Seewölfe - Piraten der Weltmeere 76

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 76
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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-393-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

1.

„Schlag zu!“

Rolando Garcia y Marengo sagte es laut, aber ohne jegliche Emotion. Gelassen, die Beine leicht abgewinkelt und die Arme vor der Brust verschränkt, so stand er an der vorderen Schmuckbalustrade des Achterdecks und blickte auf die Kuhl.

Die komplette Mannschaft seiner „Libertad“ hatte sich dort versammelt, um der Züchtigung beizuwohnen. Das gemeine Schiffsvolk, wie er diese Männer zu nennen pflegte.

Er verachtete sie. Er schikanierte sie, wo und wann er konnte, weil er nur so seine Position als Kommandant des kleinen Geleitzuges halten und festigen konnte – meinte er.

Juan Maria Ortuno, der erste Offizier, war hinter ihn getreten. Er war ein ziemlich junger Mann mit markanten Zügen und sicherem Auftreten, einer von der schneidigen Sorte.

„Der Profos zögert“, sagte er. „Er scheint Skrupel zu haben.“

Die Augen des Kommandanten wurden schmal.

„Schlag zu, Buacel!“ rief er seinem Stockmeister unten auf der Kuhl noch einmal zu. „Auf was wartest du, du Hund?“

Buacel nickte. Er schwitzte. Aber es war nicht die Sonne der Karibik, die ihm zusetzte. Es war sein innerer Zustand.

Die Mannschaft umringte ihn im Halbkreis, aber er sah keinen von den Burschen an und schaute auch nicht zu Rolando Garcia y Marengo, dem ersten Offizier und den anderen Offizieren zum Achterdeck hoch. Er blickte nur auf den halbnackten Mann unter ihm und versuchte, sich so etwas wie Wut auf ihn einzureden.

„Libertad“ hieß diese Galeone Seiner Majestät, König Philipps II. von Spanien, „Freiheit“. Aber dieser Name war der reine Hohn, denn was das Prinzip vom Zuckerbrot und der Peitsche betraf, so hatte der Kommandant nur letztere gewählt, um sich den nötigen Respekt zu verschaffen.

Dicht neben Buacel standen der bullige Arnoldo, der hagere Jorge und Laverda, einer, der immer hämisch zu grinsen pflegte – auch jetzt. Sie befanden sich in vorderster Reihe. Schweigend schauten sie dem verdammten Schauspiel zu. Aber Buacel wußte ganz genau, daß sie sich am liebsten auf ihn gestürzt hätten.

Hinter ihnen drängten sich die anderen, rund zwei Dutzend Männer. Viel zu wenig für das große, schwer beladene Schiff. Ja, sie war total unterbemannt, die „Libertad“, und bei den anderen vier Galeonen des kleinen Konvois war es nicht viel besser.

Nur zwei oder drei Männer reckten die Hälse, um von hinten besser sehen zu können. Das Gros spuckte heimlich aus und fluchte, denn keiner hatte dabeisein wollen, wie einer von ihnen ausgepeitscht wurde. Aber Rolando Garcia y Marengo hatte es so angeordnet.

Buacel hob die neunschwänzige Katze.

Drohend verharrte sie einen Augenblick in der Luft, dann sauste sie auf den Rücken des Verurteilten nieder.

Seine Kameraden hatten ihn halb ausziehen und auf der Kuhlgräting festbinden müssen. Mit dem Bauch nach unten. So fest, daß er keinen Finger mehr rühren konnte. Der Kommandant hatte es befohlen.

Die Lederstriemen der Peitsche klatschten auf den bloßen Rücken. Der Mann brüllte auf. Er hieß Santino. Juan Maria Ortuno hatte ihn beim Stehlen in einer der Vorratskammern erwischt, und dann hatte Garcia y Marengo diese drakonische Strafe verhängt.

Auf dem Achterdeck stieß der Kommandant einen verächtlichen Laut aus. „Hört euch diesen Weichling an. Gleich beim ersten Hieb fängt er an zu schreien, dabei hat er noch neunzehn zu schlucken.“ Er hob die Stimme. „Hombre, du bist ein Feigling! Ein altes Waschweib, kein Seemann! Schämen solltest du dich!“

Santino lag mit zusammengepreßten Zähnen da. Tränen der Wut standen in seinen Augen.

„Mach weiter, Buacel“, zischte er. „Ich werde nicht mehr schreien, keinen Ton geb ich mehr von mir, ich schwör’s dir.“

Und Buacel hieb wieder zu.

Garcia y Marengo hob den Kopf und schob dabei das Kinn etwas vor. Seine Augenbrauen hatte er leicht hochgezogen, sein Blick glitt wie gelangweilt über die prall gebauschten Segel des Schiffes. Es war eine Geste größter Überheblichkeit, eine Demonstration von Arroganz und uneingeschränkter Macht und zugleich Selbstdarstellung. Er, Kapitän Rolando Garcia y Marengo, Befehlshaber über diesen Konvoi, duldete keine Unbotmäßigkeiten an Bord, und handelte es sich auch um die geringsten Kleinigkeiten.

Wieder und wieder klatschte die Geißel auf Santinos Rücken. Aber er schrie nicht mehr. Er gab keinen einzigen Wehlaut mehr von sich. Beim zwölften Hieb wurde er besinnungslos. Arnoldo, der Bullige, stöhnte vor ohnmächtiger Wut. Die Mannschaft stand mit verzerrten Mienen.

„Fester!“ rief Garcia y Marengo Buacel zu. „Besorge es ihm ordentlich, oder ich lasse dich auch noch auspeitschen, du Bastard!“

Buacel duckte sich unter diesen Worten. Der Schweiß lief ihm in Rinnsalen den Körper hinab. Er befand sich im schwersten Konflikt mit sich selbst, denn innerlich hielt er mehr zu der Besatzung als zu jenem bornierten Schuft oben auf dem Achterdeck. Aber er mußte sich beugen. Meuterei? Daran war gar nicht zu denken. Die Offiziere hatten die Hände auf den Kolben ihrer Pistolen und warteten fast darauf, daß so etwas ausbrach. Sie würden jeden Aufstand im Ansatz ersticken.

Buacel wußte, daß Widerstand sinnlos war. Also schlug er zu. Was blieb ihm anderes übrig?

Noch heftiger als zuvor tanzten die Lederriemen der Gerte über Santinos Rücken.

„Das Klauen wird dem Kerl vergehen“, sagte Rolando Garcia y Marengo zu seinem ersten Offizier. „Und so wie ihn lasse ich jeden dieser Halunken durchwalken, der sich einbildet, solche Extratouren reiten zu können.“

„Verdient hätten sie’s alle“, erwiderte Ortuno schadenfroh. „Sie sind Bastarde. Der Abschaum der Menschheit.“

„Man sollte sie alle hinrichten“, sagte der Kapitän.

„Aber wir brauchen sie …“

„Leider. Und sie sind noch viel zu wenig, diese Teufel.“

„Wir hätten noch mehr Leute pressen sollen“, sagte Ortuno. „Es ist unsere heilige Pflicht gegenüber der Krone, den Geleitzug sicher nach Havanna zu führen.“

Garcia y Marengo wandte sich ihm zu und musterte ihn kalt. „Wem sagst du das, du Aufschneider? Hältst du mich für einen Narren?“

„Um Himmels willen, nein, Senor“, beeilte sich Ortuno zu versichern. „Ich meinte nur, es wäre gut, die Mannschaft zu vergrößern.“

„Jetzt noch? Wie denn? Willst du irgendeine verfluchte Insel anlaufen und ein paar stinkende Indianer zusammentreiben? Erstens ist es unter unserer Würde, diese Tiere an Bord zu nehmen, außerdem verstehen sie nichts von der Seefahrt.“

„Wir könnten uns nach Hispaniola wenden. Dort finden wir Weiße, die wir für unsere Zwecke pressen können.“

„Kein schlechter Gedanke, aber wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“ Der Kapitän blickte wieder zur Kuhl hinunter. Dort hatte Buacel mit dem Auspeitschen aufgehört. Der Seemann Santino hatte seine Strafe abgebüßt, aber damit gab sich Garcia y Marengo noch nicht zufrieden.

Er suchte förmlich nach einem Vorwand, Santino noch weiter zu traktieren und zu erniedrigen.

Vollgestopft mit Eßbarem hatte sich dieser Bastard, und dann hatte er sich auch noch die Taschen mit Proviant aus der Vorratskammer gefüllt, um die Kameraden zu versorgen. So hatte Ortuno ihn ertappt. Für den Kapitän war es eine fluchwürdige, zutiefst zu verabscheuende Tat, waren doch die Nahrungsmittel an Bord der „Libertad“ ohnehin knapp bemessen.

So knapp, daß die Rationen für die schwer arbeitende Mannschaft einfach nicht ausreichten. Überdies war die Qualität der Verpflegung miserabel. Aber diese Tatsachen unterschlug Rolando Garcia y Marengo auch sich selbst gegenüber, sie belasteten nur unnötig sein Gewissen.

„Ortuno“, sagte er zu seinem Ersten. „Geh nach unten und jage dieses Drecksvolk weg. Ich will es nicht mehr sehen. Buacel soll einen Kübel Seewasser über dem Verbrecher ausleeren, damit der Hund zu sich kommt.“

Ortuno salutierte zackig, stieg den Niedergang zur Kuhl hinunter und gab seine barschen Anweisungen. Es erfüllte ihn mit Befriedigung, die Mannschaft auseinanderspritzen und verschwinden zu sehen. Wie die Kerle parierten! Der Kapitän sollte zufrieden mit ihm sein und keinen Grund zur Kritik finden. Einzig und allein das war für Juan Maria Ortuno wichtig. Nur solange er kompromißlos unterwürfig und brutal die Befehle Garcia y Marengos befolgte, durfte er oben auf dem Achterdeck auch mal ein Wörtchen mitreden.

Buacel hatte Seewasser in einem Holzkübel von außenbords heraufgezogen. Jetzt eilte er heran, baute sich breitbeinig vor dem immer noch festgeschnallten Santino auf und goß das Naß auf Ortunos Wink hin über dem armen Teufel aus. Es deckte den zerschundenen Körper ein, rauschte über Deck und lief durch die Speigatten wieder ab.

 

Der Kapitän stelzte den Niedergang hinunter.

Santino war zu sich gekommen. Er hielt die Zähne immer noch zusammengebissen und blickte durch einen nebelartigen Schleier. Das Salz brannte in seinen Wunden.

Garcia y Marengo drehte sich neben der Kuhlgräting um und schaute ihm in die Augen. Er las kalten Haß darin. O ja, Santino hätte sich sehr wohl auf ihn gestürzt, wenn er gekonnt hätte.

„Du Hund“, sagte der Kapitän. „Dein Widerstand und deine Aufsässigkeit sind immer noch nicht gebrochen. Glaubst du, du kannst mir etwas vorheucheln?“

„Nein“, sagte Santino kaum verständlich.

Garcia y Marengo fuhr zu seinem Ersten und dem Profos herum. „Ihr habt es gehört. Das Schwein hat mich beleidigt. Das ist ungeheuerlich.“

„Si, Senor“, erklärte Ortuno prompt. „Ich habe es auch vernommen. Ganz deutlich.“

„Senor“, sagte Buacel. „Ich …“

„Was willst du?“ fragte der Kapitän. Sein Gesicht hatte einen verschlagenen, lauernden Ausdruck angenommen. „Sprich ruhig weiter.“

Buacel ließ eine Art Seufzer vernehmen. „Ich wollte nur fragen, ob ich den Mann weiter auspeitschen soll.“

„So billig kommt er nicht davon“, entschied Garcia y Marengo. „Seine Dreistigkeit ist unglaublich. Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Ein Exempel muß statuiert werden.“

„Knüpfen wir ihn an der Großrahnock auf“, sagte der erste Offizier.

Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist zu wenig. Ich erwarte einen besseren Vorschlag, Ortuno. Laß dir was Originelles einfallen, zum Teufel noch mal.“

„Kielholen.“

„Ich beginne an deiner Intelligenz zu zweifeln, Ortuno.“

Juan Maria Ortuno trat jetzt auch der Schweiß auf die Stirn. So wie dem Profos. Krampfhaft dachte er nach und verlagerte dabei das Körpergewicht von einem Bein auf das andere.

„Ich hab’s“, sagte er schließlich. „Wir setzen ihn in dem kleinsten Beiboot aus, das wir mitführen. Wir können es entbehren. Der Zimmermann soll den Boden des Kahns anbohren. Der Schurke hier wird gefesselt, damit er sich nicht bewegen kann. Und dann, wenn wir ihn los sind, kann er raten, welche Todesart eher eintritt, das Ertrinken oder das Zerreißen durch die Tiburones, die Haie.“

Der Kapitän lachte. „Sehr gut. Wir brauchen jeden Mann an Bord, aber auf Diebe, Mörder und Rebellen müssen wir verzichten. Es soll den anderen eine Lehre sein. Buacel!“

„Senor?“

„Verfrachte diesen Delinquenten in das Beiboot und fiere es ab. Ich lasse das Schiff in den Wind gehen, damit wir an Fahrt verlieren und die Nußschale nicht gleich umkippt, wenn sie im Wasser aufsetzt. Ich will nicht, daß dieser Hund sofort absäuft, verstanden? Sobald er treibt, kappst du die Vorleine, die das Boot hält. Und daß du mir nicht vergißt, den Boden anbohren zu lassen, sonst lasse ich dich zur Abwechslung mal fesseln und dir das Fell gerben.“

Buacel hatte nicht übel Lust, diesem Sadisten von einem Kapitän die Neunschwänzige durchs Gesicht zu ziehen. Aber er bezwang sich. Er sah, daß Ortuno die Hand auf die kostbare Radschloßpistole in seinem Gurt gelegt und den Hahn bereits gespannt hatte.

Nein, Buacel wollte nicht sterben. An diesem Vorsatz änderte auch der flehende Blick nichts, den Santino, der Todeskandidat, ihm zuwarf.

Die „Isabella VIII.“ hatte einen neuen Schiffsjungen, einen richtigen Moses, der erst fünfzehn Jahre alt und „noch nicht ganz trocken hinter den Ohren“ war, wie Edwin Carberry das ausdrückte. Der Junge hieß Bill. Er nahm Dans alten Platz ein, aber das änderte nichts an Dans Funktion als bester Ausguck.

So hockte Dan O’Flynn nach wie vor im Großmars und ließ seine adlerscharfen Augen nach allen Seiten schweifen. Er fand, daß Bill ein feiner Kerl war, aber er wäre eifersüchtig auf den Neuling geworden, wenn dieser ihm den luftigen Posten streitig gemacht hätte.

Dan blickte zu Arwenack, der ihm gegenüber auf der Segeltuchverkleidung des Großmarses saß. Der Schimpanse leistete ihm Gesellschaft wie meistens. Sie waren so gut wie unzertrennlich geworden. Arwenack hatte, bevor er aufgeentert war, der Kombüse einen Besuch abgestattet und etwas von seinem Lieblingsfutter ergattert: getrocknete Weintrauben. Aus den Geheimvorräten des Kutschers.

Rosine um Rosine schob Arwenack sich zwischen die Zähne. Ganz uneigennützig bot er auch Dan ein paar von den süßen Dingern an, aber Dan schüttelte den Kopf.

„Nein, danke, das süße Zeug mag ich nicht. Bin mehr für handfeste, herbe Sachen. Rotwein, Rum, Bier.“

Arwenack traf Anstalten, wieder nach unten zu sausen, aber Dan hielt ihn zurück. „Laß das bloß. Ist ja nett von dir, daß du was zu trinken besorgen willst. Aber das Saufen im Dienst gestattet Hasard nur, wenn er es selbst angeordnet hat. Und ich will keinen Ärger mit dem Seewolf, kapiert?“

Arwenack nickte so ernsthaft, als hätte er wirklich verstanden.

Dan schickte wieder seinen Blick in die Runde. „Tja, scharfe Augen muß man haben, dann ist man dem Gegner immer um Längen voraus. Ich sage dir, nichts ist mehr wert als ein anständiges Paar Glotzwerkzeuge, mein Junge.“

Arwenack legte die eine Vorderpfote abschirmend über die Augen, blähte die Lippen und plierte angestrengt nach Norden – dorthin, wo die Windwardpassage lag.

Dan bemerkte es und lachte. „Gib dir keine Mühe, du siehst ein anderes Schiff ja doch erst, wenn es auf eine Kabellänge heran ist.“

Empört begann der Affe zu schnauben. Irgendwie entnahm er dem Tonfall Dans, daß die Bemerkung abwertend war.

Dan hob die Hand. „Schon gut, sei, nicht gleich beleidigt. Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil.“

Worauf Arwenack die Zähne zeigte. Er zog dabei die Mundwinkel in die Höhe und ahmte wirklich großartig das Grinsen eines Menschen nach. Anschließend schob er sich wieder eine Rosine auf die Zunge und zerdrückte sie.

Dans Gestalt straffte sich plötzlich. Er hatte das Spektiv ans Auge gehoben und hielt in Richtung Nordwesten Ausschau. Seine Miene wurde starr. Er hatte etwas entdeckt, einen schwarzen Fleck, der sich nur undeutlich von der sonnendurchflirrten Kimm abhob.

„Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt“, murmelte Dan.

Arwenack gab eine Art Grunzen von sich.

Dan ließ den Kieker sinken, schaute den Affen an und registrierte, daß dieser sich einen Finger in die Nase geschoben hatte und angelegentlich bohrte.

Dan ahmte die Stimme von Profos Carberry nach. „He, du Rübenschwein, brich dir bloß nicht den Finger ab. Und sag Bescheid, wenn du Gold findest, verdammt noch mal.“

Arwenack unterbrach sich irritiert.

„Ich kann zwar nicht hinter den Horizont schauen wie ein Jonas“, sagte Dan O’Flynn, „aber da ist was an der Kimm, das zumindest verdächtig aussieht.“ Er richtete sich halb auf, beugte sich über die Segeltuchverkleidung und legte beide Hände als Schalltrichter an den Mund, um nach unten zu brüllen.

Unter den stolz geschwellten Segeln der „Isabella VIII.“ bewegten sich auf Oberdeck die Gestalten der Männer. Braun glänzten ihre nackten Oberkörper. Sie hatten die Hemden abgelegt und waren beständig am Schuften, denn der Wind sprang dauernd um, blies aus wechselnden Richtungen, und Carberry purrte sie an die Brassen und Schoten. Mal pflügte die „Isabella“ mit achterlichem Wind die Dünung, mal kriegte sie ihn raumschots, mal von der Seite.

„Deck!“ schrie Dan O’Flynn. „Deck, Achtung! Backbord voraus treibt ein Beiboot oder etwas Ähnliches!“

Hasard stand gerade auf dem Quarterdeck, unweit des Ruderhauses. Er hob den Kopf und nahm Dans Meldung auf. Dann eilte er zum Backbordschanzkleid. Rasch nahm er den Kieker zur Hand und hielt nun seinerseits Ausschau, konnte aber nichts in der von Dan angegebenen Richtung entdecken.

Ben Brighton, sein erster Offizier und Bootsmann, trat näher. „Teufel, wie das Bürschchen das jetzt wieder entdeckt hat. Und dann diese präzisen Angaben. Wie hat er bloß auf die Entfernung rausgefunden, daß es sich um ein Boot und nicht um ein Schiff handelt?“

„Erfahrung, Ben. Immerhin fährt Dan ja auch nicht erst seit gestern auf der ‚Isabella‘.“

„Trotzdem wundere ich mich immer wieder.“

„Noch was, Ben. Dan ist kein Bürschchen mehr.“

„Richtig, das vergesse ich immer wieder.“

„Er legt aber großen Wert darauf, als voll tauglicher und sturmerprobter Seeman eingestuft zu werden“, sagte Hasard lächelnd. „Außerdem haben wir ja jetzt Bill, dem wir mit väterlichem Ratschlag auf die Schultern klopfen können.“ Er spähte wieder nach Nordwesten. Inzwischen hatte sich auch für ihn das Objekt in der Ferne so weit über die Kimm geschoben, daß er es sehen konnte.

„Wir gehen näher ran“, entschied der Seewolf. „Profos, anluven, wir nehmen Kurs Nord-Nord-West!“

„Hölle und Teufel“, dröhnte Carberrys mächtiges Organ über Deck. „Laufen wir jetzt schon wieder Kuba an? Was meinen Bedarf betrifft, ich hab die Schnauze gestrichen voll von dieser Scheißinsel, auf der es von Dons nur so wimmelt und …“

„Profos“, unterbrach Hasard ihn. „Soll das ein Aufruf zur Meuterei sein?“

„Ich – nein, Sir – ich meinte nur …“

„Backbord voraus treibt ein Boot, das ich näher untersuchen will, falls du’s noch nicht begriffen hast“, polterte Hasard zurück. „Geht dir jetzt ein Licht auf?“

„Aye, Sir.“

„Dann beweg dich und befolge meine Befehle, sonst ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!“

„Aye, aye, Sir!“

Die Männer auf der Kuhl bogen sich vor Lachen, besonders, weil der Seewolf soeben Carberrys Lieblingsspruch angewandt hatte.

Dann aber war der Profos mitten zwischen ihnen und ranzte sie an: „Ihr Himmelhunde, ihr Kanalratten, ihr Bäckerburschen, was steht ihr rum und glotzt Löcher in die Luft? Wollt ihr wohl springen, oder soll ich euch anlüften, was, wie? Ihr Pökelheringe und Saufsäcke, braßt an, packt zu, hopp-hopp, daß die Schwarte kracht, sonst bringe ich euch verlausten Decksaffen die Flötentöne bei!“

Dieses Gebrüll war sozusagen Tradition an Bord der „Isabella VIII.“ und einfach nicht mehr wegzudenken. Mehr noch, Carberrys Flüche wären von den Männern vermißt worden, hätten sie gefehlt, denn sie wußten ja, daß er es nicht so meinte, wie er’s schrie, und außerdem war er im Grunde seines Herzens eine Seele von Mensch.

Hasard hatte seinen Platz am Backbordschanzkleid des Quarterdecks nicht verlassen. Unausgesetzt blickte er jetzt durch das Spektiv und beobachtete. Die „Isabella“ lief raumschots bei aus Südwesten einfallendem Wind und segelte auf das gesichtete Boot zu.

„Dan hat recht“, sagte Hasard. „Es ist so was Ähnliches wie ein kleines Beiboot. Liegt sehr tief im Wasser.“

„Kommt mir verdammt merkwürdig vor“, meinte Ben Brighton.

„Spanisch, wolltest du wohl sagen“, sagte der alte Donegal Daniel O’Flynn. Er war auf seinen hölzernen Krücken herangehumpelt. „Wenn ihr mich fragt, das ist ein Trick der Dons, um uns reinzulegen.“

„Abwarten“, erwiderte Hasard.

„Erst mal sehen wir uns das Boot an. Ich bin ein von Natur aus neugieriger Mensch. Manchmal hat mir das Schätze, manchmal knüppeldicken Verdruß eingebracht, aber, was soll’s!“

Punktum und basta. Der Seewolf verstand in gewissen Dingen nun mal keinen Spaß und duldete keinen Widerspruch. Es war eine feine Sache, die gesamte Mannschaft in Besprechungen miteinzubeziehen und stets jedem Mann die Achtung zu schenken, die er verdiente. Aber ein Kapitän blieb nun mal der Kapitän an Bord eines Segelschiffes. Daran gab es nichts zu rütteln.

Falle oder nicht, Hasard mußte sehen, was es mit dem Boot auf sich hatte.

„Deck!“ schrie Dan aus dem Großmars. „In der Nußschale liegt ein Mann. Zwischen den Duchten, deswegen seh ich ihn erst jetzt. Und, verflucht und zugenäht, ja – der Kahn säuft ab!“

Hasards Stirn legte sich in Falten. Die Angelegenheit gefiel ihm immer weniger.

Konnten die Spanier diese List ausgeheckt haben? Sie ließen einen „Schiffbrüchigen“ von der „Isabella“-Crew auffischen, und dieser Bursche war dann ein Spion, ein Saboteur.

Na schön, und wenn es so war? Hasard wollte es wissen. Von einem einzelnen Mann ließ er sich schon nicht übers Ohr hauen.

Vielleicht hatte sich herumgesprochen, was er und seine Männer jüngst auf Jamaica erlebt hatten. Die Spanier würden ihm liebend gern die Schuld an allem in die Schuhe schieben, das war ja ihre Spezialität.

Als die „Isabella“ an Jamaica vorbeigesegelt war, hatte Dan in einer Bucht Rauchzeichen entdeckt. So hatten sie schließlich Bill und dessen Vater gefunden. Beide waren von einem spanischen Schiff geflüchtet, auf dem sie, Engländer, zur Bordarbeit gepreßt und ständig schikaniert worden waren.

 

In einem günstigen Augenblick waren sie geflohen. Bills Vater war jedoch bereits sterbenskrank gewesen, für ihn gab es keine Rettung mehr. Er hatte Bill dem Seewolf überantwortet und ihm das Geheimnis des von ihm versteckten Schatzes offenbart. Danach war er aus dem Diesseits geschieden.

Eine Zauberin war aufgetaucht, eine alte Frau, die den Voodoo-Kult der Eingeborenen von Hispaniola beherrschte. Sie hatte von Hasards drei Kindern gesprochen, hatte Arkana erwähnt und gezeigt, wie Hasard sich mit dem Stachel des Armreifs in Trance versetzen konnte. Später hatte sie den spanischen Kapitän Rafael Virgil zum Tode verurteilt und symbolisch umgebracht. Am darauffolgenden Morgen war Hasard mit jenem Virgil zusammengestoßen. Eine Schlacht war entbrannt, die Seewölfe hatten den spanischen Segler geentert. Als Hasard sich Virgil vor die Degenklinge hatte holen wollen, war dieser tot zusammengebrochen. Der Fluch der alten Frau hatte sich erfüllt.

Wirklicher Zauber oder Mummenschanz?

Hasard wußte es nicht, und er wollte auch nicht mehr Gedanken daran verschwenden als notwendig. Nur eins war logisch. Virgils jähes Ende hatte den Haß der Spanier gegen die Seewölfe neu genährt.

Die „Isabella“ hatte nach dem Verlassen Jamaicas Kurs auf die Schlangen-Insel genommen. Dort wollte Hasard Siri-Tong, Thorfin Njal und Jean Ribault treffen.

Die Rote Korsarin und der Wikinger hatten sich mit dem schwarzen Segler zur Schlangen-Insel begeben. Sie mußten dort inzwischen auch eingetroffen sein. Ribault indes befand sich nach Hasards Berechnungen ziemlich in der Nähe. Er hatte vor der Schlangen-Insel noch Tortuga anlaufen wollen, um dort ein paar „Kleinigkeiten“ zu erledigen. Es ging dabei um Ausrüstungsgegenstände für den schwarzen Segler, das einstige Schiff des legendären Piraten El Diabolo.

Die „Isabella“ hielt auf das kleine Boot zu. Es sank, das Wasser stand bereits fast bis zu seinen Duchten. Der Mann im Inneren war bis auf die Haut durchnäßt. Warum unternahm er nichts?

Dan O’Flynn gab die Antwort auf die stumme Frage Hasards.

„Der Bursche ist ja gefesselt!“ rief er verblüfft aus. „Teufel auch, so eine Schweinerei!“

„Ja“, sagte Hasard. „Er ist mitten in der Windwardpassage ausgesetzt worden, damit er ein grausiges Ende findet. Er wird nicht ertrinken, Männer, ihm steht etwas noch Schlimmeres bevor. Seht doch.“

Ja, sie erblickten jetzt alle die schwarzen Dreiecke, die lautlos durch die See strichen und den bedauernswerten Mann einkreisten. Es waren die Rückenfinnen von Haien.

Hasard dachte zunächst, der arme Teufel sei bewußtlos. Aber dann löste sich ein Schrei aus dem Boot und wehte zur „Isabella“ herüber. Ein erschütternder Laut.

„Himmel, das kann keine Berechnung sein!“ stieß Hasard hervor. „Unmöglich. Der Mann ist des Todes, wenn wir ihn nicht auffischen. Profos, anluven! Nehmt Fahrt aus dem Schiff, fiert ein Boot in Lee ab und pullt sofort mit mir zu dem Fremden hinüber!“

Kurze Zeit später saß Hasard selbst auf der Heckducht des Beiboots und hielt die Ruderpinne, während sechs seiner Männer – darunter Carberry und Big Old Shane – mit aller Kraft pullten.

Hasard sah, wie ein Hai sich besonders nahe an das sinkende Boot heranschob. Von dem Boot ragte gerade nur noch das Dollbord aus den Fluten auf, in den nächsten Minuten würde es gänzlich verschwinden. Der Hai glaubte, leichts Spiel zu haben. Er schob tatsächlich sein Mördermaul ein Stück aus dem Naß. Ein mit nadelspitzen Zähnen bewehrtes Maul klaffte auf.

Hasard erhob sich. Mit einem Ruck riß er die doppelläufige sächsische Reiterpistole aus dem Gurt. Er spannte den Hahn, zielte und drückte ab. Der Radschloß-Mechanismus setzte sich in Bewegung. Schnurrend lief das Rad ab, Funken sprühten, das Zündkraut fing Feuer.

Dann brach der erste Schuß. Der Hai zuckte. Seine Schwanzflosse peitschte im Wasser und wühlte es zu Gischt auf. Hasard mußte auch den zweiten Schuß aus dem Lauf jagen. Erst da ließ das Tier von seinem Opfer ab und tauchte in die Tiefen der See. Seine Artgenossen folgten ihm. Sie hatten das Blut gewittert und brachen auf, den Angehörigen der eigenen Art zu reißen.

„Ho!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. „Ar-we-nack!“

Die Crew wiederholte den alten Schlacht- und Siegesruf der Seewölfe. Hasard grinste. Zum Nachladen der Pistole blieb keine Zeit, er würde es später erledigen. Jetzt ging es erst mal um den gefesselten Mann im Meer.

Sie gingen bei dem absaufenden Boot längsseits, und Hasard kriegte den armen Teufel selbst mit sicherem Griff an den Schultern zu fassen. Er zerrte ihn hoch. Dabei mußte er aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Als er ihn über das Dollbord hinweghievte, geriet ihr Boot bedrohlich ins Schwanken. Hasard lachte nur. Sie scherten sich einen Dreck darum. Carberry, Shane und die anderen legten sich nur in die Riemen und versetzten das Boot in neue Fahrt.

Hasard bettete den Fremden zwischen die Duchten. Erst jetzt bemerkte er die blutigen Striemen auf dessen Rücken. Frische Wunden. Spuren einer grausamen Prozedur, der Behandlung mit der neunschwänzigen Katze.

Trotz seiner Schmerzen und der Ängste, die er durchgestanden hatte, konnte der Mann noch grinsen.

„Gracias“, sagte er als erstes. „Danke. Das werde ich euch nie vergessen.“

Hasard grinste zurück und antwortete in perfektem Spanisch: „Schon gut, Mann. Gern geschehen. Nicht der Rede wert. Schone dich jetzt, du hast es nötig.“

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