Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 88»

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Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-412-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Der Nebel schob sich von Südosten her über den Atlantik, kroch auf das Festland, die „Tierra Firme“ der spanischen Eroberer, zu und duckte sich wie ein gigantisches Schemenwesen tief auf die Wogen der See. Plötzlich, ganz unversehens war er da und schuf dicke, undurchdringlich wirkende Barrieren zwischen den Schiffen des spanischen Verbandes, der sich auf die Küste zu bewegte.

Ricardo Prado stand am Steuerbordschanzkleid auf der Kuhl der Galeone „Santa Barbara“. Seine Miene war verschlossen, seine ernsten grauen Augen beobachteten unentwegt.

„Sieh nur, Carlo“, sagte er zu seinem jungen Landsmann. „Die vier Kriegsschiffe, die unsere altersschwachen Kähne begleiten, verschwinden langsam im Nebel und verlieren die Fühlung mit uns.“

„Unser Geleitschutz“, entgegnete Carlo. Hohn schwang in seiner Stimme mit. „Wie gelangen wir ohne ihn sicher an unser Ziel?“

„Nach Bahia? Willst du denn wirklich dorthin?“

„Keiner will es, Ricardo. Aber wir haben keine andere Wahl mehr. Was willst du tun? Etwa ins Meer springen und kläglich ersaufen? Dich mit denen vom Achterdeck anlegen?“ Carlo lachte bitter auf. „Der Capitan ist ein alter Trottel und reif für die Pensionierung, aber er würde jeden von uns mit Waffengewalt stoppen lassen. Es sei denn …“

„Es sei denn?“ Ricardo Prado hob die Augenbrauen.

„Meuterei“, raunte Carlo. „Das wäre das einzige, was uns weiterhelfen könnte. Wenn wir die Besatzung auf unserer Seite hätten …“

„… wäre noch lange nichts gewonnen“, sagte der Ältere. „Mein Gott, Carlo, während unserer Überfahrt haben wir doch genug Gelegenheit gehabt, diese Burschen einzuschätzen. Es ist ein Lumpenpack. Gesindel, Verbrecher, Galgenvögel, die keine Sekunde zögern werden, uns allen die Gurgel durchzuschneiden, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.“

Carlos Blick wanderte über Deck. Die „Santa Barbara“ hob und senkte ihren knarrenden, wurmstichigen Rumpf in milchig-grünen Fluten. Auf dem schlingernden Oberdeck hatten sich Mannschaft und Passagiere versammelt. Alle – weil man es unter Deck nicht mehr aushalten konnte, weil die Luft dort unten stikkig, fast ohne Sauerstoff und der Gestank unerträglich war. Vor etwas mehr als zwei Monaten hatte die Reise der sechs Schiffe in Lissabon begonnen, und seitdem hatten sich die Bedingungen an Bord von Tag zu Tag verschlechtert.

Frauen hielten schützend ihre Kinder umklammert. Männer, denen das Meer ein fremdes, feindliches Element war, standen am Schanzkleid und schauten angstvoll in die aufgerührte See, und manch einer von ihnen opferte den Fluten.

Und die Mannschaft? Prado hatte recht, es waren ausnahmslos Halunken, die ihren Dienst mit unglaublichem Schlendrian versahen, die meiste Zeit unter dem Einfluß von Wein und Branntwein standen und immer wieder unmißverständliche Blicke auf die Frauen warfen. Einige kannte Carlo mit Namen: Antonio Perez, Augusto Navidad und Pedro Salvez, der das große Wort führte.

Und dann die Senores vom Achterdeck: ein abgetakelter Mittsechziger der Kapitän, verkrachte Existenzen seine Offiziere. Sie paßten auf, daß ihre Waffen geladen und schußbereit waren und hatten ein waches Auge auf die Besatzung. Es war alles in allem das Vernünftigste, was sie tun konnten.

Drüben auf der „San Domingo“ ging es kaum besser zu. Dort hatte ein fieberkranker Bootsmann das Kommando. Es war ein Wunder, daß er die zum Abwracken reife Galeone überhaupt bis hierher gebracht hatte.

„Von mir aus können diese Hunde von Spaniern alle verrecken“, sagte Carlo zu seinem Freund. „Warum bringen sie sich nicht gegenseitig um? Ich würde keinen von ihnen bedauern. Schließlich haben wir sie nicht gebeten, uns in dieses verdammte Land zu schaffen.“

„Nein, das haben wir wirklich nicht“, sagte Ricardo Prado.

Carlo hatte ausgedrückt, was die Portugiesen auf den beiden Galeonen voll Grimm empfanden. Fünfzig Menschen waren auf der „Santa Barbara“ und der „San Domingo“ unter unwürdigsten Zuständen zusammengepfercht worden. Sie sollten die Neue Welt als Pioniere besiedeln – zwangsweise.

Männer, Frauen und Kinder, die willkürlich ihrer Heimat entrissen worden waren, einem Land mit pittoresken Regionen und stolzen, selbstbewußten Bewohnern, die noch voll unverfälschtem Pathos waren.

Sie alle hatten bei den Unternehmungen eines gewissen Vasco da Gama Pate gestanden. Aber ein paar Jahre, bevor dieser aufbrach, um nach Indien zu segeln, hatten ihre Herrscher sich einem anderen Mann mit ähnlichen Plänen verschlossen, einem, den sie Colòn nannten.

Dieser Christopher Columbus hatte sich gekränkt Spaniens Ferdinand und Isabella zugewandt und schließlich an jenem bedeutungsvollen 3. August 1492 im Hafen Palos mit drei Karavellen ankerauf gehen können, um den anderen, westlichen Weg nach Indien zu suchen.

Vielleicht rührte von damals noch die Abneigung der portugiesischen Bevölkerung gegen die Neue Welt her, wie auch immer, selbst heute, im Sommer 1583, war noch eine Kluft zwischen Portugal und Spanien.

Und das, obwohl beide Länder inzwischen vereint waren und der Teilungsmeridian von Tordesillas praktisch keine Rolle mehr spielte. Die Spanier konnten die Portugiesen nicht leiden – und umgekehrt. So verwunderte es nicht, daß die Söhne der spanischen Conquista ihre „Freiwilligen“ für die Besiedlung eines abweisenden und menschenfeindlichen Gebietes südlich des Äquators bei den Portugiesen suchten und daß sie in ein Unternehmen dieser Art so wenig wie irgend möglich investierten.

Deshalb waren die beiden Galeonen erbärmliche Seelenverkäufer und ihre Mannschaften vom Kapitän bis zum letzten Mann der Bodensatz aller Seeleute.

Der Seegang nahm zu. Der auflandige Wind, der die Schiffe in Richtung Bahia drückte, pfiff in den Luvwanten und Pardunen und begann an den alten Galeonen zu rütteln. Der Nebel zog bis auf die Oberdecks und machte es bald unmöglich, von der Kuhl aus überhaupt noch das Achterdeck oder die Back zu erkennen.

Pedro Salvez, ein dunkelblonder Mann mit Stoppelbart und kantigem Gesicht, nahm Augusto Navidad und Antonio Perez beiseite.

„Das ist unsere Chance“, sagte er. „Wir verlieren unseren Geleitschutz aus den Augen. Vielleicht gelingt uns dann noch vor Bahia, was wir geplant haben …“

„Meuterei“, erwiderte Augusto.

„Still“, zischte Antonio. „Willst du, daß der Zuchtmeister uns hört, dieser Hurensohn?“

„Ich habe das Gefühl, wir begehen einen Fehler“, sagte Augusto vorsichtig.

Pedro stellte sich dicht vor ihn hin. „Hör zu. Du kannst aussteigen, wenn du willst, wir finden genug Verbündete an Bord dieses Kahns. Aber ich warne dich. Ein Sterbenswörtchen an die Schweinehunde vom Achterdeck, und du springst über die Klinge.“

„Ich bin auf eurer Seite“, entgegnete Augusto Navidad. „Was denkt ihr denn? Ich will dir nur raten, nicht zu voreilig zu sein, Pedro.“

Salvez’ Grinsen war verschlagen. „Ach so. Dann ist es ja gut, Companero. Ich dachte schon, du wolltest mir ein Messer in den Rücken jagen.“

Der Sturmwind nahm noch mehr zu. Die Wogen bäumten sich zu gischtenden, grollenden Wasserbergen auf, rissen die „Santa Barbara“ und die „San Domingo“ auf ihre Schaumkämme und stießen sie in gähnende schwarze Schluchten.

Die Frauen weinten, die Kinder schrien vor Angst.

Von den vier Kriegsschiffen, die die Galeonen schützen und leiten sollten, war nichts mehr zu sehen. Der Nebel schien sie geschluckt zu haben.

Hasard enterte in den Luvhauptwanten zum Großmars der „Isabella VIII“ auf und hörte unter sich seinen Profos brüllen.

„Sir John! He, Sir John, du Rabenaas, du Stinkstiefel, wo, in aller Welt steckst du denn, du verlauster, zerrupfter Geier? Verdammt, ich zieh dir die Haut in Streifen ab, wenn du nicht sofort wieder aufkreuzt!“

Sehen konnte Hasard Edwin Carberry nicht, denn der Nebel deckte das Oberdeck zu wie ein Bausch aus Gänseflaum. Sir John, der rote Aracanga, hatte mal wieder von Carberrys Schulter abgehoben, um eine Runde um die „Isabella“ zu fliegen. Hatte er im Nebel die Orientierung verloren?

Der Seewolf hatte an Wichtigeres zu denken. Er kletterte über die Segeltuchverkleidung des Großmarses und ließ sich neben Dan O’Flynn und Arwenack nieder. Der Schimpanse leistete Dan wie üblich Gesellschaft. Matt Davies hatte mal gesagt, sie hätten jetzt bald eine gottverfluchte Tierschau und einen Affenzirkus an Bord – dabei hätte er jedem seine Eisenhakenprothese ins Fell gehauen, der Arwenack ein Härchen oder Sir John eine Feder gekrümmt hätte.

„Was ist?“ fragte Hasard seinen Ausguck. „Sag bloß, du hast den schwarzen Segler aus den Augen verloren.“

„Verdammt, ja“, erwiderte Dan. „Dieser elende Mistnebel.“

„Ich hoffe doch, Siri-Tong wird den Kurs halten und in unserer Nähe bleiben.“

„Sie hat bis zuletzt signalisiert, wir sollen auf dem alten Kurs bleiben.“

„Hart am Wind an der Küste entlang, Dan.“

„Aber wir kriegen Sturm, verflixt und zugenäht“, sagte Dan. „Und der wird uns auseinandertreiben. Die Orientierung in dieser Suppe fällt ja so schon schwer.“

„Wir können es nicht ändern“, sagte Hasard. „Jeder von uns muß jetzt eigenständig handeln und zusehen, daß er nicht auf Legerwall geworfen wird. Im übrigen kriegen wir schon wieder Kontakt, sobald sich der Nebel verzogen hat.“ Er schickte sich an, den Großmars wieder zu verlassen, verhielt am Rand aber noch kurz. „Dan …“

„Sir?“

„Haltet die Ohren steif hier oben und krallt euch fest, ich glaube, wir kriegen ein Wetter auf die Jacke, das nicht von schlechten Eltern ist.“

Er hangelte wieder nach unten, sprang vom Schanzkleid auf die Kuhl und hielt nach Carberry Ausschau. Die Gestalt des Profos wuchs plötzlich vor ihm aus dem Nebel, fast prallten sie zusammen.

„Ed, hast du Sir John wiedergefunden?“

„Ho, und ob ich das Mistvieh gepackt habe!“ dröhnte Carberrys Baßstimme. Er streckte Hasard seine Pranke entgegen. Aus der Faust ragte der Kopf des Papageis auf, zwei Knopfaugen irrten verzweifelt hin und her.

„Ed, du zerquetschst ihn ja“, sagte der Seewolf.

Carberry grinste im dichten Milchschleier. „Ach was, das kann das Biest ab. Wenn wir den Sturm aufs Haupt kriegen und er naß wird, muß ich ihn nachher auswringen, aber das übersteht er doch nicht, glaub ich. Also sorgen wir lieber vor.“ Sprach’s und stopfte sich den protestierenden Sir John in die Tasche.

Hasard tastete sich zum Niedergang vor, klomm zum Quarterdeck hoch und suchte das Ruderhaus auf. Ein Blick auf den Kompaß, ein paar knappe Anweisungen an Pete Ballie, den Rudergänger, dann kehrte er wieder an Deck zurück, denn die „Isabella“ begann in der quirligen See zu tanzen und zu schlingern.

„Ed, Manntaue spannen und Sturmsegel setzen!“

„Aye, aye, Sir!“

„Ben!“

„Hier, Sir!“ rief der Bootsmann und Erste Offizier der „Isabella“ vom Achterdeck.

Hasard hetzte zum Achterdeck hinauf. Die Umrisse von Ben, Shane, Ferris Tucker und Old O’Flynn nahmen sich gespenstisch vor ihm aus.

„Wir boxen uns durch den aufziehenden Sturm, danach sehen wir weiter“, sagte Hasard. „Etwas anderes können wir in diesem Nebel vorläufig nicht tun.“

„Der Teufel soll ihn holen“, kam grollend Big Old Shanes Stimme.

„Wir müssen noch aufpassen, daß wir in diesem Schlamassel nicht mit dem schwarzen Segler kollidieren.“

Kurze Zeit später schien sich Shanes düstere Ahnung zu bestätigen. Die „Isabella VIII“ ritt den heranorgelnden Sturm ab. Eine Riesenfaust schien sie zu packen und kräftig durchzuschütteln. Sie schoß auf brüllenden Brechern dahin, raste in Täler hinunter, drohte von herandonnernden Wassermassen untergegraben zu werden – und schoß dann doch immer wieder buchstäblich in letzter Sekunde schwarze, flutende Mauern hoch, um auf neuen Gipfeln zu balancieren.

Hasard hielt sich an einer Nagelbank auf dem Achterdeck fest und überlegte, ob er achtern eine Trosse ausbringen lassen sollte. U-förmig im Schlepp der „Isabella“ gleitend, würde sie dem Schiff mehr Stabilität verleihen. Es war ein alter Trick, den er von seinem Alten, Sir John Killigrew, gelernt und bereits mehrfach angewandt hatte.

Aber er kam nicht dazu, den Befehl zu geben.

Dan O’Flynns Ruf gellte durch das Brausen und Heulen des Wetters: „Deck, ho, Schiff Steuerbord voraus!“

„Gespenster!“ schrie Luke Morgan von der Kuhl her.

„Red keinen Mist!“ brüllte Carberry.

Der Sturmwind hatte die Nebelschwaden hochgewühlt und ein Stück vor sich hergetrieben. Hasard und die anderen auf dem Achterdeck konnten aber durch die sprühende Gischt gar nichts, selbst Smoky und Al Conroy auf der Back kaum etwas von dem erkennen, was vor ihnen lag. Nur Dan, der junge Mann mit den extrem scharfen Augen, war es mal wieder, der sie vor einem Unheil behütete.

„Hart Backbord!“ schrie Hasard Pete Ballie zu.

„Männer braßt an!“ brüllte der Profos. „Wir drehen in den Scheiß-Südost, und wenn die verfluchten Segel killen und knattern, zieht ihr gefälligst die Köpfe ein!“

Ja, sie luvten wirklich in einem haarsträubenden, waghalsigen Manöver an und gingen fast ganz in den Wind, aber nur diese gedankenschnelle Reaktion des Seewolfes bewahrte sie vor dem Zusammenprall mit dem anderen Schiff.

Hasard klammerte sich am Steuerbordschanzkleid fest und schaute in den dahinhuschenden Nebel, als das fremde Schiff an ihnen vorbeizog. Gischt umhüllte ihn und durchnäßte ihn bis auf die Haut. Ein Brecher rollte gegen die „Isabella“ an, hob sie hoch, ließ sie nach Backbord krängen und verwandelte die Decksplanken unter Hasard in eine glitschige, abschüssige Bahn. Und doch hielt er sich und konnte einige Einzelheiten des unbekannten Seglers registrieren, bevor dieser vorbei war und in Gischt, Schaum und Nebel verschwand.

„Ein Spanier!“ rief Hasard seinen Männern zu. „Ein waschechter Don, ich habe seine Flagge erkannt – und dazu noch ein gut armierter. Ein Kriegsschiff, sage ich euch! In ruhigerer See hätte er uns wahrscheinlich gefordert. So aber hatte er genug mit sich selbst zu tun!“

„Und ich dachte, das wäre der schwarze Segler!“ schrie Old O’Flynn von der Nagelbank her, um die er seinen Arm gehakt hatte.

„Seit wann kann Siri-Tong denn hexen?“ fragte Shane. „Sie kann uns doch nicht mitten im Sturm überholt haben.“

„Der ‚Eilige Drache über den Wassern‘ kann noch viel mehr“, orakelte der Alte. „Vergeßt nicht, woher der Kahn stammt, was wir damit schon alles erlebt haben und was noch im weiteren passieren kann.“ Er stieß einen Fluch aus. „Es gibt fliegende Schiffe, Spuklichter und den Fluch des Jonas auf See, aber das ist alles nichts gegen die Hexereien, die die Zopfmänner aushekken.“

Die Erinnerung an das, was sie nach dem Abenteuer bei den Amazonen und Inkas im Amazonas-Delta erlebt hatten, war noch frisch. Wer von ihnen würde jemals vergessen, wie die Männer des plötzlich aufgetauchten Drachenschiffs Siri-Tong und den Wikinger entführt hatten, wie die Vergangenheit der Roten Korsarin aufgedeckt worden war, wie sie fast ihr Leben verwirkt hätte!

Old Donegal Daniel O’Flynn traute Siri-Tong manchmal nicht so recht über den Weg, aber damit tat er ihr unrecht.

„Er hat seine Schrullen“, pflegte Dan über seinen Alten zu urteilen, wenn Old Donegal mal wieder mit seinen Prophezeiungen vom Leder zog. Und jeder Mann an Bord wußte die Worte des Alten richtig zu werten.

Nur eins blieb: der Aberglaube.

Hasard haßte Unkereien, er wandte sich zu Old O’Flynn um und rief: „He, Donegal, sag mir lieber, was den Don in diese Gegend treibt, statt so hohle Sprüche zu klopfen!“

„Der sucht uns, ist doch klar!“ schrie O’Flynn.

„Einer allein?“ rief Ferris Tucker.

„Unsinn, der gehört zu einem Geschwader“, sagte Big Old Shane. „Hölle und Teufel, das heißt, daß wir auch auf die anderen Schiffe stoßen und sie dann alle am Hals haben könnten. Ich schätze, wir müssen mächtig auf der Hut sein.“

Hasard grinste in sich hinein. Daß sie mitten in einen spanischen Kriegsschiffverband geraten waren, hielt auch er für wahrscheinlich. Aber es fragte sich, ob den Dons der Sinn danach stand, sich heute mit ihm anzulegen.

Egal, er hoffte, daß der Spanier ihn erkannt hatte. Das würde ihn und seine Landsleute zu den verrücktesten Mutmaßungen veranlassen. Auch die Dons waren abergläubisch, und vielleicht glaubten sie, einem Geisterschiff begegnet zu sein. Inzwischen mußte es sich herumgesprochen haben, wie dem spanischen Schiffskonvoi geschehen war, der zuletzt auf dem Amazonas nach der „Isabella“ und dem schwarzen Segler gefahndet hatte.

Die „Isabella“ und der „Eilige Drache über den Wassern“ waren samt ihren Besatzungen verschwunden gewesen. In der „Selva“, dem Regenwald, der grünen Fieberhölle verschollen.

Dies war das Verdienst der Versteck-, Tarnungs- und Fallenkünste der Amazonen. Enttäuscht und erbittert waren Hasards Todfeinde wieder umgekehrt, und von Cayenne und den anderen Häfen und Siedlungen an der Ostküste aus hatte die Nachricht über das Untertauchen des Seewolfes ihren Weg genommen.

Hasard glaubte fest daran, noch weiteren Kriegsschiffen zu begegnen. Er nahm sich vor, sie gründlich zum Narren zu halten – soweit der Sturm es zuließ.

Was Dan O’Flynn wenig später aber im verwehenden Nebel sichtete, waren alles andere als massive, gut bestückte Kriegssegler.

Es handelte sich vielmehr um zwei jämmerlich abgetakelte Galeonen, die vor dem Sturmwind trieben. Sie schienen überhaupt nicht mehr manövrierfähig zu sein und waren zum Spielball der Wellen geworden.

„Nun sieh dir das an“, sagte Hasard zu Ben. Er reichte ihm das Spektiv. „Und so was schwimmt noch. Allmächtiger, das Wetter wird sie zerschmettern.“

„Willst du sie verfolgen?“

Hasard schüttelte den Kopf. „Ich glaube, da gibt es wirklich nichts zu holen. Außerdem habe ich im Moment andere Sorgen.“

Die „Isabella“ lag inzwischen wieder hart am Wind, segelte also mit Backbordhalsen auf Steuerbordbug liegend. Der Sturm tobte mit unverminderter Heftigkeit und drohte sie zur Küste zu drängen, so wie die beiden spanischen Galeonen, deren Namen und Bestimmung den Seewölfen nicht bekannt waren.

2.

Mitten im Tosen der Naturgewalten hatten sich die portugiesischen Siedler doch wieder unter Deck der „Santa Barbara“ und der „San Domingo“ zurückgezogen. Ein Mann war außenbords gespült worden, als ein Brecher die „Santa Barbara“ überflutet hatte. Carlo hatte sich in die brodelnde See stürzen wollen, um dem armen Teufel zu helfen. Ricardo Prado hatte ihn jedoch zurückgehalten.

Es gab nicht genügend Halt auf der taumelnden Plattform des Hauptdecks, alle, besonders die Frauen und Kinder, drohten das gleiche Schicksal wie der Schiffbrüchige zu finden. So nahmen sie es in Kauf, wie die Tiere unter Deck zu hocken, in Dreck, üblen Gerüchen und kaum sauerstoffhaltiger Luft, aneinandergeklammert, hin und her geworfen.

Erschüttert sahen Ricardo und Carlo auf die Szene.

„Es ist das Ende“, sagte eine Frau im Donnern der Sturmwogen. „Der Herr stehe uns bei.“

„Vater unser, der du bist im Himmel“, begann eine andere. Die anderen Frauen fielen mit ein, dann stimmten auch die Männer mit in das Gebet ein. Und je wütender Wind und Wasser auf die „Santa Barbara“ einhieben, desto lauter und flehender wurde der Chor der Todgeweihten.

Dona Teresa, eine besonders mutige, stämmige Frau Ende der Vierzig, hielt zwei junge Mädchen an sich gepreßt und strich ihnen über die Köpfe. Die Mädchen weinten hemmungslos. Eine von ihnen kannte Carlo mit Namen, sie hieß Magdalena. An den Namen der anderen erinnerte er sich nicht.

„Ave Maria“, riefen die Frauen. „Ave Maria, barmherzige Mutter Gottes, hilf uns …“

Urmächte richteten sich vor der „Santa Barbara“ auf, Klauen der Finsternis schienen sich nach ihr auszustrecken, dann fiel das Verhängnis mit Brüllen und Tosen über die alte, reparaturbedürftige Galeone her. Ein Schlag traf sie, als hieben Riesen mit Hämmern gegen ihre Bordwände, sie erzitterte bis in die letzten Verbände.

Männer, Frauen und Kinder schrien auf, bevor sie durcheinandergewirbelt wurden. Sie hörten nicht auf, „Ave Maria“ zu rufen. Sie klammerten sich in der Stunde des Todes nur noch fester aneinander, bekannten ihre Sünden, flehten um Gnade und Erbarmen.

Carlo stieß sich den Hinterkopf an einem Balken. Es dröhnte in seinem Schädel, fast schwanden ihm die Sinne. Er wußte nicht, wo Ricardo war, was aus Dona Teresa und Magdalena und dem anderen Mädchen geworden war, er sah nur eine düstere, wogende Masse aus Leibern vor sich, hörte das Geschrei und das Heulen aller Dämonen der Hölle, das Orgeln von Höllenstürmen, und er glaubte, gleichzeitig Bronzeglocken dröhnen und die Apokalyptischen Reiter galoppieren zu hören.

Auf dem Höhepunkt des rasenden Infernos splitterte und krachte der Rumpf der „Santa Barbara“ ohrenbetäubend. Alles brach zusammen, alles versank in erlösender Finsternis.

Die Küste, dachte Carlo nur noch, Riffe …

Er glitt auf einer schwarzen Rutschbahn geradewegs in den Höllenschlund, ein letzter Gedanke gab ihm ein, daß dieses Abtreten von der großen Weltbühne genauso war, wie er es sich in seinen finstersten Ahnungen immer vorgestellt hatte.

Carlo tauchte in die Hölle ein, aber sie war nicht heiß, sondern kalt und ernüchternd. Er drehte sich, arbeitete mit Händen und Füßen wie ein verzweifelter, in den Fluß geworfener Hund, gewann Auftrieb und schoß nach oben. Konturen glitten an ihm vorbei, Düsteres, Undefinierbares – Felsen? Wrackteile? Menschen?

Er geriet mit dem Kopf über Wasser, schnappte japsend nach Luft und griff instinktiv nach dem ersten Gegenstand, der ihm zwischen die Finger geriet. Es war ein Stück Schiffsbalken, morsch und verrottet wie alles auf der „Santa Barbara“. Für Carlo war er ein Geschenk des Himmels. Er klammerte sich an dem Holz fest und trieb im Sturm dahin.

Wohin? Er wußte es nicht.

Ein menschlicher Kopf tauchte neben ihm aus den Fluten hoch. Carlo gewahrte ein schlankes Gesichtsoval mit feingeschnittenen Zügen und langen schwarzen Haaren.

„Magdalena“, stieß er aus. Er streckte die Hand aus, rief noch einmal ihren Namen, dann griff sie zu.

In ihrer Not riß sie ihn fast von dem Balken weg, aber Carlo hatte die Geistesgegenwart, keinen von beiden loszulassen – weder den Balken noch das Mädchen. Er zerrte Magdalena mühselig zu sich heran, dann schossen sie zwischen Wogenhängen und brüllenden Schlünden dahin und stammelten ihr „Ave Maria“.

„Wir sterben“, stieß Magdalena aus.

„Wir schaffen es“, keuchte der junge Mann.

„Bis nach Bahia?“

„Bis nach Bahia.“

„Ave Maria“, rief sie schluchzend. „Gib, daß es wahr wird!“

„Magdalena – ich sehe Land!“

„Du bist verrückt, Carlo.“

„Ich sehe wirklich Land, eine Insel!“

„Ich erkenne nichts!“

„Gib, daß es kein Trugbild ist“, keuchte Carlo. Dann blickte er mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf einen Brecher, der grollend und stampfend genau auf sie zurollte.

Pedro Salvez spuckte Seewasser und Verwünschungen aus, ging unter, tauchte wieder auf und brüllte vor Wut und Verzweiflung. Er war überzeugt, daß sein verfluchtes Dasein ein Ende gefunden hätte. Er glaubte nicht mehr an Rettung und an die Pläne, die er sich so fein ausgemalt hatte.

Röhrend stieß ihn das Meer vor sich her und trieb ihn ins Ungewisse. Wo die anderen, seine Kumpanen, waren, wußte er nicht, nur eines hatte er in allen Einzelheiten miterlebt – wie nämlich die „Santa Barbara“ und die „San Domingo“ auf Riffe gelaufen und zerschellt waren.

Riffe – wie weit waren sie von der Küste entfernt?

Gab es noch eine Chance, bis dorthin zu gelangen?

Pedro Salvez hatte die Hoffnung aufgegeben. Nur sein Selbsterhaltungstrieb suggerierte ihm noch, nicht mit dem Schwimmen auszusetzen, sich nicht dem vernichtenden Element auszuliefern.

Aber urplötzlich fühlte er Widerstand unter seinen Füßen. Ein Brecher donnerte heran, türmte sich in seinem Rücken auf, rollte über ihn weg und schmetterte ihn auf festes Land.

Land – Salvez lag bäuchlings für einen Moment auf flachen Sand gepreßt, dann kam er wieder hoch und spie das Wasser aus, das er geschluckt hatte. Aber er lachte. Er lachte wie ein Verrückter, watete im fußhohen Wasser voran und sah unter den gleitenden Nebelstreifen Land liegen, Land! Die Wogen hatten verhindert, daß er es vorher erspäht hatte, aber jetzt hatte er es erreicht.

Kichernd taumelte er durch die Brandung. Die heftigen Unterwasserströmungen packten seine Fußknöchel und brachten ihn erneut zu Fall, aber er hörte nicht auf zu lachen.

Das Wasser wollte verhindern, daß er aufs Trockene lief, wollte ihn zu sich zurückzerren und vertilgen. Pedro Salvez stieß die lästerlichsten Flüche aus, kroch, lief, fiel, arbeitete sich knurrend voran. Der Kampf mit der Natur verwandelte ihn in eine rasende Bestie.

Dann, endlich, brach er erschöpft auf dem Ufersand zusammen, dort, wo die Brandung ihn nicht mehr packen konnte. Er drehte sich auf den Rücken. Sein Atem ging flach und keuchend. Der Südostwind blies über ihn weg und schleuderte ihm Sand und Salz ins Gesicht, aber es kümmerte ihn nicht.

Etwas berührte seine linke Hand.

Salvez fuhr zusammen, hob den Kopf, drehte sich – und blickte seinem Kumpanen Augusto Navidad ins Gesicht.

Navidad war ein etwas untersetzter Mann mit verlebtem Gesicht und großen dunklen Augen. Sie waren noch größer als gewöhnlich, diese Augen, sie spiegelten das Entsetzen, das ihm in den Knochen steckte.

„Augusto“, sagte Salvez. Er hatte sich bereits wieder gefangen, er brauchte weniger Zeit dazu als der etwas phlegmatische Navidad. „Wir haben’s geschafft, Augusto, wir leben, kapiert?“

„Ja.“

„Wo sind die anderen – Antonio Perez und die, die mit auf unserer Seite stehen?“

„Ich weiß nicht …“

Pedro wandte den Kopf und suchte mit dem Blick den Strand ab. Jäh verharrte er. „Da! Da bewegt sich was im Wasser. Wer sagt denn, daß außer uns alle anderen verrecken müssen, he? Los, Augusto, beweg dich, du Bastard, wir wollen doch mal sehen, ob wir ein paar von den unseren an Land ziehen können.“

Mit torkelnden Schritten liefen sie gegen den Wind an und suchten hart an der kochenden Brandung nach dem, den Pedro soben gesichtet hatte.

Schließlich entdeckten sie ihn wieder und brüllten ihm zu: „Heda, Hombre, hierher!“

Der Mann schleppte sich ein Stück weiter auf sie zu, gab dann aber einen würgenden Laut von sich und brach zusammen. Pedro stolperte zu ihm, packte ihn an seiner zerfetzten Kleidung und schrie: „Augusto, hilf mir, du Hundesohn, das ist einer der Decksleute der ‚San Domingo‘!“

Mit vereinten Kräften schleiften sie ihn auf den Ufersand. Pedro Salvez warf ihn auf den Rücken und gab ihm zwei Ohrfeigen, damit er zu sich kam.

„Der Teufel soll dich holen“, sagte der Gerettete, als er die Augen aufschlug.

Pedro schnitt eine Grimasse. „Du Halunke, dankst du es mir so, daß ich dich aus der Brandung geholt habe?“

„Du warst das? Verdammt, ich nehme es ja schon zurück.“

„Wie heißt du?“ fragte Augusto Navidad.

„Lucio.“

„Lucio, richtig“, sagte Pedro. „Was ist mit deinen Freunden geschehen, mit den Passagieren, mit den Dreckskerlen vom Achterdeck?“

Lucio wischte sich mit der Hand über den Mund. „Einige sind ersoffen, darunter der Bootsmann, dieser fieberkranke Hund.“

„Um den ist es nicht schade“, sagte Pedro. „Je mehr von diesen arroganten Kerlen absaufen, desto besser. Du erinnerst dich doch an unseren gemeinsamen Pakt, Lucio? Sobald wir unseren Bestimmungsort erreichen und den Geleitzug los sind, wollen wir meutern.“

„Ja. Ich bin dabei.“

„Es bleibt bei der Abmachung. Wir lassen uns nicht mehr herumkommandieren. Wenn jetzt noch jemand auftaucht und glaubt, er könne uns seine verfluchte Disziplin einbleuen, der hat sich getäuscht.“

„Da!“ rief Augusto. „Das ist ja unser Kapitän!“

Pedro und Lucio fuhren gleichzeitig hoch und schauten in die von Augusto angegebene Richtung. Etwas weiter südlich taumelte ein Mann gebückt über den Strand. Seine nur noch in Fetzen erhaltene Uniform, seine Statur und sein Gebaren wiesen ihn unverkennbar als den Kapitän der „Santa Barbara“ aus.

„Nichts wie hin“, zischte Pedro. „Dem werden wir’s jetzt mal zeigen.“

Sie rafften sich vom Boden auf und begannen zu laufen. Lucio fuhr aber unversehens wieder herum, als er eine Bewegung hinter sich bemerkte und jemand mit rauher Stimme rief: „He, Companeros, Kameraden – wartet doch auf mich!“

Auch Pedro und Augusto blieben stehen und drehten sich verblüfft um. Salvez stand gebückt und streckte den Kopf vor. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen.

„Träum ich?“ stieß er hervor. „Oder ist diese eingeweichte Lumpengestalt wirklich Antonio? Komm her und laß dich ans Herz drücken, du alter Hurensohn!“

Antonio Perez lachte, stolperte, stürzte fast, fing sich aber wieder. Er torkelte auf Pedro zu und fiel ihm um den Hals. Lachend klopften sie sich auf die Schultern. Sie waren zwei skrupellose, brutale Schufte, die sich von Anfang an an Bord der „Santa Barbara“ bestens verstanden hatten und die eigentlichen Urheber der Meuterei-Idee waren. Ein Herz und eine Seele. Augusto hatte sich ihnen eher zögernd angeschlossen, andere wieder waren inzwischen von dem gleichen fanatischen Eifer besessen wie Pedro und Antonio.

Meuterei! Mord!

„Kommt!“ rief Pedro. Er stürmte ihnen voran und führte sie direkt auf den Kapitän der „Santa Barbara“ zu.

Der Mann lag, vor Erschöpfung bewußtlos zusammengesunken, mit dem Gesicht und Bauch nach unten auf dem Strand. Pedro verhielt mit einem triumphierenden Laut neben ihm. Seine Züge verzerrten sich zu einer Fratze, seine dunkelblonden Haare flatterten im Sturmwind. Er wirkte in diesem Augenblick wie der Leibhaftige höchstpersönlich.

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Altersbeschränkung:
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Umfang:
110 S. 1 Illustration
ISBN:
9783954394128
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Rechteinhaber:
Bookwire
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