Bio-psycho-soziales betriebliches Gesundheitsmanagement für Sozial- und Gesundheitsberufe

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Becker, P. (2006) : Gesundheit durch Bedürfnisbefriedigung. Hogrefe, Göttingen

Franke, A. (2012) : Modelle von Gesundheit und Krankheit. 3. Aufl. Huber, Bern

Hurrelmann, K., Richter, M. (2013) : Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. 8. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

Hurrelmann, K., Richter, M. (2013) : Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. 8. Aufl. Beltz Juventa, Weinheim

2 Begriffe, Entwicklung und Gesetze zu Prävention, BGM und BGF

BGM und BGF werden im allgemeinen Sprachgebrauch undifferenziert und teilweise synonym verwendet. Ein Betrieb bietet unter dem Label Gesundheitsmanagement Fitnesskurse, Rückenschule oder ergonomische Arbeitsplatzanalysen für die MitarbeiterInnen an. Diese Bezeichnung ist nicht korrekt, da es sich einerseits um Maßnahmen zur Gesundheitsförderung handelt, andererseits werden ergonomische Analysen dem Aufgabengebiet des Arbeitsschutzes zugeordnet. Beim Themenfeld der Gesundheit der MitarbeiterInnen in Betrieben überschneiden sich die Aufgaben von BGM, BGF, Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit (ASS) und des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM). Betriebliches Gesundheitsmanagement bezieht sich auf die Prozesse, Strukturen und die Führung des Unternehmens sowie auf Maßnahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung. Einige Aufgaben von Arbeitsschutz und –sicherheit und dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement überschneiden sich mit BGM und BGF.

In einem Unternehmen mit seinen vielschichtigen Arbeitsbereichen und Aufgaben, wie bspw. dem Personalwesen, Controlling oder Qualitätsmanagement und BGM existieren zahlreiche Schnittmengen.

Diese Maßnahmen zum Schutz, Erhalt oder der Wiederherstellung der Gesundheit von ArbeitnehmerInnen basieren auf unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen, unterliegen der Verantwortlichkeit sich unterscheidender Kostenträger (Kap. 2.4).

Zur Orientierung werden im folgenden Teilkapitel zentrale Begrifflichkeiten zu BGM und BGF definiert und voneinander abgegrenzt.

2.1 Prävention vs. Gesundheitsförderung

Der Begriff der Prävention, ursprünglich Krankheitsprävention, entwickelte sich in der Sozialmedizin im 19. Jahrhundert im Themenfeld der Hygiene und Volksgesundheit.

Prävention

Sie zielt darauf ab, der Entstehung von Krankheit zuvorzukommen, also zu vermeiden. Auf diese Weise werden das Auftreten und die Ausbreitung von Erkrankungen vermindert (Hurrelmann et al. 2009). Der Erfolg der Prävention wird daran gemessen, inwieweit der Ausbruch und die Verbreitung von Krankheiten verringert werden kann. Prävention basiert auf einer pathogenetischen Denkweise. Durch gezielte Interventionen wird in den Prozess der Entstehung von Krankheit eingegriffen. Prävention nimmt ihren Ausgangspunkt bei spezifischen gesundheitlichen Störungen, um Risikofaktoren zu verringern oder zu eliminieren (Altgeld / Kolip 2009). Prävention beruht demnach auf der Annahme von Wahrscheinlichkeiten. Es kann nicht mit Sicherheit behauptet werden, dass durch Präventionsmaßnahmen beim Einzelnen das Krankheitsrisiko reduziert wird.

Verhalten und Verhältnisse

Präventive Maßnahmen können einerseits am individuellen Verhalten ansetzen, sog. Verhaltensprävention. Es wird das Risikoverhalten des Individuums wie z. B. Nikotinkonsum oder Bewegungsmangel in den Blick genommen. Verhältnisprävention konzentriert sich auch auf die Veränderung von ökologischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Umweltbedingungen (Leppin 2009). Das Rauchverbot an öffentlichen Plätzen kann als gesetzlich verankerte verhältnispräventive Maßnahme bezeichnet werden.

Im betrieblichen Kontext sind hier zum Beispiel ergonomische Maßnahmen, das Einführen von Kernarbeitszeiten, transparente Kommunikationsstrukturen oder auch das Einrichten einer Salatbar in der Cafeteria zu nennen.

Der zeitliche Aspekt des Einsatzes von Präventionsmaßnahmen im Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wird durch das triadische Präventionsmodell mit den Teilbereichen Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention beschrieben (Leppin 2009, Naidoo / Wills 2010, Franzkowiak 2018b).

Das triadische Präventionsmodell

Primärpräventive Maßnahmen setzen vor dem Eintreten einer Erkrankung oder fassbaren biologischen Schädigungen ein. Aus gesundheitspolitischer Perspektive soll Primärprävention die Inzidenzrate einer Krankheit verringern. Das Erstauftreten von Krankheiten soll abgewendet werden. Primärprävention richtet sich demnach an gesunde, symptomfreie Menschen mit dem Ziel auslösende oder vorhandene Teilursachen von definierten Erkrankungen zu eliminieren (Naidoo / Wills 2010).

Das triadische Präventionsmodell

Sekundärprävention intendiert die systematische Entdeckung von biomedizinisch eindeutigen Frühstadien einer Erkrankung und der Frühtherapie. Sie hat das Ziel, Krankheiten möglichst frühzeitig zu erkennen, bevor Beschwerden oder Krankheitssymptome auftreten (Leppin 2009, Franzkowiak 2018b, Naidoo / Wills 2010). Dazu gehören Früherkennungsuntersuchungen (wie z. B. flächendeckende Mammografie-Screenings als Krebsvorsorgeuntersuchungen. Programme zur Suchtprävention bei Jugendlichen, die bereits Alkohol oder andere Suchtmittel zu sich genommen haben, zur Verhinderung einer Suchtkarriere können auch als sekundärpräventiv bezeichnet werden. Nach Manifestation bzw. Akutbehandlung einer Erkrankung werden tertiärpräventive Maßnahmen zur Verhinderung von Folgeschäden, der Krankheitsverschlimmerung oder Rückfällen bei Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Menschen in der Rehabilitation eingesetzt (Leppin 2009). Dabei sollen bleibende Funktionsverluste und eingeschränkte Aktivitäten bzw. verminderte Partizipation verhindert werden (Franzkowiak 2018b, Naidoo / Wills 2010). Hier wird ersichtlich, dass eine begriffliche Überschneidung mit medizinisch-therapeutischer Behandlung besteht. Tertiäre Prävention und Rehabilitation weisen Schnittfelder auf. Die Maßnahmen der tertiären Prävention können als krankheitsorientiert im engeren Sinn beschrieben werden können. Rehabilitation hat einen deutlich erweiterten Fokus. Die Wechselbeziehungen von Mensch und Umwelt werden berücksichtigt. Medizinisch-therapeutische, psycho-soziale und schulisch-berufliche Aktivitäten werden verknüpft, um zu einem aktiven, weitgehend selbstbestimmten Leben trotz krankheitsbedingter oder chronischer Funktionseinbußen zu verhelfen (Franzkowiak 2018b).

Selbstlernaufgabe: Übertragen Sie die Begriffe der Primär- Sekundär- und Tertiärprävention und ihre Maßnahmen auf den betrieblichen Kontext.

Gesundheitsförderung

Der Begriff Gesundheitsförderung beruht auf einem salutogenetischen Denken. Sie entwickelte sich ausgelöst durch gesundheitspolitische Diskurse der WHO. Diese definiert Gesundheitsförderung wie folgt:

„Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. In diesem Sinne ist die Gesundheit als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das in gleicher Weise die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit betont wie die körperlichen Fähigkeiten“ (World Health Organization Europa WHO 1986, 1).

Die WHO (1986) hebt hervor, dass die Verantwortung für Gesundheitsförderung bei allen Bereichen der Politik liegt und nicht nur an den Gesundheitssektor delegiert werden kann. Dabei geht es neben gesunden Lebensweisen um die Förderung von umfassendem Wohlbefinden. Durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen sollen „gesundheitliche Entfaltungsmöglichkeiten“ (Hurrelmann et al. 2009) sowie gesundheitliche Schutzfaktoren und Ressourcen gestärkt werden (Altgeld / Kolip 2009, Antonovsky / Franke 1997, Becker 2006).

 

Individuum und Setting

Auch gesundheitsförderliche Maßnahmen können das Individuum oder das soziale Umfeld und die gesellschaftlichen oder rechtlichen Rahmenbedingungen in das Zentrum des Interesses setzen. Dabei werden individuelle oder am Setting orientierte Maßnahmen unterschieden. Der Settingansatz bzw. Lebensweltansatz in der Gesundheitsförderung betrachtet Lebensbereiche, in denen Menschen sich einen großen Teil ihrer Zeit aufhalten. Betriebe, Schulen und Kindertagesstätten, aber auch Städte, Gemeinden oder Statteile werden als relevante Settings angesehen. Diese Settings mit ihrer spezifischen sozialen Zusammensetzung und ihren Organisationsstrukturen und Kultur wirken sich auf die Gesundheit des Menschen aus (GKV 2014, Altgeld / Kolip 2009). Angebote der Gesundheitsförderung können sich auch am Individuellen Ansatz orientieren. Einzelne Menschen sollen dazu befähigt werden, gesunde Lebensstile und gesundheitliche Schutzfaktoren zu stärken und ausbauen (GKV 2014, 2018).

Gesundheitsrelevanter Lebensstil

Gesundheitsrelevante Lebensstile werden durch soziale Faktoren wie Geschlechtszugehörigkeit, Alter und soziale Schicht beeinflusst. Maßnahmen der Gesundheitsförderung müssen demnach auch in den jeweiligen Lebenswelten der Menschen verortet sein. Eine Maßnahme zur Gesundheitsförderung, die gesundheitsrelevante Lebensstile stärken möchte, kann bestimmte Zielgruppen in spezifischen Settings in den Blick nehmen. Auf der Ebene der Intervention überschneiden sich Gesundheitsförderung und Prävention. Zum Beispiel wird ein Mangel an körperlicher Aktivität vielfach als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen oder Adipositas beschrieben. Die Intervention der Bewegungsförderung jedoch stärkt den Schutzfaktor Körperliche Aktivität. Im Leitfaden Prävention der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) werden die Begriffe Prävention und Gesundheitsförderung als sich ergänzend betrachtet und Aspekte des Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) mit der Betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) verknüpft (GKV 2018).

Selbstlernaufgabe: Recherchieren Sie Best Practice-Beispiele zur Gesundheitsförderung. Handelt es sich um Präventions- oder Gesundheitsförderungsmaßnahmen?

2.2 Betriebliches Gesundheitsmanagement und Betriebliche Gesundheitsförderung

Das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat die Bedeutung des Themas Betriebliches Gesundheitsmanagement erkannt und eine entsprechende Spezifikation entwickelt, die im Juli 2012 als DIN SPEC 91020 veröffentlicht wurde (Deutsches Institut für Normung 2012). Die Spezifikation kann in jeder Organisation (Unternehmen, Behörden, Körperschaften des öffentlichen Rechts etc.) angewendet werden, die ihre betrieblichen Gesundheitsbelange über ein wirksames Managementsystem einführen will. In dieser Richtlinie wird Betriebliches Gesundheitsmanagement definiert als

„Systematische sowie nachhaltige Schaffung von gesundheitsförderlichen Strukturen und Prozessen einschließlich der Befähigung der Organisationsmitglieder zu einem eigenverantwortlichen gesundheitsbewussten Verhalten“ (Deutsches Institut für Normung 2012, 7).

BGF setzt an gesundheitlichen Einflussfaktoren an und intendiert diese zu verbessern. Das Europäische Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung (ENWHP) definierte BGF bereits 2008 wie folgt:

„Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) umfasst alle gemeinsamen Maßnahmen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gesellschaft zur Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden. Dies kann durch eine Verknüpfung folgender Ansätze erreicht werden: Verbesserung der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen, Förderung aktiver Mitarbeiterbeteiligung und Stärkung persönlicher Kompetenzen“ (Europäisches Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung (ENWHP) 2008, 2).

BGF zielt darauf ab, die gesundheitsrelevanten Faktoren im Arbeitskontext zu beeinflussen. Es werden zum einen gesundheitsrelevante Unternehmensgrundsätze und -leitlinien, eine gesundheitsbewusste Unternehmenskultur und Personalpolitik mit entsprechenden Führungsgrundsätzen berücksichtigt (Kap. 6.1).


Abb. 7: BGM in betrieblichen Strukturen

Zum anderen werden die MitarbeiterInnenbeteiligung, gesundheitsrelevante Arbeitsorganisation, Einflussmöglichkeiten auf die eigene Arbeit sowie soziale Unterstützung und ein integrierter Arbeits- und Gesundheitsschutz gefordert. Dies ist nur mit Hilfe eines systematischen BGM zu leisten.

BEM

Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) kann neben Arbeitsschutz und -sicherheit als Teil eines systematischen BGM verstanden werden (Abb. 7) (Kap. 2.4): ArbeitnehmerInnen, die während eines Jahres eine Zeitspanne von sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit überschreiten oder zum wiederholten Mal die Arbeit aufgrund von Krankheit nicht antreten können, muss ein betriebliches Gesundheitsmanagement angeboten werden. Jeder Betrieb, unabhängig von seiner Größe, ist hierzu verpflichtet. Dabei sollen die Beschäftigten an dem Verfahren beteiligt werden und ihr Einverständnis dazu geben (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2016, Huber 2014). Hier geht es aber für den / die ArbeitnehmerIn ausdrücklich nicht nur darum zuzustimmen, er kann aktiv Vorschläge einbringen, welche Veränderungen für ihn im Sinne der Arbeitsfähigkeit erforderlich oder zumindest wünschenswert wären. Ziel des BEM ist zum einen eine Überwindung der Arbeitsunfähigkeit, zum anderen die Vorbeugung einer erneuten Erkrankung und Erhalt des Beschäftigungsverhältnisses für den / die ArbeitnehmerIn (Kohte 2019). Ein verbindlicher vom Gesetzgeber vorgegebener, strukturierter Ablauf existiert nicht (Uhle / Treier 2019). Gemäß §167 SGB IX müssen dabei die zuständigen Interessenvertretungen, wie bspw. Betriebs- oder Personalräte mit eingebunden werden. Bei Menschen mit einer Schwerbehinderung (Grad der Behinderung von mind. 50 oder gleichgestellt) wird die Schwerbehindertenvertretung gem. Sozialgesetzbuch §167 SGB IX am Verfahren beteiligt (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2016). ArbeitnehmerInnen mit einer geringergradigen oder noch nicht bestätigten Behinderung können die Beteiligung der SBV wünschen, ebenso können weitere Fachdienste am BEM-Gespräch beteiligt werden. So empfiehlt sich z. B. bei Hör- oder Sehbehinderten die Beteiligung des jeweiligen Fachdienstes, um auch die technischen Fördermöglichkeiten in den Blick nehmen zu können. Auch die (Wieder-)Eingliederung psychisch erkrankter ArbeitnehmerInnen wird als bedeutsam betrachtet (Held 2017), da diese eine hohe Fehlzeitenraten aufweisen. Es können unter Zustimmung der Betroffenen Pläne zur Wiedereingliederung entwickelt und eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes initiiert werden (Uhle / Treier 2019). Hier empfiehlt sich u. a. auch das Hinzuziehen der für die jeweilige Beeinträchtigung zuständigen Fachdienste der Integrationsämter (Sehen, Hören, Bewegung u. a.), die u. a. einen Überblick über die technisch möglichen Unterstützungen bieten können.

Ziel aller dieser Maßnahmen stellt eine Rückfallprophylaxe dar (Uhle / Treier 2019). Erfolgreiche Maßnahmen zur Eingliederung basieren auf folgenden Faktoren (Held 2017):

■ Vertrauen in die eigene Arbeitsfähigkeit und das Gelingen des BEM

■ Detaillierte Information und wertschätzende Kommunikation

■ Strukturiertes, individuelles Vorgehen mit möglicherweise externer Unterstützung

■ Minderung gesundheitlicher Belastungsfaktoren durch betriebliche Prävention

■ Stärkung der Ressourcen durch ein gesundheitsförderliches Arbeitsumfeld

Die gesetzliche Vorschrift zum betrieblichen Eingliederungsmanagement findet sich seit dem 01.01.2018 im § 167 SGB IX und ist als eine personenbezogene Aufgabe im operativen BGM zu sehen (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2016). Der krankheitsbedingte Arbeitsausfall kann sich über den gesamten Zeitraum erstrecken oder in Etappen. Das BEM sollte als Prozess verstanden werden und nicht als einmalig durchzuführendes Verfahren. Es sollte nicht mit sogenannten in der Praxis üblichen Rückkehrergesprächen (oder auch Fehlzeitengesprächen) verwechselt werden (Seel 2017).

Arbeitssicherheit und -schutz

Der Arbeitsschutz ist zudem gesetzlich geregelt und für das Unternehmen bindend. Das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) wird häufig als wesentlicher Teil des Qualitätsmanagements eines Unternehmens gesehen. Es regelt die Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen und Gesundheitsgefahren bei der Arbeit (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 1996, 2019). Dabei stehen u. a. das Minimierungsgebot, die Ursachenbekämpfung sowie eine Aktualisierungspflicht, wie z. B. bei der Technikausrüstung und Wissen im Vordergrund (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 1996, 2019, Faber / Faller 2017). Ergänzend zu den Pflichten des Unternehmens werden auch den ArbeitnehmerInnen Rechte und Pflichten (u. a. Meldepflicht) auferlegt. Für die ArbeitnehmerInnen sind die Annahme des angebotenen BEM-Verfahrens wie auch Maßnahmen der Gesundheitsförderung nicht verpflichtend.

Eine Verzahnung der drei Themenbereiche ASS, BGF sowie BEM kann sich positiv auf den Erfolg der betrieblichen Prävention auswirken.

Seel, H. (2017) : Fernab von Fehlzeitengesprächen. Betriebliches Eingliederungsmanagement als Chance und Herausforderung. In: Faller, G. (Hrsg.), 285–294

2.3 Entwicklungslinien

Die WHO stellt eine bedeutsame Initiatorin der Gesundheitsförderung dar. Sie hat wesentliche internationale Konferenzen zur Gesundheitsförderung organisiert (Abb. 8). Die erste Konferenz hat im Jahr 1978 in Alma Ata in der UdSSR stattgefunden. Daran schlossen sich die Konferenzen in Ottawa (Kanada 1986), in Adelaide (Australien 1989), in Sundsvall (Schweden 1991), in Jakarta (Indonesien 1997), in Mexiko Stadt (Mexiko 2000) und in Bangkok (Thailand 2005) an (Singer 2010).

Abb. 8: Die Konferenzen der WHO seit 1978

Ottawa-Charta

Auf der Konferenz zur Gesundheitsförderung im November 1986 in Ottawa wurde die sog. Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung verabschiedet. Darin erfolgt ein Aufruf zu gesundheitsförderlichem Handeln mit dem Ziel „Gesundheit für alle“ bis zum Jahr 2000 zu bewirken (World Health Organization Europa WHO 1986, 1).

Gesundheit wird darin als elementarer Bestandteil des täglichen Lebens angesehen. Sie basiert auf Frieden, angemessenen Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung und Einkommen. Eine weitere Grundvoraussetzung für Gesundheit stellen ein stabiles Öko-System und eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen dar. Gesundheit basiert zudem auf sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit (World Health Organization Europa WHO 1986). Ein Ziel der Ottawa-Charta ist das Schaffen von gesundheitsförderlichen Lebenswelten:

 

„Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Freizeit organisiert, sollte eine Quelle der Gesundheit und nicht der Krankheit sein. Gesundheitsförderung schafft sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen“ (WHO 1986, 3).

Die Teilnehmerstaaten haben sich in der Charta verpflichtet, das erklärte Ziel auf den folgenden Handlungsfeldern voranzubringen (World Health Organization Europa WHO 1986):

■ Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik

■ Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten

■ Unterstützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen

■ Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten

■ Stärkung der persönlichen Kompetenz

■ Neuorientierung der Gesundheitsdienste in Richtung Gesundheitsförderung

Die Arbeitswelt wird explizit als bedeutsame Lebenswelt in der Ottawa-Charta benannt. Die Europäische Union (EU) hat das Thema der Gesundheitsförderung aufgegriffen. Dabei konzentriert sich die EU auf die Finanzierung von einschlägigen Aktionsprogrammen zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz, die Forschungsförderung und die Koordinierung der Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Gesundheitsbereich (Singer 2010). Im Jahr 1996 wurde durch die Europäische Union das Europäische Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung ENWHP / ENBGF ins Leben gerufen.

ENWHP / ENBGF

Das ENWHP (European Network for Workplace Health Promotion) bzw. ENBGF (Europäische Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung) hat es sich zum Ziel gesetzt, den Aufbau informeller Infrastrukturen und nationaler Netzwerke in allen Ländern Europas zu unterstützen. Seit 1996 wurden durch das ENWHP mehrere Dokumente zur Thematik der BGF veröffentlicht. Im Jahr 1997 wurde die Luxemburger Deklaration für Betriebliches Gesundheitsmanagement verabschiedet. Eine Aktualisierung erfolgte in den Jahren 2005, 2007 und 2014 (Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung (ENWHP) 2014). Bis Januar 2016 haben 272 Unternehmen die Luxemburger Deklaration.

In dieser Deklaration sind Leitlinien für die BGF formuliert (Abb. 9) (Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung (ENWHP) 2014). In den Prozess der BGF sollen die gesamte Belegschaft eines Unternehmens einbezogen werden (Partizipation). BGF ist in alle Unternehmensbereiche integriert und wird bei allen wesentlichen Entscheidungen mitgedacht (Integration). Die zentrale Prämisse stellt die Forderung nach systematischer Durchführung von Maßnahmen und Programmen auf der Basis einer Bedarfsanalyse, einer Prioritätensetzung mit kontinuierlicher Kontrolle und einer Bewertung der Ergebnisevaluation dar (Projektmanagement). Dabei sollten sowohl verhaltens- als auch verhältnisorientierte Maßnahmen integriert werden. Der Ansatz der Risikoreduktion wird mit dem Ausbau von Schutzfaktoren und Gesundheitspotenzialen verknüpft (Ganzheitlichkeit).


Abb. 9: Leitlinien der Luxemburger Deklaration (Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung (ENWHP) 2014)

In der Folge wurden am 24. / 25. April 1998 das Cardiff Memorandum über die Herausforderungen der BGF in Klein- und Mittelunternehmen (KMU), am 16. Juni 2001 die Lissabonner Erklärung zur Gesundheit am Arbeitsplatz in KMU und am 17. / 18. Juni 2002 die Barcelona Deklaration zur Entwicklung einer BGF verabschiedet (Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung (ENWHP) 2005).

DNBGF

Im Juni 2002 wurde auf Initiative des Europäischen Netzwerks für betriebliche Gesundheitsförderung ENWHP das Deutsche Netzwerk für Betriebliche Gesundheitsförderung (DNBGF) gegründet. Zu diesem Zeitpunkt war BGF in Deutschland nur wenig verbreitet. Die Kooperation zwischen allen nationalen AkteurInnen sollte verbessert werden. Dieses Netzwerk stellt einen wesentlichen Schritt zur Integration und Verbreitung der betrieblichen Gesundheitsförderung in allen Bereichen der Arbeitswelt in Deutschland dar. Das DNBGF verknüpft bestehende Aktivitäten und regt den internationalen Erfahrungsaustausch an. Das DNBGF setzt sich aus den Mitgliedern der IGA (Initiative Gesundheit und Arbeit), BKK (Betriebskrankenkassen Dachverband), der AOK (Allgemeine Ortskrankenkassen), DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung), VDEK (Verein Deutscher Ersatzkassen) zusammen.

www.dnbgf.de, 5.09.2020

www.enwhp.org, 5.09.2020

2.4 Gesetzliche Rahmenbedingungen

BGM ist im europäischen und nationalen Diskurs und in einem komplexen Netzwerk von arbeitsrechtlichen Vorgaben, Normen, Leitlinien und Empfehlungen eingebunden. So finden sich eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen auf europäischer Ebene wie auch Bundesebene.

Europäische Arbeitsschutzrichtlinien

Über allen Rechtsvorgaben stehen das Deutsche Grundgesetz und die Europäischen Arbeitsschutzrichtlinien. Die Europäischen Arbeitsschutzrichtlinien haben bindende Wirkung für die deutschen Gesetze und bilden eine Grundlage mit Mindeststandards und Schutzzielen (Neuner 2019). Diesen untergeordnet finden sich die Arbeitsschutzgesetze (ArbSchG) sowie das Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit – kurz Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) (Neuner 2019, Faber / Faller 2017).

Verordnungen

Die Unfallverhütungsvorschriften und Konkretisierungen in den verschiedenen Verordnungen (Arbeitsstättenverordnung, Betriebssicherheitsverordnung und Gefahrstoffverordnung) werden dem ArbSchG und dem ASiG untergeordnet.

Tarifverträge

Diese werden in Tarifverträge sowie in Betriebs- und Dienstvereinbarungen integriert. Arbeitsschutznormen (z. B. die Deutsche Industrienorm DIN) und Richtlinien der Fachverbände (z. B. des Vereins Deutscher Ingenieure VDI) sind von diesen abgeleitet (Neuner 2019).

BGM und BGF befinden sich in einem komplexen Schnittfeld gesetzlicher Rahmenbedingungen, Verordnungen und Normen, die zu Verwirrung führen können. Aus diesem Grund wird eine Einordnung anhand der Frage, ob diese vor, beim oder nach dem Entstehen von gesundheitlichen Störungen wirksam sind, vorgeschlagen (Abb. 10). Eine Beschränkung auf die wesentlichsten gesetzlichen Vorgaben wird aus Gründen der Orientierung vorgenommen.


Abb. 10: Einordnung gesetzlicher Rahmenbedingungen nach der Wirksamkeit vor, beim und nach dem Entstehen einer gesundheitlichen Störung

VOR dem Entstehen

Gesetzliche Vorgaben deren Wirksamkeit vor dem Eintreten einer gesundheitlichen Störung eintritt, haben die Aufgabe gesundheitliche Beeinträchtigungen zu verhindern. Das Arbeitsschutzgesetz legt die Arbeitsschutzpflichten für alle Branchen seitens der Arbeitgeberschaft und der Beschäftigten mit ihren Pflichten und Rechten sowie deren Gewährleistung dar (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2015):

„(1) Maßnahmen des Arbeitsschutzes im Sinne dieses Gesetzes sind Maßnahmen zur Verhütung von Unfällen bei der Arbeit und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich Maßnahmen der menschengerechten Gestaltung der Arbeit“ (§ 2 ArbSchG).

Das Gesetz zielt auf eine Sicherung und Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes der Beschäftigten durch spezifische Maßnahmen zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit ab. Es geht von einem bio-psycho-sozialen Gesundheitsbegriff aus und inkludiert das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten (Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz 2015). In § 4 ArbSchG werden zentrale Prämissen des Arbeitsschutzes formuliert:

■ Vermeidung bzw. Verringerung einer Gefährdung der physischen und psychischen Gesundheit

■ Gefahrenbekämpfung

■ Berücksichtigung von arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen

■ Verknüpfung von Maßnahmen auf den Ebenen von Technik, Arbeitsorganisation und -bedingungen, sozialen Beziehungen sowie Umwelteinfluss auf den Arbeitsplatz

■ Nachrangigkeit von individuellen gegenüber kollektiven Maßnahmen

■ Berücksichtigung spezifischer Gefahren für besonders schutzbedürftige Beschäftigte

■ Pflicht zur Information von Beschäftigten

■ Verbot geschlechterspezifischer Diskriminierung

Im §5 ArbSchG ist die Gefährdungsbeurteilung verankert (Kap. 7.2.5), die sowohl körperliche als auch psychische Belastungen berücksichtigt.

Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG)

Im ASiG wird dem Unternehmen zusammen mit dem Betriebsrat die Bestellung von Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit aufgetragen. Es soll ein möglichst guter Arbeitsschutz gewährleistet werden, der auf die Bedürfnisse der Betriebe zugeschnitten ist (Faber / Faller 2017).

Unfallversicherungsgesetz (GUV)

Im SGB VII § 1 Prävention, Rehabilitation, Entschädigung ist festgeschrieben, dass Arbeitsunfälle, arbeitsbedingte gesundheitliche Gefährdungen inkl. Berufskrankheiten mit möglichen, geeigneten Interventionen verhütet werden müssen. Dies gilt sowohl für ArbeitnehmerInnen, als auch für UnternehmerInnen, Kinder in Tageseinrichtungen, SchülerInnen und Studierende, einbezogen ist auch der Weg zur Schule, Kindertagesstätte, Hochschule oder zum Arbeitsplatz.

Primäre Prävention und Gesundheitsförderung

Das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) vom 17. Juli 2015 ist im SGB V § 20 verankert. Es legt fest, dass Krankenkassen Maßnahmen zur Primären Prävention (Verhinderung bzw. Verminderung von Krankheitsrisiken) und zur Stärkung des individuellen Gesundheitshandeln unter besonderer Berücksichtigung geschlechterbezogener Ungleichheit vorsehen müssen (Das Bundesgesetzblatt im Internet 2015).

Verhaltens- und Settingorientierung

Es unterscheidet Leistungen zur verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Abs. 5 SGB V in den Handlungsfeldern Bewegungsgewohnheiten, Ernährung, Stressbewältigung und Suchtmittelkonsum sowie zur Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten nach § 20a SGB V (Kommunen, Schulen, Kindertagesstätten).

BGF

Die Leistungen zur Gesundheitsförderung in Betrieben nach §§ 20b und 20c SGB V werden von den Krankenkassen unterstützt. Dabei wird die Stärkung gesundheitsförderlicher Strukturen und Prozesse betont. Partizipativ vorgehend werden sowohl die versicherten Personen als auch die verantwortlichen Führungskräfte, Betriebsärzte und der Fachkräfte für Arbeitssicherheit einbezogen (Das Bundesgesetzblatt im Internet 2015, GKV 2018). Die gesundheitliche Situation wird analysiert und in Maßnahmen transferiert, um die gesundheitlichen Ressourcen auf der Verhaltens- und Verhältnisebene zu fördern. Es können auch Maßnahmen zur individuellen, verhaltensbezogenen Prävention nach § 20 Abs. 5 Satz 1 in Betrieben umgesetzt werden (Kap. 5.).