Buch lesen: «Leirichs Zögern»
Rudolf Habringer
Leirichs Zögern
Roman
Gewidmet allen meinen Geschwistern.
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert
durch die Kulturabteilungen des Landes Oberösterreich
sowie von Stadt und Land Salzburg.
ISBN 978-3-7013-1284-9
eISBN 978-3-7013-6284-4
© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Covergestaltung: Leo Fellinger
Leidenssituationen, deren Grund dem Kind verheimlicht wird, laufen wie eine ständige Frage neben seinem eigenen Leben her und zehren an seiner Substanz. Gelegentlich beschließt das Kind, später der Erwachsene, diese nie beantwortete Frage zum Mittelpunkt seines eigenen Lebens zu machen.
Serge Tisseron, Die verbotene Tür
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
1
Sonntags gegen halb zwei, eine halbe Stunde vor dem Ende meiner Dienstzeit bei Brunch mit Musik, betrat eine Gruppe von Gästen das Lokal. Die Leute kamen aus dem Casino, das sich gleich oberhalb befindet. Ich spielte gerade Beautiful Love, eine Nummer von Victor Young aus den dreißiger Jahren. Über die Struktur des einfach klingenden Songs, der aber so raffiniert aufgebaut ist wie ein Fugenthema von Bach, hatte ich mir früher ausführlich den Kopf zerbrochen. Woody Allen hat die Komposition in seinem Film Verbrechen und andere Kleinigkeiten eingebaut. Ein Mann in beigem Anzug und einer Krawatte, die nicht mehr korrekt saß, kam auf mich zu und deutete mit dem Finger auf mich. Er wollte mit mir sprechen. Kein Musiker mag es, während des Spielens gestört zu werden, als wäre sein Spiel eine beiläufige Angelegenheit, neben der man locker Gespräche führen konnte. Der Mann lehnte sich gegen den Flügel, seine Augen blitzten feucht, im nächsten Moment nahm ich wahr, dass er nach Alkohol roch. Ich merkte sofort, dass seine Ansprache an mich als Auftritt für seine Begleitung im Hintergrund gedacht war. Zwei Paare und eine Frau nahmen eben an einem Tisch Platz. Gleich stand der Aushilfskellner Wieser bei ihnen und nahm die Bestellung auf.
Sag einmal, sagte der Gast, du hast doch sicher auch noch was anderes drauf. Er duzte mich mit der Selbstsicherheit eines Chefs. Wir waren einander vorher noch nie begegnet. Vielleicht war er ein Autohändler oder ein Wurstfabrikant.
Zweimal im Monat spielte ich in dem Café Klavier. Für manche der Besucher war ich vielleicht ein Dienstleister knapp über dem Status Gegenstand, eine Art lebender Wurlitzer, dem bloß ein Knopf fehlte, auf den man drücken konnte. Mir war das egal. Ich spielte vor allem zu meinem eigenen Vergnügen. Kennst du Du hast mich tausendmal belogen, fragte der Mann. Ich zog den Schluss des Songs in die Länge, hörte aber nicht zu spielen auf. Andrea Berg, sagte der Mann, die kennst du doch. Ich zog die Brauen hoch. Jetzt mach aber keinen Schmäh, sagte der Unbekannte. Andrea Berg, Du hast mich tausendmal belogen, du hast mich tausendmal verletzt, sagte er. Jetzt summte er undeutlich ein paar Phrasen, ich bin mit dir so hoch geflogen, doch der Himmel war besetzt, Andrea Berg, wiederholte er. Nix bekannt, sagte er resignierend und schüttelte den Kopf. Ich zuckte mit den Schultern. Jetzt war er frustriert. Im Abgehen rächte er sich. Ich habe geglaubt, ihr könnt was, sagte er. Er drückte sich vom Flügel weg. Noch einmal drehte er sich nach mir um und hob seinen Zeigefinger. Üben, sagte er. Üben.
Am Abend beschloss ich, endlich die Unterlagen für das neue Semester aus dem Vorjahr durchzusehen. Das Einführungsproseminar Was ist Geschichte? hielt ich seit zwölf Jahren im Wechsel mit einem Kollegen. Eigentlich handelte es sich um einen Routinevorgang, eine gedankliche Auffrischung. Ich wollte die Blätter für das Proseminar nur kurz ordnen, mehr nicht. Der Gedanke an den Beginn des Studienjahres hatte mich schon die ganze letzte Woche leise irritiert, ohne dass ich wusste, warum.
Der nächste Tag begann nicht wunschgemäß. Nach dem Aufstehen bemerkte ich, dass ich bis auf ein übrig gebliebenes Stück hartes Brot nichts im Haus hatte, um mir ein Standardfrühstück mit Brot, Butter und Marmelade oder eines mit Joghurt und Früchten zuzubereiten. Ohne Unterlage ging ich aus der Wohnung. Unten an der Haustür bemerkte ich, dass ich die Pfandflaschen im Vorzimmer vergessen hatte. Ich musste in den dritten Stock zurück. Vorsatzgemäß verzichtete ich auf den Lift und ging zu Fuß.
Beinahe hätte ich wenig später nochmals in die Wohnung zurückgehen müssen. Ich stand bereits an der Ampelkreuzung zum Schillerpark, als mich plötzlich ein Schrecken überfiel, weil ich meinen Schlüssel nicht ertasten konnte. Kurz nach Überqueren der Bürgerstraße hielt ich an, um im Rucksack nach ihm zu suchen: Er fand sich in der äußeren Tasche. Für gewöhnlich trage ich den Schlüssel in der Hosentasche, ich konnte mich nicht erinnern, wie er in den Rucksack geraten war.
So früh am Morgen war der Supermarkt noch schwach besucht. Es handelte sich um einen Diskonter in zentraler Lage, der viele Migranten anzog, eine bunt gemischte Klientel, die man der Stadt gar nicht zutraute. Die von mir bevorzugte Verkäuferin, eine junge, schwarzhaarige Frau mit einem gepiercten Nasenflügel, hatte offenbar noch nicht Dienst.
Als ich wieder ins Haus ging, nahm ich die Zeitung aus dem Postfach. Im Stiegenhaus informierte mich ein Blatt lapidar darüber, dass die Hauskasse leer war. Mit dem Geld aus dieser Kasse wurde unsere Putzfrau bezahlt – schwarz.
Beim Frühstück hörte ich (Zerstreuung eins) ein Stück, das ursprünglich Mozart zugeschrieben worden war, neueren Forschungen zufolge nun aber von einem bisher nie gehörten Komponisten stammen sollte, später las ich in der Zeitung, dass in Deutschland, vorwiegend in Asia-Restaurants mit All you can eat-Angebot, Wirte überlegten, Gebühren für übrig gelassenes Essen zu verlangen (Zerstreuung zwei), anschließend drückte ich am Klavier vierstimmige Mollakkorde mit großer Septime in allen Tonarten (den Akkord, den ich für die Dauer dieses Sommers zu meinem bevorzugten gewählt hatte). Diese beiläufige taktile Übung – möglicherweise kämmten andere mit derselben Abwesenheit ihren Hund – wurde abgelöst durch das Hinhören auf ein unregelmäßiges Klopfgeräusch aus dem Geschirrspüler. Als ich den Spüler öffnete, schlug mir heißer Dampf entgegen. Ich nahm eine Bratpfanne heraus, deren Stiel offenbar ein rotierendes Teil an der Umdrehung gehindert hatte (Zerstreuung drei und vier).
Als ich auf die Küchenuhr sah, war es halb elf und ich beinahe zu müde, den Computer einzuschalten. Ich löschte vier Mails ungelesen, ein fünftes, das von der Uni kam, öffnete ich vorerst nicht. Im Internet las ich von zwölf Nahrungsmitteln, die man niemals im Kühlschrank aufbewahren sollte. Der Tipp für Kartoffeln bestand darin, sie in einer Papiertüte an kühler Stelle im Keller oder im Schuppen aufzubewahren. Ich wohnte in einer Mietwohnung mit geheiztem Keller, ohne Schuppen. An dieser Stelle schlug meine Aufmerksamkeit gegenüber verstärkt eindringenden Germanismen in der Sprache an, ein Spleen, den ich schon als Schüler gepflegt hatte und der mir geblieben war. Als ich jung war, hatten wir halt Plastiksackerl gesagt und ein Schuppen im Dorf meiner Kindheit war immer eine Holzhütte gewesen. So veränderte sich Sprache und hatte sie sich immer gewandelt.
Später holte ich mir aus der Küche ein Glas Wasser und legte mich auf die Couch. Obwohl ich mich müde fühlte, flottierten die Gedanken. Seit einiger Zeit führte ich eine sich ständig erweiternde Liste mit alternativen Karrieremöglichkeiten. Von einem isländischen Turnlehrer hatte ich vor vielen Jahren gelernt, dass es immer einen Plan B gab. In letzter Zeit hatte ich ein paarmal vage daran gedacht, meine Existenz als freiberuflicher Historiker zu verändern. Für diesen regelmäßig anflutenden Veränderungswunsch hatte ich mir eine Liste angelegt, die in zwei Rubriken eingeteilt war. Die Idee dazu verdankte ich einem Studienkollegen, der vor Jahrzehnten eine Theorie einer Karriere nach unten entworfen hatte. Der Studienkollege entstammte einer Fabriksarbeiterfamilie und überlegte damals, ob es nicht möglich wäre, als Akademiker seine wissenschaftliche Expertise wieder jenem Milieu zukommen zu lassen, dem er ursprünglich entstammte. Tatsächlich schrieb der Kollege aber eine Dissertation, habilitierte sich schließlich und ist bis heute als Dekan an einer philosophischen Fakultät in Süddeutschland tätig. Gelegentlich, wenn eine öffentliche Auszeichnung für ihn ansteht, lese ich von ihm. Nichts also von einer Karriere nach unten.
Dennoch nahm ich mir sein idealistisches Vorhaben – völlig privat und ohne wissenschaftlichen Anspruch – als Vorbild für meine Liste, in der ich links die Karrieremöglichkeiten nach unten (Schulbusfahrer, Tankstellenmitarbeiter und so weiter, die Liste war ziemlich umfangreich), rechts die nach oben (ordentlicher Professor an einer Uni, Dekan, berühmter Sachbuchautor etc.) aufgezählt hatte.
Ich lag auf der Couch und sah mich als Prokrastinationsexperte in einer der Talkshows am späten Freitagabend im dritten deutschen Fernsehen sitzen, ohne mir im Augenblick darüber klar zu sein, ob ich jetzt als direkt betroffener Experte (Karriere nach unten) auf der Couch saß oder als Wissenschaftler, der über das Phänomen des permanenten Aufschubs von Aufgaben und Vorhaben (das Vokabel Prokrastination hatte ich erst vor wenigen Jahren in meinen Wortschatz aufgenommen) forschte (Karriere nach oben). Möglicherweise und am wahrscheinlichsten traf auf mich sogar der Fall eines prokrastinierenden Wissenschaftlers zu (was den komplizierten Fall einer gleichzeitigen Karriere nach oben und nach unten bedeuten konnte).
Über diesen verwirrenden Überlegungen schlief ich ein. Die Unterlagen für das Proseminar, die ich ohnehin nur auf ihre Vollständigkeit hin untersuchen hatte wollen, blieben im Kasten. Als ich aufwachte und mir Kaffee machte, war es Zeit geworden, mich auf den Vortrag am Abend vorzubereiten.
Abends fuhr ich mit der Straßenbahn in das Pfarrzentrum weit draußen am Stadtrand. Die Veranstaltung sollte im Saal eines in den siebziger Jahren rasch hingebauten Betonkirchenneubaus mit Flachdach stattfinden.
Bis knapp vor der Haltestelle beim Pfarrzentrum hatte ich mich unvermutet in eine meiner Lieblingsbeschäftigungen beim Straßenbahnfahren, eine veritable kulturpessimistische Schelte, hineinfantasiert. Die Fantasie verrichtete gleichzeitig auch eine vorbeugende Wirkung. Erfahrungsgemäß musste ich bei diesen Veranstaltungen immer damit rechnen, dass das Publikumsinteresse für meinen Vortrag mäßig, schlimmstenfalls katastrophal ausfallen würde. Energetisch gesehen musste ich mir meine Kraft für den Abend daher so einteilen, dass neben der Konzentration, die ich für den Vortrag brauchte, noch genügend Energie übrig blieb, geknickte Veranstalter (das war der letzte Vortrag, den ich organisiert habe) aufzurichten und zu trösten.
Irgendwo in einem zentralen Register einer öffentlichen Bildungseinrichtung wurde ich als Referent mit Vorträgen zum Thema Massenmedien geführt. Die Ergebnisse meiner Dissertation, die ich vor knapp dreißig Jahren über die Presselandschaft in Österreich nach dem Krieg verfasst hatte, hatte ich mit neueren Veröffentlichungen zum Umbruch in den Printmedien und Studien über Social Medias zu immer wieder anders zusammengestellten Referaten gemixt. Auf diese Weise hatte ich mir über die Jahre den Ruf eines sogenannten Medienexperten im populärwissenschaftlichen Umfeld erworben, eine Zuschreibung, die mir ein regelmäßiges Zubrot zu meinen bescheidenen Einkünften als Lehrbeauftragter eintrug. Wenigstens hatte ich dank meiner Vortragstätigkeit ein Ableitungsventil für meinen durch Zeitungslesesucht angestauten Pessimismus gefunden. Durch das öffentliche Vor-mich-hinsagen von skeptisch-pessimistisch-apokalyptischen Zukunftsprognosen/-aussagen verschaffte ich mir so von Zeit zu Zeit eine Erleichterung, die sogar honoriert wurde.
Der Abend war besser besucht, als ich befürchtet hatte. Der Altersschnitt der Besucher lag, wie ich überschlagsmäßig noch während des Vortrags berechnete, sogar knapp unter fünfzig. Das Ritual nach meinem Referat sah eigentlich eine Diskussion vor. Weil Fragen aus dem Publikum ausblieben, beschränkte ich mich auf ein paar sarkastische Sätze meinerseits über das absehbare Zeitungssterben in den nächsten Jahrzehnten.
Rasch ging die Versammlung anschließend auseinander und strebte den kleinen Einfamilienhäusern zu, die sich rund um das Pfarrzentrum scharten. Auch der Organisator der Veranstaltung hatte offenbar Eile, mit mir die Formalitäten zu erledigen. Mir fiel zum wiederholten Mal auf, dass Honorarfragen stets diskret und wenn möglich in einem Nebenzimmer mit gesenkter Sprechstimme abgewickelt wurden, als handle es sich dabei tendenziell um etwas Unanständiges. Geld gehört zu den letzten wirklichen Tabus unserer Gesellschaft, sogar wenn es um derartige Kleinsummen geht, die nach solch einer Veranstaltung den Besitzer wechseln.
Gemeinsam mit dem Organisator verließ ich das Pfarrzentrum. Der Mann schloss hinter mir die Tür, setzte sich ans Steuer eines Kleinwagens und verschwand in der Dunkelheit. Leichter Nebel hatte sich gebildet. Er legte sich wie Schweiß auf die Haut und ließ mich frieren. Vor der Veranstaltung hatte ich den Fahrplan der Straßenbahn studiert und mir die spärlichen Abfahrtszeiten am späten Abend eingeprägt.
Auf dem Platz vor dem Pfarrzentrum stand eine ältere Frau mit einem Fahrrad, die offenbar auf mich wartete. Die Frau hatte graue Haare, mir fiel auf, dass sie ein kleines Kreuz um den Hals und silberne Ohrringe trug. Vorher im Saal hatte ich sie nicht bemerkt. Unvermutet sprach sie mich an.
Sie redete sehr leise und nuschelte, möglicherweise nannte sie mir auch ihren Namen, ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, zu nicken, wenn jemand mit mir redete, eine Reihe von Hörtests hatte ich ohnehin schon hinter mir. Ich verstand die Frau erst, als sie sich dafür entschuldigte, mich angesprochen zu haben. Möglicherweise sagte sie auch, sie habe noch ein kleines Anliegen vorzubringen, oder sie formulierte sogar scherzhaft, dass sie einen kleinen Anschlag auf mich verüben wolle. Wie so oft stellte sich bei mir das Gefühl der verwirrenden Gleichzeitigkeit mehrerer Sinneswahrnehmungen ein. Einerseits merkte ich, wie klein die Frau war – ich überragte sie um mehr als einen Kopf, obwohl ich nicht besonders groß bin –, andererseits spürte ich in dem Moment, dass ich hungrig war. Ab und zu kam es vor, dass mich nach einer Veranstaltung der Organisator zu einem Imbiss oder auf ein Glas Wein einlud, hier in dieser abgelegenen Wohngegend war offenbar kein Gasthaus mit Küche in der Nähe. Ich war jedenfalls zu nichts eingeladen worden. Außerdem wurde mir schlagartig klar, dass sich nicht nur der Nebel wie Schweiß auf meine Haut setzte, sondern dass ich tatsächlich durch den Vortrag ins Schwitzen gekommen war. Hoffentlich hatte ich nicht nach Schweiß gerochen, als ich noch ohne Mantel im Saal gestanden war.
Ich wollte Ihnen nur von einem seltsamen Erlebnis berichten, sagte sie, das Sie wahrscheinlich interessieren wird.
Ah ja, sagte ich.
Sie lebe allein in einem kleinen Häuschen in der Nähe und habe wie jedes Jahr kürzlich ihren Keller gründlich gereinigt und unnütze Dinge, die sich dort im Lauf der Zeit angesammelt hätten, aussortiert, sagte die Frau. Ein Bekannter habe ihr geholfen, die Sachen in sein Auto zu verfrachten, um sie abzutransportieren. Vorher habe sie mit dem Mann Kaffee getrunken und sich mit ihm unterhalten. Und, vielleicht werden Sie jetzt lachen, sagte die kleine Frau zu mir, ich erwähnte meinem Bekannten gegenüber auch, dass ich heute Abend zu Ihrem Vortrag gehe.
Ich stand da und hörte zu. Aha, sagte ich und nickte.
Und dann erwähne ich ihm gegenüber auch noch, wer der Referent ist und nenne Ihren Namen, sagte die kleine Frau und wich ein bisschen zurück. In dem Moment sagt mein Bekannter: Ja, den kenne ich. Sage ich: Wieso kennst du den? Sagt er: Weil wir den gleichen Vater haben. Aber wir haben nichts miteinander zu tun. Er weiß gar nichts von mir.
Weil wir den gleichen Vater haben, wiederholte die Frau und lachte leise. Ich habe mir gedacht, vielleicht interessiert Sie das. Sie sind doch Historiker. Mehr habe ich ihm nicht entlocken können, sagte die Frau. Sachen gibt es, sagte sie. Ich habe mir gedacht, ich schreibe Ihnen seinen Namen auf. Sie drückte mir einen Zettel in die Hand. Die Telefonnummer steht auch dabei. Aber jetzt muss ich gehen, Sie haben wahrscheinlich auch noch zu tun. Sie stieg aufs Rad und fuhr davon. Eben hatte es leicht zu nieseln begonnen. Ich stand verblüfft da und sah ihr nach. Ich war im Moment so erstaunt, dass ich nicht weiter reagierte und auch keinen Versuch unternahm, die Frau aufzuhalten oder ihr etwas nachzurufen. Nach wenigen Metern bog sie um eine Ecke und war in der Nacht verschwunden.
Wenig später saß ich in der Straßenbahn Richtung Stadtzentrum. Zwei Jugendliche mit Skateboards waren mit mir eingestiegen, beide trugen ihre Kappen verkehrt auf dem Kopf. Sie setzten sich mir gegenüber. Einer der beiden holte sein Handy aus der Tasche und wischte darauf herum, um seinem Freund etwas zu zeigen. Dann lachten beide meckernd auf. Fett, Oider, sagte der Kleinere der beiden schließlich, was ein neuerliches Meckern auslöste. Dann kam der Moment, wo sie bemerkten, dass ich sie beobachtete. Gleich darauf kicherten sie wieder los, jetzt hatte ich Mühe, ihr Gelächter nicht auf mich zu beziehen. Sie musterten mich, so wie ich sie eben gemustert hatte. Ich wandte den Blick ab und betrachtete mein Spiegelbild im Fenster. Zwei Stationen später stiegen die beiden aus. In der Hand hielt ich noch immer dieses kleine Stück Papier, das mir die Frau in die Hand gedrückt hatte. Ich betrachtete die Buchstaben einer zarten Frauenschrift, die einen Namen und Ziffern auf den Zettel geschrieben hatte: Johann Preinfalk. Mir war kein Mensch dieses Namens bekannt.
Ich war konsterniert. Wie sediert saß ich da. Ich fühlte mich behelligt. Unsittlich betastet. Mit einem fremden Satz traktiert, ausgesprochen von einer mir unbekannten Radfahrerin. Der Satz Weil wir den gleichen Vater haben hüpfte in meinem Kopf wie die Nadel eines Plattenspielers, wenn sie wegen eines Kratzers auf der Scheibe hängen bleibt. Ich habe zwei Schwestern, eine ältere und eine jüngere. Für alle drei von uns stimmte die Aussage: Wir hatten alle den gleichen Vater.
Aber es gab bis zum heutigen Tag keinen männlichen Menschen außer mir, der diesen Satz sagen hätte können. Die Ungeheuerlichkeit, die diese Behauptung beinhaltete, brachte mich völlig durcheinander.
Der weitere Abend zerfiel in drei Teile: in die Nachhausefahrt mit der Straßenbahn (Grübelphase, Infragestellung); in die Ankunft in der Innenstadt (nächtliche, ungesunde Halbsättigung an der Wurstbude am Schillerplatz) und das Eintreffen in meiner Wohnung (Unruhe, Schlaflosigkeit).
Von meinen Studenten war ich es gewohnt, die ungewöhnlichsten Sätze zu vernehmen, meistens ausgefallene Ausreden, warum eine Arbeit nicht fristgerecht fertig geworden war oder eine Prüfung verschoben werden musste. Da starben ununterbrochen Großmütter und entfernte Verwandte, da mussten Haustiere urplötzlich und unerwartet zum Tierarzt gebracht werden (Durchfall, verschluckte Gegenstände), da traten Unpässlichkeiten oder unerklärliche körperliche Beschwerden auf (rasende Kopfschmerzen, Migräne, Eileiter- und Prostataentzündungen, Kopf- kombiniert mit Regelschmerzen), da traten Unfälle und Lebenskatastrophen ans Licht und ins Leben, die es Menschen verunmöglichten, Termine einzuhalten. Nichterscheinen wurde mir meist per E-Mail mitgeteilt, manchmal durch eine telefonische Mitteilung der Institutssekretärin, sehr selten auch per handgeschriebenem Zettel, der an meinem Postfach im Institut hing: Bin beim Augenarzt wegen plötzlichem Erblinden etc.
Auch von meinen Beinahefreundinnen, Kurzzeitfreundinnen, Exfreundinnen und Freundinnen in spe und in nuce hatte sich im Laufe der letzten Jahre eine Liste von Unpässlichkeiten angesammelt, die vorab vereinbarte oder beabsichtigte oder sich eventuell zufällig ergebende sexuelle Handlungen im letzten Moment stoppten: die Monatsregel, Kopfschmerzen, der Besuch einer Mutter, eines Verwandten, eines Zeugen Jehovas, die Vortäuschung eines Verkehrsunfalls, eine versehentlich eingenommene zu hohe Dosis eines Medikaments (vornehmlich Schlafmittel), der Tod eines Haustieres (Wellensittich), ein Wasserrohrbruch, der Einbruch in eine Wohnung, ein Hochwasser, ein Stromausfall, ein Taxifahrerstreik, ein Scheidenkrampf, eine Ischiasnervreizung etcetera.
Der Vorrat auf mich einprasselnder Sätze, die die Lebensfreude augenblicklich beeinträchtigten und knickten, war also lang. Aber ein Satz der Gattung Weil wir den gleichen Vater haben, ausgesprochen von einer Unbekannten, hatte sich in über fünfundfünfzig langen Lebensjahren bisher noch nicht eingestellt. Plötzlich war mein Vater im Spiel. Über ihn nachzudenken hatte ich an diesem Abend nicht wirklich vorgehabt. Mein Vater war zweimal verheiratet und zweimal verwitwet gewesen, hatte drei Kinder gezeugt, soweit mir bekannt war, und dann den Rest seines Lebens alleinerziehend verbracht. Vor mehr als zwanzig Jahren war er verstorben. Möglicherweise hatte die Frau sich wichtigmachen wollen, möglicherweise lag auch eine Pathologie vor. Gelegentlich war ich in der Straßenbahn schon von offenbar Schizophrenen oder Psychopathen angesprochen worden, Menschen, deren Selbstgespräche unvermittelt auf einen Fremden, in dem Fall auf mich, übersprangen.
Dann also der Besuch der Imbissbude am Schillerplatz. Damit brach ich mein Vorhaben, so spät am Abend nichts mehr zu essen. Der Vorfall mit der Frau hatte meine innere Festigkeit ins Wanken gebracht und meinen Vorsatz, Gewicht zu verringern, im Nu pulverisiert.
Die Mahlzeit am Würstelstand (eine Bosna, Weißbrot, gefüllt mit einem currygewürzten Paar Schweinsbratwürstchen) war nichts anderes als ein Rehabilitationsunternehmen zum erlittenen Unbill des Tages: Zur Feier der inneren Versöhnung trank ich auch noch eisgekühltes Bier aus der Flasche. Beim Verzehr der Bosna dachte ich darüber nach, wann ich das letzte Mal das Wort Unbill verwendet hatte und ob es einen Plural dafür gab (ein solcher wäre für diesen Tagesausklang angemessen gewesen): Unbille?
Als ich ins Haus trat, kam mir die Nachbarin, Frau Hüsch, entgegen, die Leute wohnten ein Stockwerk über mir, wir grüßten uns beinahe tonlos. Mir fiel ein, dass wir vor Jahren, als mich mein Freund, Maturakollege und jetzt Psychotherapeut Konrad Mitterbach auf ein Bier besuchte, einen lauten Streit von oben mit anschließenden dumpfen Schlägen vernommen hatten. Die Schlag- und Stoßgeräusche hatten uns aufgeschreckt, sodass wir überlegt hatten, nach oben zu gehen und nachzufragen, ob alles in Ordnung wäre. Kurz überlegten wir sogar, die Polizei zu rufen. Minutenlang saßen wir damals schweigend in der Wohnung und lauschten. Als wir keine Geräuschentwicklung mehr vernahmen, unternahmen wir damals: nichts. Und setzten unser Gespräch fort. Die Hüschs waren zufällig meine Nachbarn, ich hatte sie mir nicht ausgesucht, sie mich nicht. Einzelheiten aus ihrem Privatleben waren mir unbekannt. Ich fiel in die Kategorie passiver Nachbarn, die immer dann in den Zeitungen gescholten werden, wenn jemand wochenlang in einer Wohnung tot herumlag und niemand etwas bemerkt haben wollte.
Ich hatte kaum eine Ahnung, wer in unserem Haus wohnte. Man kannte sich vom Sehen, vom raschen Grüßen, vielleicht von einer der seltenen Hausversammlungen. Ich wusste nichts von den anderen, ich war ahnungslos. Wir ließen einander in Ruhe und stiegen uns im Lift nicht auf die Zehen oder gingen im Stiegenhaus in angemessenem Abstand aneinander vorbei.
In der Wohnung schaltete ich den Fernseher ein und sah in den Spätnachrichten die gewohnten Bilder von den Pressekonferenzen und kleineren Katastrophen des Tages. Ich war schon erleichtert darüber, keine Nachrichten von größeren Unglücken aufschnappen zu müssen: Der Tag war vergangen ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwo demonstrierten in unserer Stadt Menschen, weil ein Park einer Wohnanlage zum Opfer fallen sollte. Das war der Aufreger des Tages. In meinem Kopf aber pochte der Satz, den die fremde Frau heute Abend zu mir gesagt hatte. Ich wusste, dass ich keinen Schlaf würde finden können.
Vorher wurde ich ohnehin von eine Gelse belästigt, die in der Küche um den Lampenschirm kreiste. Ich schloss sofort alle Fenster und machte mich auf die Jagd. Ich bezeichne mich als analogen Gelsenjäger, was bedeutete, dass ich bei der Gelsenjagd weder chemische Waffen noch andere elektronisch-technischen Hilfsmittel verwendete. Seit einiger Zeit benutzte ich eine Adalbert-Stifter-Ausgabe mit dessen Erzählungen, die ich auf einem Flohmarkt günstig erworben hatte. Das Buch war vom Format her nicht zu klein, lag aber dennoch gut in der Hand und wog so viel, dass ausreichend Anpressdruck erzeugt werden konnte. In mehreren leidgeprüften Nächten hatte ich die Wirkung der Adalbert-Stifter-Werkausgabe als Anti-Gelsen-Waffe und Wurfgeschoss vor allem an die Decke erfolgreich und zufriedenstellend ausprobieren können. Der psychologische Effekt, das Ergebnis des Anwurfes, der eigentlich ja ein Aufwurf, besser noch ein Hinaufwurf war, unmittelbar feststellen zu können, war enorm und motivierend. Ein Fehlwurf konnte durch einen erneuten Wurf korrigiert werden, ein Treffer zeitigte sofort einen dunklen, matschigen Fleck an der Decke oder aber, wenn es sich um eine Gelse handelte, die sich bereits an mir vergriffen hatte, einen hellroten Blutfleck. Den Aufpralllärm, der durch den Stifter-Band erzeugt wurde, verrechnete ich als Lärmausgleichskompensation an das Ehepaar Hüsch für vergangene Polterereignisse, die Lärmbilanz zwischen den Apartments schien mir danach ausgeglichen, selbst wenn ich nachts am Keyboard übte, verwendete ich Kopfhörer.
Dieses Jahr konnte als ausgesprochen hartnäckiges Gelsenjahr bezeichnet werden, keine Ahnung, woher mitten in der Stadt diese Horden an Stechmücken kamen, die ihre Existenz ja stehenden Gewässern oder Tümpeln und Regentonnen verdankten. Mit einem gezielten Wurf an die Decke formte sich ein neuer, dunkler Fleck aus Chitin, der die ursprüngliche Körperstruktur der Gelse noch ungefähr erahnen ließ. Ein wenig erinnerte mich der insektide (existierte dieses Wort?) Abdruck an der Decke an die gepressten Pflanzen in meinem Herbarium, das ich vor Jahrzehnten als Schüler der Unterstufe erstellt hatte. Ich lobte mich innerlich für den gelungenen Buchwurf und machte sofort einen kurzen Kontrollgang ins Schlafzimmer, um Ausschau nach weiteren Gelsen zu halten. Als ich das gekippte Fenster schloss, warf ich einen Blick über den Innenhof in die Wohnung schräg gegenüber, in der ich seit einiger Zeit regelmäßig die Bewegungen einer jungen Frau beobachtete, die keine Gardinen zuzog, weil sie das Anbringen von Vorhängen wohl uncool und überflüssig für eine Wohnung ihres Geschmacks fand: Von schräg unten sah ich in die kleine Wohnküche, in der zwar Licht brannte, sich aber im Moment nichts bewegte. Meine beiläufigen Beobachtungen hatten mittlerweile ergeben, dass die junge Frau allein wohnte und keine regelmäßigen Besuche empfing. Wieder zurück in der Küche, beschloss ich, mir noch eine Tasse entkoffeinierten Kaffees zuzubereiten. Für solche Bedürfnisse hatte ich eine Packung Instantpulver gekauft, das nur mit heißem Wasser aufzugießen war. Ansonsten bevorzugte ich Filterkaffee. Im Kühlschrank entdeckte ich, dass keine Milch mehr da war. Für den Fall hatte ich eine Plastikdose mit Kondensmilch parat. Das Öffnen der Dose hatte mir immer schon Schwierigkeiten bereitet, obwohl an ihr der Vermerk kräftig drücken, dann Lasche anheben angebracht war. Außerdem stand in Versalien das Wort PRESS auf der Lasche. Trotzdem war ich schon mehrmals beim Öffnen gescheitert und hatte dann ein spitzes Messer gebraucht, um an die Kondensmilch heranzukommen. Bei dieser nicht ganz ungefährlichen Operation fiel mir mein Kollege Holger Wuttke ein, der mir im Pausenraum unseres Instituts ein YouTube-Video aus den siebziger Jahren gezeigt hatte, in dem ein Direktor einer Kondensmilchdosen-Fabrik kurz nach Einführung des Tetrapak im Fernsehen vor laufender Kamera daran gescheitert war, den Verschluss zu öffnen, und sich mit Milch vollgekleckert hatte.
Die Dose mit der Kondensmilch hatte auf dem Küchentisch einen weißen Ring aus Milch gebildet, den ich ausführlich betrachtete. Ein Insekt, das Milchprodukten nicht abgeneigt war, würde an dieser feingezeichneten Null aus Milch wohl eine abgerundete Abendmahlzeit vorfinden. Eben aber hatte ich das einzige im Raum befindliche Insekt mittels Buchanwurf erledigt.
Spätnachts saß ich vor dem Computer. Ich störte niemanden. Ich ging zu Bett, wenn mir danach war, ich stand auf, ohne den Betrieb der Welt zu stören.
Ich hatte nichts weiter in der Hand als einen Namen, den ich niemals vorher gehört hatte. Weil wir den gleichen Vater haben; wenn dieser Satz stimmte, dann hatte ich soeben erfahren, dass mein Vater noch ein Kind gezeugt hatte, außer uns, seinen ehelichen Kindern. Zuerst dachte ich: noch ein Kind. Dann dachte ich: mindestens noch ein Kind und musste lachen. Die Vorstellung war so absurd wie überwältigend.