Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 4

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Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 4
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Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen


Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen

Band 4

Historische Essays, Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse

Essay 21


© 2014 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung der

Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Henrike Knopp und Kathleen Schulze

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung mehrerer Fotos von zsoltimano (glasses) / kostsov (Silver telescope on a support) / asterix0597 (Calculator for Engineering) / mshch (Sunset background.)

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-23-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

Vorwort


I Historische Essays
1Terror und Terrorismus
2Ein direkter Weg von der Spaßguerilla zum Terrorismus?
3Otto von Bismarck. Demontage des Mythos
4Werden Hirsche im Alter vernünftig? Zu Denis Diderots 300. Geburtstag
5»Schwarzbuch des Kommunismus«
6Aufklärung und Enttäuschung: Der Auschwitz-Prozess
II Porträts gegen das Vergessen
1Pierre Bourdieu: Soziologie als Aufklärung
2Henry Dunant – Glückloser mit Nachruhm
3Carl Schmitts verführerisch-suggestiver Gestus
4Niklas Luhmanns Systemtheorie in der Sackgasse
III Politische Kommentare
1Libyen: Vernunft im Schlachtenlärm
2Phantom Staatengemeinschaft
3Frankreich: Der intolerante Laizismus
4Kurras: Rollback der Spießer- und Küchenpsychologie
5Rechte und Toleranz
6Folteropfer Kurnaz
7Erpresste Versöhnung – Jagd auf »Antisemiten«
8Islamophobie
9Zum 11. September
10Heinsohn, Sarrazin, Sloterdijk und Schirrmacher
11Enzensberger improvisiert über Europa
12Der Staat der Neoliberalen
13Feuilletons im Abwärtstrend
14»Shoah«, »Holocaust« oder »Vernichtung«?
15Die Schweizer spinnen
16Die Ukraine und das Völkerrecht
17Gauckisch reden
IV Glossen
1Das fehlende Geld des Volkes
2Frankfurter Allgemeiner Küchenmoses: Küchenlatein (4)
3Franzosen der quadratischen Art
4Leben im Letztpark
5Connyland und deutsches Land
6Feuilletonismus
V Verrisse
1Sloterdijk: Gedöns und Gedünst
2Jeremy Rifkins Absturz
3Stümperhaft, aber laut – Lateinlehrer-Abendländertum gegen Habermas
4Götz Aly als Küchenpsychologe
5Allerhand Gedanken eines Medienintellektuellen
6Da, wo Wurst treu macht
7Feuilletonsoziologische Pirouetten
8Münklers Großer Krieg
VI In eigener Sache
1Kiosk
2Lothar Baier
3Sauglattismus
Nachweise

Vorwort

 

»Es gibt viele zu packen.

Tun wir’s ihnen an!«

Fritz Glunk (ehemaliger

Chefredakteur der »Gazette«)

Auch der vierte Band besteht wieder aus Texten, die ich als Publizist, Kolumnist und Sachbuchkritiker in den letzten zwanzig Jahren geschrieben habe. Im Unterschied zu den vorangegangenen Bänden enthält er auch Essays, die nicht für Zeitungen oder Zeitschriften, sondern als Beiträge für Sammelbände und Ausstellungskataloge entstanden sind sowie die Druckfassung eines Vortrags. Für die anderen Textsorten (Porträts, politische Kommentare, Glossen, Verrisse) hat sich gegenüber den anderen Bänden nichts verändert. Beibehalten habe ich wiederum den Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen«, obwohl der – zumindest in seiner formalen Struktur – dem Satz »Ergründe, ergrabe, ergreife das Glück« gleicht. Ich habe Goethes Aphorismus allerdings erst vor ein paar Wochen das erste Mal gelesen. Er hat mich darin bestärkt, den Titel beizubehalten. Die oben erwähnte Arbeitsdevise Fritz Glunks gilt nicht allein für die Verrisse von mediokren Büchern, denen der Medienbetrieb trotz fehlender Qualität viel Beachtung schenkte, sondern auch für Interventionen ins politische Handgemenge und – positiv gewendet – für »Porträts gegen das Vergessen«.

Das Kriterium für die Auswahl war wiederum die Haltbarkeit der Texte über den Tag hinaus und deren Verständlichkeit ohne erklärende Fußnoten. Der älteste Text stammt aus dem Jahr 1994. Unter dem ständig wachsenden Tempodruck bei der medialen Produktion und dem Einfluss beschleunigter Kommunikationsmittel wird Schnelligkeit die Regel, Haltbarkeit dagegen sekundär. Vieles, was in der Branche schnellfingerig geschrieben und abgeschrieben wird, mag man schon Tage später nicht mehr lesen. Es sind Texte, die sich so zügig verflüchtigen wie Beiträge in dialogischen TV- oder Radiosendungen, in denen ein Kritiker von einem Moderator abgefragt wird, der das besprochene Buch nicht kennt oder die kritisierte Ausstellung nicht gesehen hat. Selbst Autoren so entstandener Texte bzw. Sendungen hoffen auf die Gnade des baldigen Vergessens. Diesem Trend stelle ich mich entgegen und beanspruche entsprechende Lese- und Reflexionszeiten, bevor ich Texte liefere.

Die drei Texte in eigener Sache gelten drei Verstorbenen, denen ich in ganz unterschiedlicher Weise verbunden war und bin. In den Texthinweisen steht das Kürzel UTV (ursprüngliche Textversion) für Texte, die ich so nachdrucken lasse, wie ich sie abgeliefert habe – vor der manchmal etwas groben redaktionellen Zurüstung. Ich drucke die Texte sonst unverändert und kommentarlos ab – mit zwei Ausnahmen. An zwei Texte (II.4 und III.4) habe ich aus aktuellem Anlass ein datiertes Postskriptum angehängt.

»Je n’ai pas vidé mon sac«, sagt man im Französischen, wenn man sagen will, dass man noch nicht alles ausgepackt hat. Ob dem vierten ein fünfter Band folgt, weiß ich noch nicht. Ich habe noch einiges und neues kommt hinzu, obwohl das unter den veränderten Bedingungen nicht einfacher geworden ist.

Mein Dank gilt wiederum Michael Billmann, Henrike Knopp und Roland Tauber vom Verlag für die mustergültige Aufbereitung der Texte für den Druck und die umsichtige Betreuung des Buches in Münster. Aus der Zusammenarbeit mit den Verlagsmitarbeitern ist mittlerweile eine freundschaftliche Beziehung geworden, die allerdings nur während der Tage der Buchmesse unmittelbares Leben und Nähe gewinnt. Ich widme auch dieses Buch Eva-Maria in Dankbarkeit und Bewunderung. Trotz widriger Umstände hat sie alle Texte als Erste gelesen, korrigiert, kritisiert und mich in lebhaften Debatten vor vielen Irrtümern bewahrt. Die verbliebenen rechne ich mir allein zu.


Frankfurt, Juni 2014Rudolf Walther

I Historische Essays

1 Terror und Terrorismus*

Eine begriffs- und sozialgeschichtliche Skizze

Walter Laqueur hält die Vermutung des Arztes und Kriminologen Cesare Lombroso (1835-1909), der die Taten der bombenwerfenden Anarchisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit deren Vitaminmangel erklärte, für eine ebenso »lächerliche Idee«1 wie die heutigen Erklärungen der Ursachen des Terrorismus. Er lehnt es deshalb ab, den Begriff ›Terrorismus‹ zu definieren und versteht das weltweit auftretende Phänomen abwechselnd als Resultat von religiösem Fanatismus oder psychischer Deformation. Auf der entgegengesetzten Seite des Forschungsspektrums bietet der amerikanische Soziologe Axel P. Schmidt nicht weniger als 109 Terror-Definitionen mit 22 semantischen Elementen2 an. Auf kaum einem anderen sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld herrscht eine solche Beliebigkeit und Konfusion wie auf dem der Terrorismusforschung. Das ist schon lange so,3 hat sich aber seit dem 11. September entschieden verschärft.4 In seiner Sammelrezension von zehn Büchern über Terror und Terrorismus kommt Friedhelm Neidhardt zu einem für die sozialwissenschaftlichen Autoren niederschmetternden Urteil: »Fast alles bewegt sich ungedeckt im Spekulativen«.5 Besonders beliebt sind momentan Anleihen bei der zeitlos simplen Küchenpsychologie und einer hemdsärmelig konstruierten Anthropologie, deren Ergebnisse sich umgekehrt proportional verhalten zu ihrem prätentiösen Auftreten.6

Die hier vorgelegte Skizze möchte dagegen ›Terror‹ und ›Terrorismus‹ begriffs- und sozialgeschichtlich kontextualisieren, denn zweifellos ist das, was Terror genannt wurde und wird nicht immer und überall dasselbe. Die begriffsgeschichtliche Analyse unterstellt keine Kontinuität, sondern will den Wandel und die Brüche der beiden Begriffe aus den historischen Konstellationen und den damit verbundenen Argumentationsstrategien heraus verstehen und interpretieren. Sozialgeschichtlich verstandene Semantik oder Begriffsgeschichte versucht vielmehr – jenseits von normativen Vorgaben – herauszuarbeiten, was bei der Anwendung bestimmter Begriffe offen oder versteckt mittransportiert und was an historisch-semantischen Konnotationen eines Terminus beabsichtigt oder unbeabsichtigt gekappt wird.

Als allgemeine Definition, die jedoch immer der historischen Kontextualisierung bedarf, taugt jene von Henner Hess trotz ihrer syntaktischen Unebenheiten. Er versteht unter Terrorismus »erstens eine Reihe von vorsätzlichen Akten direkter physischer Gewalt, die zweitens punktuell und unvorhersehbar, aber systematisch, drittens mit dem Ziel psychischer Wirkung auf andere als das physisch getroffene Opfer, viertens im Rahmen einer politischen Strategie ausgeführt werden.« Von gewöhnlichen Verbrechen unterscheiden sich demnach terroristische Akte dadurch, dass sie ein doppeltes überschießendes Moment enthalten: Sie folgen – wenn auch noch so dünn begründeten – politischen Motiven, und sie weisen insofern über sich hinaus, als sie das Publikum einschüchtern, die Anhänger begeistern und neue Proselyten gewinnen wollen. Außer auf den direkten Adressaten bzw. das Opfer zielen also terroristische Täter auf Dritte. Der Terrorismusforscher Brian M. Jenkins brachte diesen Aspekt des Terrors 1975 auf die griffige Formel: »Terrorismus ist Theater«.7

Terror kommt – obwohl oberflächlich gesehen immer überraschend – nicht »wie eine Naturkatastrophe über die Menschen« und wurde auch nicht von »Dynamitwerfern, Bombenlegern und Heckenschützen […] Ende des letzten Jahrhunderts im zaristischen Russland« erfunden.8 ›Terreur‹ bzw. ›Terror‹ meinte in der Französischen Revolution Formen unmittelbarer Gewaltanwendung unter dem Schutz und im Interesse des Staates. Der Begriff bezeichnete kein Erstes, sondern stand für die Steigerung vorhandener Gewalt. Der Schein, dass Terror Gewalt erfindet, entsteht, wenn existierende Gewaltpotentiale nur noch affirmativ gefasst werden als ›Recht‹, ›Ordnung‹ oder ›Staat‹. Die Vielfalt von Gewaltformen, die mit dem Wort ›Terror‹ abgedeckt werden können, rührt daher, dass sowohl die staatliche Gewalt von oben als auch revolutionäre Gewalten von unten terroristisch agieren können bei der Konkurrenz um politische Macht und Herrschaft. Und das ist der Grund dafür, dass als Terrorist immer der Andere gilt. Das Wort ›Terrorist‹ wird ausgesprochen selten als Selbstbezeichnung reklamiert; es dient fast ausschließlich der Zuschreibung an Andere. Enthistorisiert erfüllt es die Funktion einer politischen Kampfparole bzw. eines beliebig beziehbaren Feindbegriffs.

Vorgeschichte

Zwar erhält ›terreur‹ als politischer Begriff erst in der Französischen Revolution große Verbreitung und semantische Tiefenschärfe, aber er hat eine lange Vorgeschichte, die sich zum Teil im modernen Sprachgebrauch gleichsam eingelagert hat. Im Alten Testament gehören ›terror‹ bzw. ›Schrecken‹ zu den Grundbegriffen. In Gott vereinigen sich Güte, Gerechtigkeit und Weisheit, aber auch dessen Allmacht, die Menschen als ›Schrecken‹ – in der Vulgata ›terror‹ – zu spüren bekommen können. Einen Vers aus Hiob 6,4 (»terrores Dei militant contra me«) übersetzte Luther mit »und die schrecknis Gottes sind auff mich gerichtet«. Im Neuen Testament dagegen erscheint der Begriff nur selten, aber Theologen wie Thomas von Aquin motivierten Gottesfürchtigkeit wie Friedfertigkeit problemlos mit dem »terror poenae«, d. h. mit dem »Schrecken der Strafe« für Zuwiderhandelnde. Nach Duns Scotus ist die Zwangstaufe unter »Drohungen und Schrecken« (»minis et terroribus«)9 zulässig. Bereits im 17. Jahrhundert wird dem Begriff ›Terror‹ die theologische Dignität jedoch abgesprochen. Blaise Pascal meinte, jemandem die Religion mit »Gewalt und Drohungen ins Herz einzupflanzen«, laufe darauf hinaus, nicht »die Religion, sondern den Schrecken« (»la terreur«) zu verbreiten.10

Seit Aristoteles wird in ästhetischen Schriften der Tragödie eine reinigende Wirkung (Katharsis) durch »Furcht und Schrecken« (das Griechische kennt dafür nur das Wort ›phóbos‹) zugeschrieben. Im 18. Jahrhundert machte Edmund Burke den »Schrecken« (»the terror«) zum »herrschenden Prinzip des Erhabenen« (»the sublime«), während er in seinen politischen Schriften nicht von »terror«, sondern von »jacobinism« spricht.11

Der politische Gebrauch des Begriffs beginnt nicht mit Hobbes, sondern schon im 16. Jahrhundert (etwa bei Jean Bodin), aber erst bei Hobbes erscheint er häufig – zum Beispiel als »terror of legal punishment«. Montesquieu ordnete 1748 jeder Regierungsform ein ethisches Prinzip zu: der Monarchie die Ehre und der Republik die Tugend. Die Despotie dagegen werde von »Furcht« (»crainte«) und »Schrecken« (»terreur«) regiert. »Terreur« als Herrschaftsmittel von Despoten und Tyrannen wurde in der politischen Theorie der Aufklärung bei Voltaire, Holbach, Mably, Hélvetius und dem älteren Mirabeau zum Gemeinplatz. Einen Ministerwechsel kommentierte Turgot 1771 mit dem Satz: »Der Großwesir ersetzt den fröhlichen Großwesir, und es scheint, dass man nun mit Terror (terreur) und im Stillen regieren möchte«.12

Am eindeutigsten belegt den intimen Zusammenhang von Staat, Terror und Folter der über Jahrhunderte übliche juristische Gebrauch. Bereits die erste umfassende Systematisierung des römischen Rechts enthält ein beschränktes Folterverbot. Der oströmisch-byzantinische Kaiser Justinian regierte von 527-565 und veranlasste, die Grundsätze des römischen Rechts zusammenzustellen. Das so entstandene Corpus iuris civilis (auch Codex Justinianus genannt) regelte u. a. die Befragung der mutmaßlichen Delinquenten. Die Juristen unterschieden zwischen »bloßer Befragung« (»nuda interrogatio«) und »leichter Schreckung« (»levis territio«). Hier wurde auch festgehalten, dass »Jugendliche nicht gefoltert, wohl aber geschreckt werden« dürften. Über zulässige Mittel der Befragung, der Schreckung und der Folter enthält die Gesetzessammlung nichts Präzises.

 

Das lateinische Wort ›territio‹ (›Schreckung‹) stammt von ›terror‹ (›Schrecken‹) ab und blieb über Jahrhunderte der Fachausdruck für die Einschüchterung von Delinquenten. Schreckung/territio ist das Tor für die Legitimation der Folter. Einerseits sprachen die römischen Juristen davon, dass für den Rechtszustand nichts verabscheuungswürdiger sei als »Terror gegenüber jenen Personen, die … aus Unschuld sicher sind«. Das bot jedoch nur bedingten Schutz, denn grundsätzlich von der Folter ausgenommen wurden nur jene, »die durch ihre Ehre geschützt sind« – also die Herren.13

Noch das »Universallexikon« Johann Heinrich Zedlers (68 Bände, 1732-1750) hielt »die Tortur« für »eine dem gemeinen Besten sehr nützliche, ja notwendige Sache« und unterschied zwischen »Verbal-Territion« und »Real-Territion« bzw. »tätlicher Schreckung«.14 Bis Mitte des 18. Jahrhunderts gehörten Schreckung und Folter zu den üblichen staatlichen Machtmitteln – die längste Zeit, ohne dass die Mittel technisch und juristisch genau normiert worden wären.

Es klingt paradox, aber die gesetzliche Regelung der Folter im Strafrecht verdankt sich einem Fortschritt. Bis zur Einführung der »Peinlichen Gerichtsordnung« (»Carolina«) Kaiser Karls V. im Jahr 1532 galten in der Rechtsprechung Gottesurteile als Beweise. Das Gottesurteil lebte von der Annahme, dass sich der Unschuldige finden lasse, wenn er auf die Probe gestellt werde. Gab es keine Zeugen, wurde die Schuld oder Unschuld des Angeklagten »bewiesen«, indem man ihn zum Beispiel gefesselt ins Wasser warf. Schwamm er obenauf, galt er als schuldig, weil ihn das reine Wasser nicht akzeptierte. Ging er unter, galt er zwar als unschuldig – aber ertrank.

Gegen solche archaischen Praktiken führte die »Carolina« den Inquisitionsprozess ein, der auf dem Prinzip beruhte, dass fortan nur verurteilt werden konnte, wer zuvor ein Geständnis ablegte. Die Mittel, Geständnisse zu erhalten, waren die verbale Schreckung und die Folter. Dieser Fortschritt wurde teuer erkauft, denn ein Teil des öffentlichen Gerichtsverfahrens verlegte man ins Dunkel der Folterkammern, wo die reine Willkür herrschte.

Christian Thomasius (1655-1728) entzog der Folter 1705 die juristische und moralische Rechtfertigung, indem er deren Grundlagen zerstörte: Es gibt keine vernünftigen Gründe dafür, anzunehmen, Gefolterte würden die Wahrheit sagen. Sie sagen das, wovon sie glauben, dass Folterer es hören möchten – was die Wahrheit sein kann, aber nicht muss. Wie Befürworter der Todesstrafe unterstellen auch Anwälte der Folter eine abschreckende Wirkung der Gewaltanwendung auf andere. Voltaire kritisierte »die Apparatur des Terrors« (»appareil de terreur«) – zu der er Folter und Todesstrafe zählte – als Veranstaltungen für den »Zuschauer«.15 Es handelt sich dabei – wie beim modernen Terror – um Formen der Gewalt, die nicht allein auf ihr unmittelbares Ziel aus sind, sondern auf die Wirkung bei Dritten, unbeteiligten Zuschauern, die abgeschreckt und eingeschüchtert werden sollen.

Terreur in der Französischen Revolution

Der Versuch, die Französische Revolution als Ganze auf die Terrorherrschaft der Jakobiner zu reduzieren und diese anachronistisch als Vorläufer des stalinistischen und nationalsozialistischen Terrors zu verbuchen, lebt von der These, Terror sei das legitime Kind der Aufklärung, was durch die Vorgeschichte des Begriffs widerlegt ist. Nur eine instrumentell verkürzte und verabsolutierte Vernunft, nicht die Vernunft provozierte eben durch diesen Radikalismus des Mittels ihre Selbstzerstörung, weil sie die Ziele aus den Augen verlor. Vor allem im religiösen wie im moralischen Fundamentalismus, die wohlverstandene Aufklärung behindern, gehen Mittel in Zielen und Ziele in Mitteln auf. Erklärungsbedürftig ist, wie ausgerechnet ein im politischen und im juristischen Sprachgebrauch des Ancien Régime nachhaltig diskreditierter Begriff wie ›terreur‹ zeitweise zur revolutionären Regierungsmaxime aufsteigen konnte.

Entscheidend waren die Zeithorizonte der Akteure, denen Furet und Richet16 bescheinigen, dass sie den Terror als Herrschaftsmethode nicht gezielt planten. Er war nicht primär ein Resultat der Moralisierung von Politik, obwohl dieser Prozess in der Spätphase der Revolution eine Rolle spielte. Der Terror als Herrschaftsmethode und Regierungsmaxime ergab sich vielmehr naturwüchsig aus der Dynamik der Gewalt und dem Tempo der Ereignisse, die die Regierenden steuern wollten. In vielen Phasen agierten die Jakobiner unter dem Zeitdruck tatsächlicher und vermeintlicher innerer und äußerer Bedrohungen. In diesen wirklichen und eingebildeten Zwangslagen griffen sie immer mehr und immer schneller zur Gewalt als probates Mittel der Abkürzung von politischen Entscheidungen.

Noch einen Monat vor dem Septembermassaker von 1792, als eine aufgehetzte Pariser Volksmasse wahllos gefangene Girondisten als »Verräter« ermordete, warnte ein jakobinischer Abgeordneter im Nationalkonvent vor dem »Terror der Könige«17. Obwohl die Guillotine seit April im Gebrauch war, sprach außer Jean-Paul Marat noch niemand vom Terror im positiven Sinne. Das änderte sich schlagartig mit der Radikalisierung der Sansculotten-Volksbewegung. Angesichts von drohender Hungersnot, militärischen Niederlagen und der Desertion eines französischen Generals ins österreichische Lager stieg die Angst vor Verrat und Verschwörungen. In einem Wechselbad von hochgestimmtem Patriotismus und Vernichtungsängsten radikalisierten sich Teile der Jakobiner. Obendrein verschärfte sich die Versorgungslage. Der Aufstand der Bauern in der Vendée und die Ermordung des Volkstribuns Marat im Juli 1793 erzeugten die Stimmung, in der die regierenden Jakobiner aus dem verhassten Schlagwort ›terreur‹ eine Staats- und Regierungsmaxime drechselten.

Danton forderte jetzt »schreckliche Maßnahmen« und ermahnte die Jakobiner in Anspielung auf die spontanen Massaker vom September: »Lasst uns schrecklich (»terribles«) sein, um das Volk davor zu bewahren, es zu sein.« Wenige Monate später sprach der Abgeordnete Claude Royer die Parole des Augenblicks erstmals aus: »Man setze den Terror auf die Tagesordnung! Das ist das einzige Mittel, um das Volk wachzurufen und es zu zwingen, sich selbst zu retten.«18 Die griffige Formel verbreitete sich schnell. Mit der Konstituierung der Revolutionsregierung (10.10.1793) wurde die Verfassung vom 24.6.1793 suspendiert und die »grande terreur« eingeleitet, während der bis zum Juli des nächsten Jahres 16 594 Todesurteile gefällt wurden und insgesamt etwa 40 000 Menschen umkamen. Danton hoffte zunächst, die entfesselte Gewaltdynamik mit Revolutionsgerichten in quasi legale Bahnen lenken zu können. Das Gegenteil trat ein. Mit dem »Gesetz über die Verdächtigen« (17.9.1793) war der Weg frei für eine Welle von Denunziationen und Willkürakten.

Die Regierung musste handeln, wenn sie nicht zwischen Gemäßigten und blutrünstigen Ultras zerrieben werden wollte. Robespierre unternahm in zwei Reden den Versuch, die Ambitionen beider Flügel als gleichermaßen schädlich hinzustellen. Er wollte weder die »terreur« durch die »clémence« (»Milde«) ersetzen, noch die »terreur« zur »vengeance« (»Rache«) steigern.19 »Terreur« sollte sich genau in der Mitte dazwischen als Ideologie und Waffe einer Regierung in schwieriger Lage bewähren. »Terreur« wurde zur integrativen Parole für die jakobinische Militanz aus der Mitte. Die Regierung setzte die Tugend ins Zentrum und machte den Terror zu deren wichtigstem Instrument. »Terror« war jetzt das Synonym für »schnelle, unnachsichtige und unbeugsame Gerechtigkeit«20. Die direkte Umsetzung derart abstrakter moralischer Prinzipien in konkretes politisches Handeln war nur um den Preis rigoroser Reduktion der Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich. Die jakobinische Regierung der Mitte agierte als nationales Rasiermesser und mähte links und rechts alles nieder, was sie ebenso willkürlich wie chaotisch als Feind erkennen wollte. Die Differenz zwischen despotischer und revolutionärer Politik verschwand ebenso wie deren Inhalte und Zwecke. Es blieb nur noch ein einziges Mittel übrig – »die heilige Guillotine« (so Jacques-René Hébert, der selbst ihr Opfer wurde) – sowie die Zuflucht zur bloßen Rhetorik im Stile des ciceronischen Quo usque tandem und dem berühmten Satz: »Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei.«21 In seiner letzten Rede vor seiner Hinrichtung beschwor Robespierre ungenannte »Monster« als Schuldige und distanzierte sich vom »abscheulichen System des Terrors und der Verleumdung«22, das er und seine Regierung eingerichtet hatten.

Einer, der den Ruf nach dem »Terror« begrüßt hatte, meinte schon vier Tage nach Robespierres Hinrichtung (27.7.1794): »Der Terror war immer die Waffe des Despotismus.« Ehemalige Gefährten gingen nun zügig dazu über, ihre Verbündeten von gestern als »terroristes«, die Regierung personalisierend als »système de Robespierre« und die ehemalige Regierungsmaxime als »terrorisme« zu bezeichnen; der Neologismus »terrorisme« war von Anfang an negativ besetzt.23 Schnell bürgerte sich für die Zeit der Jakobinerherrschaft, »das höllische Regime« (Joseph Marie de Maistre), die Epochenbezeichnung ›Terrorherrschaft‹ (›règne de la terreur‹) ein.

Terror und Terrorismus im 19. und 20. Jahrhundert

Die Begriffe ›terreur‹, ›terroriste‹ und ›terrorisme‹ wurden umgehend ins Deutsche übersetzt und mit den Wörtern ›Schrecken‹, ›Schreckensmann‹ und Schreckensherrschaft wiedergegeben, aber auch einfach als Fremdwörter übernommen (›Terror‹, ›Terrorist‹, ›Terrorismus‹). Noch lange tauchten die Begriffe kaum in anderen historischen Konstellationen auf, das heißt, sie blieben in der Publizistik, in der Philosophie bei Kant und Hegel wie in der Literatur bei Heine und Büchner reserviert für eine Phase der Französischen Revolution. Eine Ausnahme bildet Marx, der in seiner Schrift über die »Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« dem negativ besetzten »Bourgeoisterrorismus« den positiv verstandenen »roten Terrorismus« entgegensetzte.24

Die marginale Rolle, die die Begriffe ›Terror‹ und ›Terrorismus‹ spielten, spiegelt sich vor allem in den Enzyklopädien und Konversationslexika. Etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an und bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts enthielten Brockhaus’ Konversationslexika zum Beispiel Terror-Artikel von etwa zwei Zeilen Umfang: »Terror: Schrecken, seit der Französischen Revolution auch Schreckensherrschaft, Gewaltherrschaft.«25 Selbst in renommierten Handbüchern wie dem »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« (4. Auflage, 1923) oder der »International Encyclopedia of Social Sciences« (1972) fehlt das Stichwort ›Terror‹.

Zur Bezeichnung politisch motivierter Gewalt wurde im 19. Jahrhundert nicht mit dem Begriff ›Terrorismus‹ operiert, sondern am weitaus häufigsten mit ›Anarchismus‹ und ›Sozialismus‹, gelegentlich mit ›Nihilismus‹. Einzig die oppositionelle russische Bewegung »Narodnaja Volja« (»Volkswille«) verstand ihre Praxis 1879 explizit als »terroristische Aktivität« zur Bekämpfung der Regierung, aber auch zur »Hebung des revolutionären Geistes des Volkes«26. Erstmals nach den Jakobinern bezog sich diese Gruppe wieder positiv auf den »Terrorismus«, den sie als »Selbstverteidigung und öffentliche Verteidigung«27 des Volkes propagierte. In militanten nationalen Bewegungen wie der irischen dagegen spielte der Begriff keine Rolle, obwohl diese Gewalt keineswegs ablehnte.

Die am meisten verbreitete Verwendung von ›Terrorismus‹ im 19. Jahrhundert hatte mit der Französischen Revolution so wenig zu tun wie mit unmittelbarer Gewaltanwendung. Politik, Justiz und Unternehmer bezichtigten sozialdemokratisch und gewerkschaftlich orientierte Arbeiter, die zum Streik oder Boykott aufriefen, des Terrorismus. Man kann insofern von einer metaphorischen Umdeutung des Begriffs sprechen, als in diesem Kontext direkte Gewalt gar nicht vorkam. Schon den gewerkschaftlichen Boykott-Aufruf gegen eine Firma verurteilte das Berliner Kammergericht 1907 mit einer Begründung, die die Gewerbefreiheit gegen das Koalitionsrecht ausspielte und dieses faktisch aushebelte: »Die« – notabene gewaltfreie – »Geschäftssperre ist unzulässig, denn die Gewerbefreiheit hebt die Freiheit des Publikums nicht auf und unterwirft die Handarbeiter nicht dem Terrorismus einer Anzahl von Personen, die sich zu einem Verbande vereinigt haben.«28

Wie peripher der Begriff ›Terrorismus‹ bis zum Ende des Ersten Weltkriegs blieb, zeigen zwei weitere Beispiele. In Arnold J. Toynbees Darstellung der Gräueltaten der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg erscheint der Begriff zwar im Titel – »The German Terror in Belgium« – des 1917 erschienenen Buches, aber im Text taucht er nicht auf. Andererseits brachte eine Berliner Firma 1918 ein »hygienisch-hochstehendes Radikal-Mittel« gegen Mäuse und Ratten auf den Markt und gab ihm den Namen »Terror-Bazillus«29.

Von der Oktoberrevolution bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

Die 1898 gegründete Sozialdemokratische Partei Russlands lehnte den Terror genauso ab wie – zunächst – die Partei Lenins. Von 1905 an bis zur Revolution von 1917 entwickelte Lenin jedoch Marx’ vage Vorstellung von der »Diktatur des Proletariats« schrittweise zu einer politischen Strategie und Parteidoktrin. Terror bildete darin ein Scharnier, um Agitation, Organisation und revolutionäre Praxis zu verbinden. Lenin formte ›Terror‹ zum affirmativen Begriff und rechtlich normierten Kampfmittel im Bürgerkrieg: »Das Gericht soll den Terror nicht beseitigen, […] sondern ihn prinzipiell, klar, ohne Falsch und ohne Schminke begründen und gesetzlich verankern.«30

Was zu Lebzeiten Lenins noch offen benannt wurde und als temporäre Notwendigkeit galt, um den jungen Staat zu sichern, erschien nach seinem Tod euphemistisch verkleidet als »neue Politik der Liquidierung«31. Bevor Stalin jedoch den Terror als Herrschaftsmittel dauerhaft installierte – und gleichzeitig den Begriff tabuisierte! –, brach eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Rolle des Terrors aus. Karl Kautsky sah im Vorgehen der deutschen Reichswehr und der Freicorps beim Januaraufstand 1919 ebenso »blutigsten Terrorismus« am Werk wie in der Praxis der bolschewistischen Revolution und ihrer Parteidiktatur, die fälschlicherweise beanspruchte, die »Diktatur einer Klasse«32 zu sein. Leo Trotzki dagegen verteidigte den »roten Terror« offensiv als unvermeidbar in der Situation des Bürgerkriegs: »Der rote Terror ist staatlicher Terror«, d. h. »Sowjetterrorismus«, der »die Abschreckung« dazu benützt, den Gegner einzuschüchtern: »Die Revolution […] tötet Einzelne und schreckt Tausende ab. […] Die Frage der Form oder Abstufung der Repression ist natürlich keine ›prinzipielle Frage‹. Das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.« Was bei Kautsky als Grund für das Scheitern der Revolution erscheint, wird bei Trotzki zu einer Bedingung für ihr Gelingen – »die terroristische Diktatur«33.

Ohne vorauszusehen, wie exakt die theoretische Erwägung bald ihn selbst, andere Prominente und Legionen von Namenlosen einholte, sprach Trotzki von der Revolution als einem »sehr ernsten Geschichtsprozess«34. Die Revolutionsperiode wurde zum – geschichtsphilosophisch verklärten – Strafprozess. Inthronisierte der Historismus des bürgerlichen Zeitalters die Geschichte als letzte Instanz, die post festum registrierte, was sich durchsetzte, um dieses im Umkehrschluss der Geschichte als Telos einzuschreiben, so verfuhr Trotzki genau andersherum. Er verbuchte im Namen der Geschichte den Terror vorab unter den unvermeidlichen Kosten der Revolution. Die stalinistische Herrschaft brauchte die Metapher »Geschichtsprozess« nur noch wörtlich zu nehmen, um aus Oppositionellen Angeklagte und aus Kritik Delikte zu machen. Nikolai Bucharin akzeptierte in Stalins Schauprozess gegen ihn den justizförmigen Terror als »nackte Logik des Kampfes« und schloss mit Berufung auf Schiller: »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.«35