbereitschaft der MitarbeiterInnen und eine hohe Fluktuationsrate insbesondere bei jungen MitarbeiterInnen.

 

Transferaufgabe: Welche Ressourcen und Belastungsfaktoren können Sie bei der Hephai GmbH & Co KG entdecken? Wodurch unterscheiden sich die möglichen gesundheitlich relevanten Themen und Strukturen vom Landkreis ZuBli.

Fallbeispiel III: „Werkstatt Menschen mit Behinderungen: Carpe Diem gGmbH“

Die Carpe Diem gGmbH wurde im Jahr 1968 gegründet. Die Hauptaufgabe der Werkstatt ist es, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung zu fördern. Im Gesellschaftervertrag der Einrichtung ist die Förderung, Betreuung, Ausbildung, Beschäftigung und Eingliederung von Menschen mit Behinderungen verankert. Die Angebote beinhalten stationäres und teilstationäres Wohnen und die Eingliederung ins Arbeitsleben. Zum aktuellen Zeitpunkt sind in diesem mittelständischen Unternehmen 205 Menschen mit einem Altersdurchschnitt von 46 Jahren in der Verwaltung und der Betreuung tätig. 513 Beschäftigte mit Behinderungen werden in folgenden Tätigkeitsfeldern Arbeitsmöglichkeiten angeboten: Druckerei, Floristik, Kleidersammlung- und verkauf, Garten- und Landschaftsbau, Holz- sowie Metallverarbeitung (Abb. 11). Hier beträgt der Altersdurchschnitt 40 Jahre.


Abb. 11: Organigramm der Carpe Diem gGmbH

In einem Werkstattladen wird ein umfangreiches Sortiment an Holzprodukten und Druckerzeugnissen für Haus, Büro und Garten angeboten.

Mit über 65 % ist der Paritätische Wohlfahrtsverband e.V. HauptgesellschafterIn. Mit über 20% zählt die Stadt zur zweitgrößten AnteilseignerIn. Die übrigen Anteile verteilen sich auf den Landkreis, örtliche Kirchengemeinden und Ortsvereine der Lebenshilfe und weitere Vereine wie z. B. das DRK.

Der Jahresumsatz beläuft sich auf über 18,5 Millionen €. Ca. 73% fließen aus Leistungsentgelten und der Rest aus Arbeitserlösen des Produktions- und Dienstleistungsbereichs.

Transferaufgabe: Welche Ressourcen und Belastungsfaktoren können Sie bei der WfbM Carpe Diem gGmbH entdecken? Welche Unterscheide erkennen Sie zu Fallbeispiel I und II?

3 Bio-psycho-soziales Gesundheitsmanagement – ein Handlungsfeld für Sozial- und Gesundheitsberufe

Bio-psycho-soziales Gesundheitsmanagement kann für Sozial- und Gesundheitsberufe ein Handlungsfeld darstellen. Die Gesundheit der ArbeitnehmerInnen wird durch körperliche Über- oder Unterforderung (Kap. 5.2) oder einseitige Belastungen beansprucht. Gleichermaßen strapazieren psychische Fehlbelastungen (Kap. 5.1) die Gesundheit im Arbeitskontext. Ungünstiges Führungsverhalten und mangelnde Kommunikation gelten als gesundheitliche Belastungsfaktoren (Kap. 6).

In diesem Kapitel wird die Relevanz von BGM für Gesundheits- und Sozialberufe anhand der Positionierung ausgewählter nationaler und internationalen Berufsverbände aufgezeigt (Kap. 3.1). Der Vielschichtigkeit der Wechselbeziehung zwischen Erwachsenen und Erwerbstätigkeit widmet sich das Kapitel 3.2. Spezifische theoretische Modelle ermöglichen ein Verständnis typischer Belastungskonstellationen (Kapitel 3.2.1). Ein Überblick über zentrale körperliche und psychische Belastungsfaktoren (Kap. 3.2.2 und Kap. 3.2.3) wird anhand von Studienergebnissen geleistet.

3.1 Erfordernisse für ein bio-psycho-soziales Gesundheitsmanagement

Gesundheitliche Probleme basieren meist auf komplexen Kausalfeldern, die über eine klassisch bio-medizinische Herangehensweise hinausgehen und den Bedarf an psycho-sozialen Interventionen nach sich ziehen können. SozialarbeiterInnen / SozialpädagogInnen, hier genannt als Beispiel für einen bedeutsamen Sozialberuf, sind in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der gesundheitlichen Versorgung verortet. Sie stellen neben den klassischen Professionen wie Medizin, Psychologie und Gesundheitsfachberufen eine wichtige Berufsgruppe in der Versorgungsstruktur dar (Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. 2013).

Soziale Arbeit

Die Betrachtung und Analyse bio-psycho-sozialer Problemlagen stellt eine wichtige Grundlage für die Arbeit im Gesundheitswesen dar. Soziale Arbeit kann Menschen, die auf gesundheitliche Versorgung angewiesen sind, eine Orientierungshilfe im System der sozialen Sicherung anbieten (Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. 2013). So nennt die Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. folgende gesundheitsbezogene Themen:

„Krankheits- und Lebensbewältigung, Auswirkung auf Partnerschaft und Familie, Probleme im sozialen Umfeld, Veränderungen des beruflichen und sozialen Status“, aber auch die „Entwicklung von Zukunftsperspektiven, der Umgang mit Funktionseinschränkungen, Behinderung und Pflegebedürftigkeit“und die Bewältigung von „existentiellen Krisen“ sowie die „Vermittlung zu speziellen Beratungsstellen sowie Patienten- und Selbsthilfegruppen“ (Deutsche Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. 2013, 2).

Bei der Begleitung der KlientInnen werden je nach Bedarf auch Fragen der Gesundheitsberatung oder -aufklärung, sowie der Aktivierung, Unterstützung und Motivierung erforderlich. Auch die Arbeit mit Angehörigen und die Hilfe bei der Bewältigung von Krisen gehören zum Aufgabenspektrum der Sozialen Arbeit im Gesundheitsbereich. Die Komplexität und zentrale Bedeutung der Gesundheit als Basis von Lebensbewältigung wird deutlich, wenn es um Probleme der häuslichen Versorgung und die anwaltschaftliche Funktion von Menschen geht. Finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten, wie z. B. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die krankheitsbedingte Berentung sowie Leistungen der Pflegeversicherung gehören zum Themenfeld der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen.

Die zunehmende Verbreitung der Betrieblichen Gesundheitsförderung und des betrieblichen Gesundheitsmanagements erweitert die klassische betriebliche Sozialarbeit um gesundheitliche Themen, die weit über Suchtberatung (Kap. 5.4) oder das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) hinausgehen (Kap. 2.2).

Neue Handlungsfelder

Gesundheitsfachberufe wie Physio- und ErgotherapeutInnen, MotologInnen, Pflegekräfte und Hebammen sind mit ihren jeweils spezifischen Aufgaben im Gesundheitssystem schwerpunktmäßig in der Kuration und Rehabilitation angesiedelt. Aufgaben der Gesundheitsförderung können als Erweiterung der klassischen Handlungsfelder betrachtet werden. Das Präventionsgesetz (Kap. 2.4) eröffnet diesen Berufen neue Aufgaben und Verdienstmöglichkeiten.

Dies wird exemplarisch anhand der Professionen Physiotherapie und Ergotherapie erläutert. So definiert die internationale Vereinigung für Physiotherapie (World Confederation of Physical Therapy = WCPT) die Aufgaben der PhysiotherapeutInnen wie folgt:

„Physical therapy provides services to individuals and populations to develop, maintain and restore maximum movement and functional ability throughout the lifespan” (World Confederation of Physical Therapie (WCPT) 2013, 11).

Physiotherapie hat demnach die Aufgabe, ein Maximum an Bewegungsfähigkeit zu erreichen, zu erhalten und wiederherzustellen. Der Weltverband für Ergotherapie (World Federation of Occupational Therapy = WFOT) benennt konkret, dass ErgotherapeutInnen in der Industrie und in privaten Unternehmen tätig sein können. Ihr Ziel ist es, Menschen dabei zu unterstützen, die Betätigungen, denen diese nachgehen möchten oder müssen, zu realisieren (World Federation of Occupational Therapists 2015). Im Leitfaden Prävention der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV 2018) werden beide Professionen als AnbieterInnen von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung in Betrieben vorgeschlagen (Kap. 5). Im Kontext der betrieblichen Gesundheitsförderung werden als Anbieterqualifikation Fachkräfte mit einem staatlich anerkannten Berufs- oder Studienabschluss mit Bezug zu Gesundheitsförderung und Prävention (GKV 2018) und je nach Handlungsfeld auch SozialarbeiterInnen, Sozial- und GesundheitswissenschaftlerInnen u. a. für das Themenfeld Gesundheitsgerechte Führung erwähnt (GKV 2018).

Es kann festgehalten werden, dass sich die Aktivitäten zur BGF unter Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland in allen Branchen zwischen den Jahren 2001 (1189 Maßnahmen) und 2014 (N =5697) (N bedeutet engl. number, deutsch: Anzahl) nahezu verfünffacht haben. Es zeigen sich jedoch deutliche branchenbezogene Unterschiede (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2016).

Steigender Bedarf

Deutlich erhöht haben sich die umgesetzten Maßnahmen im verarbeitenden Gewerbe von 565 im Jahr 2001 auf 2077 Maßnahmen im Jahr 2014. Im Gesundheits- und Sozialwesen haben sich die Angebote zur betrieblichen Gesundheitsförderung in den Jahren 2004 bis 2014 von 197 auf 1033 erhöht (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2016). Dies zeigt, dass einerseits von den gesetzlichen Krankenkassen zunehmend mehr Maßnahmen gefördert wurden und andererseits ein deutlicher Anstieg der Angebote des BGF zu verzeichnen ist: Der Bedarf und die Finanzierungsmöglichkeiten steigen aufgrund einer verbesserten gesetzlichen Basis (Kap. 2.4) (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2016).

Weltverband für Physiotherapie: www.wcpt.org, 5.09.2020

Weltverband für Ergotherapie : www.wfot.org, 5.09.2020

Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: www.dgsa.de, 5.09.2020

Internationaler Verband der Sozialarbeiter: www.ifsw.org, 5.09.2020

3.2 Gesundheit und Arbeit – ein komplexes Interaktionsfeld

Das menschliche Individuum und die betrieblichen Kontextbedingungen in ihrer jeweiligen Vielschichtigkeit stehen in einer Wechselbeziehung. Berufliche Erwerbstätigkeit nimmt im Leben erwachsener Menschen einen großen zeitlichen Raum ein und dient der Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes. Gleichermaßen bedeutsam ist Erwerbstätigkeit für die Stabilität der Sozialen Sicherungssysteme. Neben dieser materiellen Bedeutung wirken berufliche Tätigkeiten auch sinnstiftend und sind mit sozialem Ansehen verknüpft. Feste arbeitsbedingte Zeitstrukturen bilden einen klaren zeitlichen Rahmen und haben Einfluss auf soziale Beziehungen. Arbeitstätigkeit ist zielgerichtet und durch gesellschaftliche Aufgabenteilung beeinflusst (Hacker / Sachse 2014). Im Kontext der beruflichen Tätigkeiten entstehen Kompetenzen, Qualifikationen, Einstellungen sowie Handlungsweisen der ArbeitnehmerInnen (Glaser / Seubert 2014).

Belastung und Beanspruchung

Gesundheitliche Belastungen am Arbeitsplatz variieren je nach Tätigkeit auf körperlicher, sozialer oder psychischer Ebene. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Belastungen vom Einzelnen mit einer individuellen Beanspruchung beantwortet werden. Es ist bedeutsam, Belastungen von der individuellen Beanspruchung des Menschen zu unterscheiden. Als Belastungen werden die Faktoren bezeichnet, die von außen bei der Arbeit auf den Menschen durch materiell-technische, soziale oder personale Aspekte einwirken (z. B. Lärm, Konflikte, mangelnde Kompetenzen). Beanspruchung meint die Inanspruchnahme der einzelnen Person durch diese Belastungen (Richter / Schütte 2017). Daraus erwachsen physische Beanspruchungen (z. B. Muskel-Skelett-System), psychische Beanspruchungen (z. B. im Verhalten und dem emotionalen Erleben) (Richter / Schütte 2017).

 

Frau M., eine Berufsanfängerin, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat, tritt eine Stelle als mittlere Führungsperson an. Sie ist in ihrem Fachgebiet sehr gut. Aus diesem Grund hat sie die Stelle bekommen. In dieser Tätigkeit ist sie hohem Zeitdruck ausgesetzt (Belastung): aufgrund ihrer guten Arbeitsorganisation und hohen Belastungsgrenze arbeitet sie problemlos, schnell und effektiv (Beanspruchung). Ihre MitarbeiterInnen sind an diesem Arbeitsplatz seit vielen Jahren ohne große Veränderungen tätig. Sie achten altersbedingt auf ihre Belastungsgrenzen und arbeiten nicht so schnell wie die junge Chefin es sich wünscht (Belastung). Auf diese Weise erhöht sich ihr Druck (Beanspruchung), da sie in der Probezeit alles effektiv und gut bewerkstelligen möchte. In ihrem Studium fehlten Kompetenzvermittlung im Bereich der Führung und Kommunikation (Belastung) und es gelingt ihr selten das Konfliktpotential zwischen ihr und ihren MitarbeiterInnen zu lösen. Sie reagiert mit Ungeduld (Beanspruchung). Dies verschärft die kommunikative Problematik.

Selbstlernaufgabe: Analysieren Sie bei Ihrer eigenen Tätigkeit (Studium oder Erwerbstätigkeit) die Belastung, die von außen auf Sie einwirken und Ihre individuelle Beanspruchung.

Belastungs-faktoren im Arbeitskontext

Im Bereich der Belastungsforschung wird zumeist zwischen Umgebungsbelastungen (z. B. Lärm, Dämpfe, extreme Temperaturen), körperlichen Belastungen (z. B. Bewegen von Lasten, ergonomisch ungünstige Arbeitspositionen) sowie psychischen und sozialen Belastungen (z. B. Zeit- und Leistungsdruck, Konflikte am Arbeitsplatz) unterschieden (Statistisches Bundesamt Destatis 2009). Dies schlägt sich in den Handlungsfeldern der GKV nieder (Kap. 5). In der Studie Gesundheit in Deutschland aktuell (Robert Koch-Institut 2010) wurden als körperliche Faktoren das Heben und Tragen von schweren Lasten, Arbeiten in unbequemen Haltungen sowie die Belastungsfaktoren Lärm, Kälte, Hitze u. a. erhoben. Als psychische Belastungsfaktoren werden folgende Faktoren genannt (Robert Koch-Institut 2012):

■ Arbeitsklima

■ Unsicherheit des Arbeitsplatzes

■ zeitliche Beanspruchung durch die Arbeit (u. a. Schichtarbeit)

■ Leistungs- oder Zeitdruck

■ Arbeiten unter engen Vorgaben

An erster Stelle stehen mit 40,4% das Arbeiten unter Zeit- und Leistungsdruck (Tab. 1).

Tab. 1: Gesundheitliche Belastungsfaktoren bei Erwerbstätigen im Alter von 18–64 Jahren (nach Robert Koch-Institut 2010)


Überstunden, lange Arbeitszeiten und Arbeitswege nennen 34,5% und Faktoren der Arbeitsumgebung 34,2% der befragten Personen als gesundheitliche Belastungsfaktoren. Erst an vierter Stelle stehen körperliche Faktoren wie Heben und Tragen schwerer Lasten (27,3%) sowie Arbeiten in Zwangshaltungen bzw. in gebückter Haltung. Schichtarbeit wird erst an sechster Stelle (20,8%) als belastend beschrieben.

Ressourcen im Arbeitskontext

Ressourcen in der Arbeit gehen über personelle und materielle Ausstattung hinaus, die zur Bewältigung der Arbeitsaufgaben zur Verfügung steht. Der Grad der Einflussmöglichkeiten bzw. der Kontrolle und Autonomie in der Arbeit sind gesundheitlich sehr bedeutsam. Dazu gehören der Entscheidungs- und Gestaltungs- bzw. Handlungsspielraum sowie die Autonomie über die eigene Arbeitszeit (Glaser / Seubert 2014). Eine Ressource, die im Zusammenhang mit der Arbeitsaufgabe steht, ist die Rückmeldung, die durch die Tätigkeit selbst oder durch Kolleginnen, Vorgesetzte oder Klientinnen erhalten wird. Auch im Kontext von Arbeit erweist sich soziale Unterstützung als bedeutsam (Kap. 1.2.2). Dies kann einerseits durch konkrete Hilfestellungen oder auf emotionaler Ebene erfolgen. Soziale Unterstützung kann dazu beitragen Überforderung zu minimieren (Glaser / Seubert 2014).

Ulich (2011) nennt folgende gesundheits- und persönlichkeitsförderliche Merkmale von Arbeit:

■ Aufgaben mit planenden, ausführenden und kontrollierenden Anteilen

■ Vielfalt der Aufgaben

■ Soziale Interaktion und Kommunikation bei der Erfüllung der Aufgaben

■ Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten

■ Individuelles Zeitmanagement in der Arbeit

■ Gesellschaftlicher Nutzen

Es kann also festgehalten werden, dass Arbeit sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf den einzelnen Menschen und seinen Gesundheitsprozess haben kann.

Transferaufgabe: Welche Daten zur Gesundheitsberichterstattung können Sie zu den betrieblichen Fallbeispielen Landkreis ZuBli, WfbM Carpe Diem gGmbH und Hephai GmbH & Co KG im Branchenvergleich recherchieren?

Zur Gesundheitsberichterstattung: www.rki.de, www.gbe-bund.de. 5.09.2020

3.2.1 Spezifische Modelle zu Gesundheit und Arbeit

Die Vernetztheit von Arbeit und Gesundheit wird durch theoretische Modelle aufgezeigt. Das Anforderungs- und Kontroll-Modell (Demand-Control) (Karasek / Theorell 1990) sowie das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) basieren auf stresstheoretischen Grundannahmen (Kap. 5.1). Sie gelten als anerkannt und empirisch geprüft (Peter 2017). Diese Modelle dienen dazu, branchen- und berufsunabhängige Belastungskonstellationen zu identifizieren. Die im folgenden Abschnitt dargestellten Modelle betrachten insbesondere psychische Belastungskonstellationen.

Das Demand-Control-Modell

Das Demand-Control-Modell ermöglicht es, Anforderungen und Kontrollchancen anhand eines 2-Achsen-Modells einzuordnen. Ein hohes Maß an Kontroll- und Einflusschancen (Möglichkeiten zum Erlernen von Neuem sowie zum Einbringen von Fähigkeiten und Fertigkeiten) kombiniert mit einem hohen Entscheidungsspielraum und hohen Anforderungen ordnen die Autoren Karasek / Theorell (1990) als positiv für die Gesundheit ein. Hohe Anforderungen mit niedrigen Kontroll- und Einflusschancen werden als negativ bewertet. Diese Konstellation wird auch als Job Strain bezeichnet und kann einen Risikofaktor für Herz-Kreislauferkrankungen darstellen (Peter 2017).

Berufliche Gratifikationskrisen

Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Siegrist 1996) untersucht das Verhältnis von beruflichen Verausgabungen und der dafür erhaltenen Belohnungen. Als Verausgabungen werden Zeitdruck, Verantwortung, inkonsistente Anforderungen, Intensivierung der Arbeitsbelastung, Überstunden und körperlich sehr anstrengende Arbeit bezeichnet. Belohnungen können zum einem durch Bezahlung und zum anderen durch Wertschätzung sowie Aufstiegsmöglichkeiten und Arbeitsplatzsicherheit erfolgen. In diesem Modell wird eine individuelle Konstellation der Verausgabungsneigung als eine Kombination von exzessiver Verausgabung und einem hohen Bedürfnis nach Anerkennung definiert (Siegrist 1996). Dieses Modell geht davon aus, dass ein Ungleichgewicht von Verausgabung und Belohnung die Gesundheit schwächt.

Widersprüchliche Arbeitsanforderungen (WAA)

Das Konzept der widersprüchlichen Arbeitsanforderungen basiert auf einem handlungstheoretischen Denkmodell. Gesundheitliche Belastungen werden in diesem Modell als

„Widersprüche zwischen Handlungsanforderungen und Handlungsmöglichkeiten bzw. als Diskrepanzen zwischen Zielen und Ressourcen betrachtet“ (Moldaschl 2017, 144).

Mögliche gesundheitliche Belastungen werden durch Diskrepanzen zwischen Arbeitsaufgaben, zwischen Zielen und Ressourcen, Regeln, informellen Erwartungen sowie zwischen unterschiedlichen Regeln definiert (Moldaschl 2017).

Es wird davon ausgegangen, dass gesundheitliche Belastungen weder allein aufgrund von Personenmerkmalen, noch aufgrund von normativen Grenzwerten, wie in der Arbeitsmedizin, identifiziert werden können. Belastungen entstehen, wenn die Person aufgrund von Regeln und Ressourcen in der erfolgreichen Umsetzung der Ziele gehindert wird.

„Anforderungen sind die Quellen von Kompetenzentwicklung, Belastungen schnüren sie ein“ (Moldaschl 2017, 145).

Konflikte zwischen den Anforderungen und Möglichkeiten erwachsen aus Widersprüchen zwischen Aufgaben und den Bedingungen der Ausführung (Regulationsbehinderungen). Hindernisse durch unzureichende Information, motorische Belastungen, durch Zeitdruck, ungünstige Bedingungen der Arbeitsumgebung sowie Unterbrechungen erschweren die Regulationsprozesse. Konflikte zwischen Anforderungen und Möglichkeiten können bei mangelnder Rückmeldung über Arbeitsergebnisse entstehen. Die Resultate der eigenen Arbeit können nicht wahrgenommen werden, wenn das Endprodukt nicht ersichtlich ist oder die Qualitätskontrolle an anderen Orten stattfindet. Widersprüchliche, bedrohliche oder angsterzeugende Feedbacks bewirken unklare Erkenntnisse über die Arbeitsleistung. Eine Diskrepanz zwischen Anforderungen und Möglichkeiten kann aus Zielwidersprüchen und Planungsbehinderungen erwachsen. Das beinhaltet, dass die arbeitende Person an der Erreichung von klaren, akzeptierten Zielen durch sich widersprechende Aufgabenziele oder unklare Erwartungen, Anweisungen oder Regeln gehindert wird. Im Verlauf von Arbeitshandlungen erwerben Menschen Handlungswissen durch die Verarbeitung der Handlungsergebnisse.

Beispielsweise hat eine Person hohe Ansprüche an die Fehlerfreiheit ihrer Arbeit, kann dieses Ziel aber nicht erreichen, weil die Stückzahl der Produktion bei gleicher Zeitvorgabe erhöht wird oder eine Zusammenarbeit mit nicht qualifiziertem Personal die Fehlerquote erhöht.

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