Seewölfe - Piraten der Weltmeere 496

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 496
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Impressum

© 1976/2019 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-904-8

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Blockade

Sie verriegelten die Bucht – und dann griffen sie an

Der Kommandotrupp des Bundes der Korsaren wurde von Jean Ribault angeführt, und er hatte gute Kämpfer mitgenommen: den Boston-Mann, Mel Ferrow, Roger Lutz, Dan O’Flynn und Batuti. Sie hatten den Auftrag, den „Großmeister“ Jeremiah Josias Webster hoppzunehmen, denn er war der fanatische Kopf einer ihm blindlings gehorchenden Anhängerschaft von Puritanern. Unangefochten erreichten die sechs Männer ihr Ziel, nämlich die Burg „Zion“, die von den Jüngern des Großmeisters zur Festung ausgebaut wurde. Sie machten sich auf ein langes Warten gefaßt, aber dann ergab sich, daß der Großmeister außerhalb der Burg „Zion“ einem jungen Mädchen nachstieg, das Kräuter sammeln wollte. Und als der Unhold über das Mädchen herfiel, da packten sie zu …

Die Hauptpersonen des Romans:

Jeremiah Josias Webster – der Großmeister muß allmählich begreifen, daß Fluchen oder Beten nichts mehr nutzt.

Jessica Baker – das junge Mädchen zeigt Courage und wehrt sich seiner Haut.

Harris – der Vertreter des Erhabenen ist scharf darauf, eine Hexe zu verurteilen.

John Baker – der Zimmermann hat die Nase voll und handelt.

Philip Hasard Killigrew – blockiert mit fünf Schiffen den Zugang zur Bucht der Webster-Gemeinde.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

1.

John Baker war ein Mann voller Tugenden. Er war fleißig und sparsam, ehrlich und treu. Baker war kein Mann großer Worte und langer Reden, doch er überlegte sich stets sehr gründlich, was er tat. Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte, dann befolgte er seinen Entschluß konsequent und unbeirrbar.

So hatte er sich Jeremiah Josias Webster angeschlossen, der seine puritanische Sekte von mehr als vierhundert Menschen an Bord von vier Galeonen – der „Kyrie eleison“, der „Cherubim“, der „Nazareth“ und der „Golgatha“ – von Plymouth in die Neue Welt führte. Das Unternehmen war geglückt.

Webster, der sich als „Großmeister“ und „Erhabener“ anreden ließ, schien wahrhaftig der Auserwählte des Herrn zu sein, das „Flammenschwert Gottes“, wie er sich selbst nannte. Der Mann, der inmitten der heidnischen Welt das neue Reich Gottes gründen sollte.

Hier, in der Karibik, würde eine Kolonie gläubiger und rechtschaffener Christen entstehen. So stellte sich Webster das vor, und Männer wie John Baker oder Orman Smead oder John Moore folgten ihm voll Hoffnung und Zuversicht.

John Baker hatte sogar seine Familie mitgenommen – seine Frau und seinen sechzehn Jahre alten Sohn sowie seine Nichte Jessica, ein hübsches 22jähriges Mädchen. Jessica war Waise. Sie hatte ihre Eltern auf tragische Weise verloren. John Baker und seine Frau hatten es für ihre heilige Christenpflicht gehalten, die Tochter von Bakers Bruder und der Schwägerin bei sich aufzunehmen.

Jessica fühlte sich wohl bei ihnen. Als daheim in England der Plan gereift war, sich Webster anzuschließen und auszuwandern, hatte das Mädchen keinen Augenblick gezögert, ihre Verwandten bei der Reise über den Atlantik zu begleiten.

Es war eine beschwerliche Reise geworden, hart und voller Entbehrungen. Stürme und Krankheiten hatten den Pilgern zugesetzt und manche von ihnen getötet. Doch die Choräle und Gesänge waren an Bord der vier Galeonen nicht verstummt. Der Herr war der Hirte dieser Menschen, nichts konnte sie davon abhalten, ihre heilige Botschaft in die Neue Welt zu tragen.

Das Leitmotiv der „Jünger und Bräute Christi“, wie Webster seine Gefolgschaft nannte, war also edel und gut. Nur in der Ausführung hatten sich ungeahnte Schwierigkeiten ergeben.

Auf Great Abaco, wo die Männer der vier Galeonen zuerst gelandet waren, hatte sich herausgestellt, daß die Insel nicht unbewohnt war, wie der Großmeister zunächst angenommen hatte. Ein ganzer Trupp von Feinden hatte sich ihnen entgegengestellt.

Es handelte sich jedoch nicht um Eingeborene, sondern um „Piraten“ und „Natterngezücht“, vorwiegend Engländer, aber auch Franzosen, unheimliche Nordmänner und andere Kerle undefinierbarer Rasse und Herkunft.

Unter ihnen befand sich auch ein schwarzer Riese, der einen das Fürchten lehrte. Webster nannte ihn einen Nigger, obwohl doch eigentlich vor dem Herrn alle Menschen gleich waren.

Überhaupt, da hatte sich so einiges ereignet, das zu denken gab. Webster hatte das „Natterngezücht“ zerschmettern und ausrotten wollen, doch er war kläglich gescheitert. Die „Nattern“ hatten zu schießen begonnen. Webster mußte sich mit seiner Schar nach Eleuthera absetzen.

Aber auch dort, wo der Erhabene seine Mannen zum Kreuzzug gegen die Ketzer und Heiden aufrief, hatte es wieder Verdruß gegeben. Schließlich war die Pilgerschaft nach New Providence gesegelt, wo nun der Bau der Burg „Jerusalem“ und der Burg „Zion“ eifrig vorangetrieben wurde.

Webster hatte eine Bucht an der mittleren Südküste der Insel als das „gelobte Land“ auserkoren. Hier wurde mit voller Energie konstruiert, gehämmert, gesägt und gezimmert.

„Jerusalem“ war eine Gruppe von Blockhütten, die von einem Palisadenzaun umgeben waren. Auf dem Zaun hatten die Männer Websters Drehbassen montiert, denn die Burg mußte ja, falls sich der unheimliche Gegner wieder zeigte, irgendwie verteidigt werden. Bei der Burg „Zion“ handelte es sich um eine regelrechte Festung auf einem oberhalb der Bucht gelegenen Felsenplateau. Sie sollte fortan Websters „Feldherrnhügel“ sein.

Ein paar rohgefügte Steinhäuser mit Flachdächern stellten das Zentrum von „Zion“ dar. Sie standen inmitten einer übermannshohen Ringmauer mit Schießscharten. An der Innenseite der Mauer waren die Männer gerade dabei, einen hölzernen Laufgang zu errichten, die Plattform für die Verteidiger der Burg. Ferner hatte die Ringmauer zwei Bastionen zur Buchtseite hin. Zwei Kanonen waren heraufgeschleppt worden und wurden nun hier aufgestellt.

Während oben in der Burg Zion und an der Bucht in der Burg Jerusalem fleißig gearbeitet wurde, war John Baker damit beschäftigt, im flachen Wasser in der Bucht Stege zu errichten. Baker war Zimmermann von Beruf und deshalb für diese Aufgabe gleichsam prädestiniert.

Was er tat, das tat er gründlich, man konnte sich voll auf ihn verlassen. Er hatte ein paar Gehilfen mitgenommen, denen er seine Anweisungen gab. Pfähle wurden in den Grund gerammt, Planken zusammengenagelt. Ein erster Steg war fast fertig.

John Bakers Stirn war gefurcht, seine Miene verdrossen. Irgend etwas gefiel ihm nicht mehr an diesem Kreuzzug. Es hatte einige ebenso bemerkenswerte wie grauenvolle Zwischenfälle gegeben, die ihm wie einigen anderen zu denken gaben.

Zum Beispiel die Sache mit dem Seemann, der während der Überfahrt mit einer „geilen Hure“ in der Koje erwischt worden war. Gleich beim Eintreffen in der Neuen Welt hatte Webster den Seemann gehenkt und die „Hurerin“ ausgepeitscht. Die Gemeinde hätte ihre Choräle dazu gesungen.

Später hatte es ein weiteres Opfer gegeben. Webster hatte den Mann, der gewagt hatte, ihn bei der Beratung auf Eleuthera zu kritisieren, dem Riesenhai zum Fraß vorwerfen lassen – zum „Opfer“ an den Herrn! Das „Opfer“ war natürlich angenommen worden. Der Hai hatte sich auf den armen Teufel gestürzt und ihn vertilgt.

Als nächster war John Moore an der Reihe gewesen. John Moore, der Tischler – ein Kollege von John Baker und obendrein ein Mann, den Baker als tapfer und redlich geschätzt hatte. Moore hatte offen gegen Webster aufbegehrt. In der Nacht darauf hatte er sich selbst erhängt. So stellte Webster es dar – der Verräter hatte sich selbst entleibt, um zu büßen.

Gewaltige Zweifel an der Integrität des Großmeisters hatten inzwischen John Baker befallen. Wie denn? John Moore sollte sich selbst an einem Baum aufgeknüpft haben? Und wenn es anders gewesen war? Wenn Webster, der Moore hassen mußte, ihn heimlich erwürgt und an den Baum gehängt hatte? Was war dann?

Noch wagte Baker nicht, daran zu glauben. Aber der Zweifel war da, und der Verdacht war wie eine schleichende graue Katze, die ihn nicht mehr in Ruhe ließ und geduckt um ihn herumstrich.

John Baker war derart tief in seine widerstreitenden Gedanken verstrickt, daß er das Nahen seiner Frau erst bemerkte, als diese direkt vor ihm stand. Er hob den Kopf und sah sie etwas verwirrt an.

„Was ist denn los?“ fragte er.

Mary Baker war zuletzt oben in der Burg Zion gewesen, wo sich auch die meisten der Frauen aufhielten. Es gab Wäsche zu waschen, es mußte Essen zubereitet werden. Natürlich wurde als erster der Großmeister versorgt, darum hatte Webster die Kochstelle und die Wäscherei in der Festung einrichten lassen. Er wollte von vorn bis hinten bedient werden, wie es ihm seiner Ansicht nach zustand.

 

„Hast du Jessica gesehen?“ fragte die Frau.

Baker zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Ich denke, sie ist bei dir.“

„Das war sie auch“, erklärte Mary. „Aber vorhin hat sie den Wunsch geäußert, Kräuter suchen zu dürfen.“

Baker seufzte. Er kannte dieses Steckenpferd seiner Nichte. Sie war geradezu vernarrt in ihre Kräuter. Sie hatte daheim im Garten die ausgefallensten Pflanzen gezüchtet und gehegt. Sie erntete sie, trocknete sie oder kochte sie ein.

Sie benutzte sie als Gewürze oder als Heilmittel. Einmal hatte sich John Baker die Hand verstaucht. Jessica hatte das Gelenk mit einem Balsam aus Kräutern behandelt. Wie durch ein Wunder war die Schwellung schon bald wieder abgeklungen.

Baker glaubte seiner Nichte und vertraute ihr, und er wußte auch um die heilsame Wirkung vieler wild wachsender Pflanzen und Kräuter. Dennoch fand er, daß das Mädchen mit seiner Leidenschaft ein wenig übertrieb.

„Alle Frauen waren damit einverstanden“, fuhr Mary Baker fort. „Es mangelt ja auch an Küchenkräutern für die Suppe, also kam Jessicas Vorschlag recht gelegen. Sie ist mit ihrem Korb losgezogen.“

„In diese Wildnis?“ fragte Baker.

„Ja, in den Wald.“

„Es ist ein Urwald“, erwiderte Baker tadelnd. „Du hättest sie nicht gehen lassen dürfen.“

„Aber sie hat gesagt, sie würde sich nicht weit entfernen“, verteidigte sich Mary Baker. „Sie wollte gleich wieder zurück sein.“

„Wie lange ist sie schon weg?“

„Fast zwei Stunden.“

„Wir sollten sie suchen“, sagte Baker. „Aber ich kann hier schlecht weg. Schick mir den Jungen.“

„Ja“, sagte die Frau hastig, dann eilte sie wieder davon.

Kürz darauf erschien Bakers Sohn Benjamin am Bauplatz der Holzstege, und sein Vater sah ihn ernst an.

„Jessica scheint zu weit in den Wald gegangen zu sein, Benny“, sagte er. „Schau bitte nach, ob du sie findest. Paß aber gut auf dich auf.“

Der Junge lächelte und legte die Hand an den Kolben der Muskete, die er sich umgehängt hatte.

„Ich kann sehr gut auf mich aufpassen, Dad“, erwiderte er. Er hatte auch ein Pulverhorn und einen Kugelbeutel dabei. „Wenn mich ein wildes Tier anspringt, schieße ich.“

„Ich hoffe, daß es nicht dazu kommt.“

„Bestimmt nicht“, sagte Bakers Sohn. „Jessica wird sich nur ein wenig verlaufen haben. Ich finde sie und bringe sie zurück, ohne daß es jemand merkt.“

Das war wichtig: Wenn alle erfuhren, daß Jessica Baker mit ihrem Korb unterwegs, war, um Kräuter zu sammeln, würden die meisten sie kritisieren, besonders die Männer. Ein Mädchen gehörte an den Herd und hatte nicht im Urwald herumzulaufen.

Jeremiah Josias Webster durfte schon gar nicht erfahren, daß Jessica fort war – er würde ein Donnerwetter auf die Baker-Familie loslassen.

John Baker ahnte nicht, daß auch Webster verschwunden war. Er hatte Jessica verfolgt. Doch nur einige wenige hatten gesehen, wie er die Burg Zion verlassen hatte: Orman Smead zum Beispiel, aber auch Harris, der ehemalige Gemeindeschreiber, und Zachary Wotton, ein aus der Armee ausgestoßener Captain.

Doch es lag ihnen fern, Zweifel an ihrem Großmeister zu hegen oder etwa zu vermuten, er führe Unzüchtiges und Sündhaftes im Schilde. Sie waren ihm hündisch ergeben. Was immer Jeremiah Josias Webster tat, für sie war es wohlgetan.

Völlig reglos, wie tot, lag Jessica Baker unter den Wipfeln der knorrigen Mangrovenbäume, der Sumpfzypressen und der Schirmpinien. Ihr Kleid war zerfetzt, ihr Gesicht und ihr Körper zerschunden. Nur hin und wieder drang ein schwaches, kaum wahrnehmbares Stöhnen über ihre Lippen.

Sie hätte schreien können – an der Bucht hätte es niemand vernommen. Der Platz, an dem Jeremiah Josias Webster wie ein Tier über das Mädchen hergefallen war, befand sich außerhalb der Hör- und Rufweite der Burg Zion und der Burg Jerusalem.

Als sie von Webster zu Boden geworfen worden war, hatte Jessica geschrien. Es hatte ihr nichts genutzt. Er hatte versucht, sich an ihr zu vergehen, und sie war von ihm geschlagen worden, als sie sich gewehrt hatte. Sie hatte gekratzt und gebissen, doch er war stärker als sie gewesen.

Ein Äffchen turnte durch die Äste, ließ sich auf eine Liane fallen und rutschte daran zu Boden. Das Tier beäugte die Bewußtlose, legte den Kopf schief und gab ein paar schnatternde, keckernde Laute von sich. Dann verschwand es wieder. Eine Schlange kroch durch das Dickicht, kümmerte sich aber nicht um das Mädchen. Die Zeit verstrich, es wurde allmählich dunkler. Es war der späte Nachmittag des 25. Juni 1595.

Jessica drehte sich langsam auf die linke Körperseite. Sie wimmerte und ließ sich wieder auf den Rücken sinken. Ihr Gesicht war verzerrt. Sie fand in die Gegenwart zurück, öffnete die Augen und starrte nach oben. Sofort hatte sie das üble Geschehen vor sich.

Nie würde sie die gemeine Visage Websters vergessen. Diese Holzhackervisage! Mit dem fehlenden Schneidezahn wirkte es noch gräßlicher. Lispelnd hatte der widerliche Kerl ihr zu verstehen gegeben, der Herr habe ihn ausersehen, ein neues Geschlecht zu zeugen. Dann hatte er sich auf sie geworfen.

Jessica stöhnte und schloß unwillkürlich wieder die Augen. Erst jetzt spürte sie die Schmerzen richtig. Ihr kam voll zum Bewußtsein, wie brutal er sie geschlagen hatte. Satan, dachte sie immer wieder, Teufel!

Jessica begann zu zittern. Was geschehen war, nachdem sie ohnmächtig geworden war, konnte sie sich nur ausmalen. Doch es hatte keinen Sinn, sich Illusionen hinzugeben. Webster war ungestört gewesen und hatte sein Werk sicherlich vollendet. Das Mädchen schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht.

„Nein!“ wimmerte sie. „Diese Schande!“

Wie sollte sie es ihrem Onkel und ihrer Tante erklären? Nein, sie konnte es ihnen nicht sagen. Auch ihrem Vetter konnte Jessica nicht erzählen, was vorgefallen war. Er war erst sechzehn Jahre alt. Es würde ihn nur schockieren, vor den Kopf stoßen, was Webster angerichtet hatte.

Verzweifelt versuchte Jessica Baker, ihrer Panik Herr zu werden. Es wollte ihr nicht gelingen. Weinend richtete sie sich vom Boden auf. Was sollte sie tun?

Ich bringe mich um, dachte sie. Gehetzt blickte sie sich nach allen Seiten um. Warum hängte sie sich nicht an einen Baum, wie der Tischler John Moore es getan hatte? Schluß machen, dachte sie, das ist die einzige Möglichkeit.

Jessica lief zu einem Baum und versuchte, den Stamm hochzuklettern. Aber sie rutschte daran hinunter. Sie schluchzte auf und probierte es noch einmal, mit dem gleichen Mißerfolg. Ihr Plan war, auf einen Ast zu klettern und sich dort eine der Lianen um den Hals zu legen. Dann würde sie nach unten springen. Ein Ruck, und es war vorbei. Nicht wahr? Oder war es doch nicht so einfach?

Schwer atmend hockte sich das Mädchen wieder auf den Boden und weinte sich aus. Die Verzweiflung und die Hoffnungslosigkeit wichen dem Trotz und der Wut. Warum sollte sie Selbstmord begehen? Hatte sie denn etwas verbrochen? Der Verbrecher war Jeremiah Josias Webster – er gehörte angeklagt!

Schniefend wischte sich Jessica mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht. Sie hob den Kopf. Nein! Wer seinem Dasein durch eigene Hand ein Ende setzte, war ein Feigling und Sünder. In der Bibel hieß es, der Herr habe das Leben gegeben und sei der einzige, der es auch wieder nehmen dürfe. Folglich war es ein schweres Vergehen, wenn sie, Jessica Baker, auf diesen Baum stieg und sich die Gurgel mit einer Liane abdrehte.

Aber – war denn John Moore ein Feigling und Sünder gewesen, weil er sich einfach aufgehängt hatte? Unsinn, dachte Jessica zornig, das ist doch gar nicht wahr! Ihr Onkel, John Baker, hatte anklingen lassen, daß Moore vielleicht eher durch einen „Unfall“ ums Leben gekommen war.

Wie dieser Unfall ausgesehen haben mochte, wurde dem Mädchen erst in diesem Moment richtig klar. Webster – er hatte Moore an den Baum gehängt!

Erschüttert erhob sich das Mädchen. Webster war also ein Mörder. Ein Mörder und Frauenschänder. Kein Großmeister, Erhabener und Heiliger, das Flammenschwert Gottes sozusagen, sondern ein Strolch und Lumpenhund.

Er war ein perverser Lüstling, der sich sogar daran ergötzte, wenn er seine Opfer quälen konnte. Hatte er nicht verzückt, wie im Rausch, dreingeschaut, als er die „Hurerin“ an Bord der „Kyrie eleison“ ausgepeitscht hatte? Und sicherlich hatte er schon so manche Frau, auch während der Überfahrt, zu sich in die Koje seiner Kapitänskammer gelockt.

All das ging Jessica Baker auf, und sie erlitt einen neuerlichen Schock. Aber trotz allem war sie ein starkes, charakterfestes Mädchen. Sie beschloß, nicht zu sterben, sondern zu ihrer Familie und zu ihrer Gemeinde zurückzukehren.

Vorsichtig tastete sie ihr Gesicht, dann den Körper ab und untersuchte sich genau. Sie stöhnte vor Entsetzen auf. Nicht nur ihre Kleidung war zerfetzt und zerrissen, Sie hatte auch aufgeplatzte Lippen und ein verschwollenes Auge. Wie sollte sie sich verarzten und alles soweit wieder in Ordnung bringen, daß keinerlei Verdacht entstand, wenn sie zur Festung zurückkehrte?

Nun, das war ja nicht erforderlich. Jessica brauchte nur alles zu berichten und Webster öffentlich an den Pranger zu stellen. Einige Männer warteten offensichtlich nur darauf, eine Handhabe gegen den Großmeister zu haben. Sie würden sich auf ihn stürzen und ihm den Garaus bereiten, allen voran Jessicas Onkel John Baker.

Nein, nein, dachte sie und war über sich selbst erschrocken. So geht das auch nicht. Sie malte sich aus, wie es war, wenn Webster alles verdrehte und sie als „Hurerin“ bezeichnete, die versucht hatte, ihn zu verführen.

Der Großteil der Gefolgschaft hielt nach wie vor fest zu ihm, und möglicherweise genügte Websters Hetzrede, Jessica zur Ketzerin zu erklären, die dann ausgepeitscht, eingesperrt und hingerichtet wurde.

Sie erschauderte. Nein, sie wollte nicht sterben. Sie schwankte zwischen Wut und Beschämung und wußte immer noch nicht, was sie unternehmen sollte. Eins aber registrierte sie jetzt doch mit Erleichterung: sie war, was das wilde Begehren des Jeremiah Josias Webster betraf, wider Erwarten doch unberührt geblieben. Er hatte sich entfernt, ohne ihr weiter Gewalt anzutun.

Seltsam. Jessica vermochte sich gerade diesen Umstand nicht zu erklären. Webster war wie von Sinnen gewesen. Und doch – er war verschwunden. Eine unmittelbare Gefahr bestand nicht mehr.

Wo steckte er jetzt? Irgendwo im Dickicht, um sich über sie lustig zu machen, sie zu täuschen? Nein, auch das konnte sich Jessica nicht vorstellen. Webster mußte gestört worden sein.

Hatte jemand nach ihm gerufen, war ihm von der Bucht aus jemand gefolgt? Möglich war alles. Demnach konnte der sehr ehrenwerte und selbstlose Großmeister nur zur Burg Zion und zur Burg Jerusalem zurückgegangen sein.

Wie sollte Jessica Baker auch wissen, was wirklich vorgefallen war? Sie konnte ja nicht ahnen, daß sie nicht nur von Webster, sondern auch noch von anderen Männern beobachtet worden war. Hätte sie es auch nur vermutet, hätte es ihr sofort wieder die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

Ein Kommandotrupp hatte sich von der Landseite her auf die Bucht zubewegt: Jean Ribault, Mel Ferrow, Roger Lutz, Dan O’Flynn, Batuti und der Boston-Mann. Der Seewolf hatte sie ausgewählt – sie sollten Webster gefangennehmen und als Geisel entführen.

Das hatten die sechs auch geschafft. Als Jeremiah Josias Webster Jessica gepackt hatte und sozusagen auf dem Höhepunkt seiner Gier angelangt war, hatten die Mannen zugeschlagen. Ein Hieb Batutis mit dem Pistolengriff, und der edle Großmeister hatte sich ächzend auf dem Dschungelboden ausgestreckt – neben dem Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt ohnmächtig gewesen war.

Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, hatte sich Webster lässig über die Schulter geworfen. Der Trupp hatte sich zurückgezogen. Inzwischen hatte er die Goodman Bay wieder erreicht, wo die Schiffe des Bundes der Korsaren vor Anker lagen, und Webster war in die Vorpiek der „Isabella IX.“ gesperrt worden.

Jessica ahnte von alledem nichts, und so konnte sie auch niemandem berichten, daß der Erhabene entführt worden sei. Sie war nur froh, daß ihr körperlich weiter nichts zugestoßen war. Endlich atmete sie ein wenig auf.

Was sie tun sollte, wußte sie allerdings immer noch nicht. Es war ihr immer noch zu deutlich vor Augen, was Webster ihr angetan hatte. Der Erhabene war von der Gier besessen gewesen und mehr ein Teufel, denn ein in der Gnade des Herrn stehender Heilsbringer.

 

Jessica versuchte, etwas Ordnung in ihre Kleidung zu bringen. Dann begann sie, nach ihrem Korb zu suchen. Sie hatte ihn bei dem Kampf gegen Webster natürlich verloren, und er war irgendwohin in das Gebüsch gerollt. Das Mädchen wollte ihn wiederfinden. Auf keinen Fall gehe ich ohne Korb nicht zurück, dachte sie trotzig.

Jessica entsann sich: sie hatte von den anderen Frauen andeutungsweise schon mal etwas von der „wilden Fleischeslust“ des Großmeisters gehört. Aber sie hatte nie recht daran geglaubt. Jessica hatte die Lust für unvereinbar mit den sittlichen Geboten des Herrn gehalten, die der Erhabene unentwegt predigte. Wie konnte er denn beides in Einklang bringen, da er doch immer von Zucht und Zurückhaltung sprach?

Während sie im Gestrüpp nach ihrem Korb forschte, mußte Jessica auch immer wieder an den Seemann denken, an den armen Teufel, den Webster und das „hohe Bordgericht“ einfach an die Rah gehängt hatten.

Und die „Hurerin“? War sie nicht ein junges Mädchen wie sie, Jessica? Was hatte sie denn schon verbrochen?

Jessica zuckte zusammen. Sie hatte einen Zweig berührt und glaubte, wieder Websters Hände auf sich zu spüren. Allein der Gedanke brachte sie halb um. Ekel schüttelte sie.

Sie brauchte sich nur vorzustellen, der Erhabene könnte sich ihr noch einmal nähern und wieder versuchen, sie zu entehren, und ihr wurde fast schlecht.

Jessica war noch Jungfrau. Bisher hatte sie sich immer an die Regeln der Keuschheit gehalten. Nur der junge Mann, der sie – vielleicht – einmal heiraten würde, würde sie zur Frau machen.

Endlich entdeckte sie den Korb im Dickicht. Sie bückte sich danach und hob ihn auf. Dann streifte sie im Urwald hin und her und hielt nach Kräutern Ausschau. Schließlich fand sie einige Gewächse, die ihr wert erschienen, gepflückt zu werden.

Jessica gab sich Mühe, den Korb wenigstens halb zu füllen. Wenn sie wieder in der Burg eintraf, sollte es nicht so aussehen, als habe sie kein einziges Kraut gefunden. Sie mußte versuchen, alles zu vertuschen, was sich wirklich im Wald abgespielt hatte.

Jessica gelangte an einen sprudelnden, gurgelnden Bachlauf, stellte den Korb auf dem Boden ab und beugte sich über das Wasser. Dann aber hielt sie unwillkürlich in der Bewegung inne.

Was war, wenn das Wasser verseucht oder vergiftet war? Es konnten sich auch bösartige kleine Tiere darin befinden, Egel, Schnecken, Frösche, giftige Würmer oder fleischfressende Fische. Ihr Onkel hatte sie gewarnt. Man konnte in einem fremden Land nicht vorsichtig und mißtrauisch genug sein.

Etwas raschelte verhalten im Unterholz. Jessica fuhr zusammen. Sie wandte den Kopf nach rechts und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war. Etwas schob sich an den Rand des Baches – ein putziges Tier. Es sah aus wie eine Mischung aus Kaninchen und Eichhörnchen.

Jessica atmete wieder auf. Sie beobachtete das Tier und sah, wie es von dem Wasser trank. Das Tier gab einen grunzenden Laut von sich und verschwand wieder. Aha: das Wasser war also rein, nicht giftig.

Der Herr hatte ihr ein Zeichen gegeben. Jessica Baker war überzeugt, daß Gott ihr in dieser schweren Stunde seinen Beistand leistete. Darum schöpfte sie das Wasser mit den Händen und begann, ihr verquollenes Gesicht zu waschen und zu erfrischen. Sie blickte in das Naß, das ihr Gesicht spiegelte. Jetzt sah sie schon wieder etwas besser aus.

Jessica richtete sich auf und nestelte an ihren Kleidern herum. Es gelang ihr, sie noch etwas besser zu ordnen. Schließlich gelangte sie zu der Überzeugung, daß sie sich wieder in einem leidlich zivilisierten Zustand befand.

Plötzlich zuckte sie zusammen, als habe sie ein Peitschenhieb getroffen. Hinter ihr knackte und prasselte es im Gestrüpp. Jessica stöhnte auf und sank zusammen. Verzweifelt klammerte sie sich am Griff ihres Korbes fest.

O Gott, hilf mir, dachte sie verzweifelt, er kommt wieder!

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