Seewölfe - Piraten der Weltmeere 360

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 360
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-757-0

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Roy Palmer

Überfall auf El Triunfo

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1.

Die Luftwurzeln von Mangroven können tückische Fallen sein. Jean Ribault und auch der Spanier Carlos Rivero wußten das, und doch übersah Carlos eins der knorrigen Gebilde. Es war völlig unter schweren, lappigen Blättern und Lianen verborgen. Er stolperte darüber und fiel.

Jean konnte nicht schnell genug abstoppen. Er strauchelte über Carlos’ Beine und stürzte ebenfalls. Sie überrollten sich auf dem morastigen Untergrund, gerieten sich gegenseitig ins Gehege und stießen leise Verwünschungen aus. Laut durften sie nicht fluchen. Der Feind saß ihnen dicht im Nacken.

Wieder hörten sie die Rufe von Morrison, dem Anführer der Siedlungswachen von El Triunfo an der Küste von Honduras: „Beeilt euch! Packt sie! Sie dürfen uns nicht entwischen!“

Hinkle, der schwerhörige Engländer, der obendrein nicht sonderlich gut sehen konnte, und die fünf anderen Verfolger drangen unter Morrisons Kommando mit verschwitzten Gesichtern in das vor Feuchtigkeit dampfende Gestrüpp ein. Die Gefangenen waren entwischt, eben waren sie im Dickicht untergetaucht. Doch Morrisons Leute kannten sich in diesem verfilzten Dschungel besser aus als jeder andere. Jeder verborgene Pfad, jede noch so winzige Lichtung war ihnen bekannt, und sie fanden sich auch im Dunkeln zurecht.

Jean Ribault stellte genau diese Überlegungen an. Es war Tag, und die leichten Schwaden Morgennebel, die in der beginnenden Hitze aufstiegen, boten auch keine Deckung. Morrisons Truppe würde keine großen Schwierigkeiten haben, die beiden vermeintlichen Spione wieder einzufangen. Die Chancen, daß die Flucht doch noch gelang, waren ziemlich gering.

Dabei hatte alles vielversprechend begonnen: mit dem Messer, das Emile Boussac Jean zugesteckt hatte, mit dem tollkühnen, blitzschnellen Handstreich an Bord der Pinasse, bei dem Hinkle und die beiden anderen Bewacher ins Wasser der Bucht geflogen waren. Ribault und Carlos Rivero hätten mit Morrisons Schaluppe davonsegeln und Kurs auf das Versteck der „Le Vengeur III.“ nehmen können, aber genau das wollte Ribault vermeiden.

Denn wenn der Feind wußte, wo die „Le Vengeur III.“ ankerte, war alles verloren. Nicht schnell genug konnten Siri-Tong, Barba, Jenkins und die anderen Kameraden an Bord ankerauf gehen und die verborgene Flußmündung verlassen. Einem Angreifer, der sich von der Seeseite her näherte, waren sie ausgeliefert.

Darum hatte Ribault es vorgezogen, die Verfolger abzulenken. Und wenn er selbst dabei draufging – die „Vengeur“ durfte nicht entdeckt und aufgebracht werden! Mit verbissener Miene rappelte er sich wieder auf. Carlos war ebenfalls auf den Beinen, geduckt setzten sie ihre Flucht fort.

Aber die Stimmen der Gegner ertönten immer dichter hinter ihren Rücken. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann waren sie umzingelt und mußten sich ergeben. Ribault bedeutete dem Spanier durch Handzeichen, was er zu tun gedachte, und Carlos begriff.

Sie hielten nach einem passenden Versteck Ausschau und fanden es – ein dichtes Bärlappgestrüpp, unter das sie krochen und sich verbargen. Von dort spähten sie in die Richtung, aus der der Feind anrückte und jeden Moment aus dem Dickicht auftauchen mußte.

Angriff ist die beste Verteidigung, sagte sich Ribault grimmig. Er wußte, was er riskierte, aber er dachte nicht länger darüber nach. Daß Carlos an seiner Seite blieb und keine Fragen stellte, war ihm hoch anzurechnen. Es bewies, daß der Spanier nicht nur eine gehörige Portion Schneid und Courage hatte, sondern auch an seinen Prinzipien von Kameradschaft und Verbundenheit festhielt. Ribault und die Männer der „Vengeur III.“ hatten ihn gerettet, sie waren seine Freunde. Für Ribault hätte er sich den Kopf abschlagen lassen.

So waren die Ereignisse vor der Insel Gran Cayman für Carlos Rivero zu einem einschneidenden Erlebnis in seinem Dasein geworden. Die Black Queen hatte ihn an einen Felsen binden lassen, sein Schicksal war bereits besiegelt gewesen. Im letzten Augenblick waren aber Jean Ribault und dessen Männer aufgetaucht.

Längst hatte Carlos dem alten Pakt mit den Meuterern von der spanischen Kriegs-Galeone „Aguila“ abgeschworen. Die blutrünstigen Ziele, die sich Jaime Cerrana und die anderen gesetzt hatten, waren nicht seine Sache. Die Meuterer hatten sich mit der Black Queen und Caligula verbündet – er, Carlos, kämpfte mit Jean Ribault gegen sie.

Die Lage hatte sich zugespitzt. Die Queen war in El Triunfo, das von spanischen Galeonen aus Cartagena angegriffen werden sollte. Irgendwo mußten die „Caribian Queen“ und die „Aguila“ ankern, und die Queen war mit dem Bürgermeister Willem Tomdijk dorthin unterwegs.

Tomdijk war dieser Freibeuterin bereitwillig ins Netz gegangen. Sie brauchte Männer, viele Männer, eine entschlossene und wehrhafte Gefolgschaft, denn nur so konnte sie die Oberhand in der Karibik gewinnen und den Seewolf besiegen. Dies schwebte ihr vor, und sie tat alles, um das zu verwirklichen.

Wenn Morrison und seine Leute Ribault und den Spanier auslieferten, war es um die beiden geschehen. Die Black Queen würde nichts unversucht lassen, sie zu töten. Sie haßte sie, wie sie alle Männer und Frauen der Schlangen-Insel haßte, von Philip Hasard Killigrew bis zu Arkana.

Ribault griff nach Carlos Riveros Arm. Da, jetzt waren sie ihnen ganz nahe! Es raschelte und prasselte im Dickicht. Zum Greifen nah stürzte ein Mann an ihrem Versteck vorbei. Es war Morrison, aber er schien sie nicht entdeckt zu haben. Mit einem Fluch hastete er weiter.

Noch ein Verfolger arbeitete sich an den beiden Männern vorbei, die reglos und ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, dakauerten. Carlos hätte nur den rechten Fuß ein wenig auszustrecken brauchen, und der Kerl wäre darüber gestolpert.

Aber noch hielt Ribault seinen Gefährten zurück. Der richtige Augenblick für sie kam, als der dritte Gegner erschien. Es war Hinkle, der Schwerhörige. Immer noch benommen und leicht verwirrt von dem unfreiwilligen Bad in der Hafenbucht, taumelte er mitten zwischen Ribault und den Spanier.

Ribault sprang auf, seine rechte Faust zuckte hoch. Hinkle hörte die Geräusche vor sich erst, als es zu spät war, und auch seine Reaktion auf die gedankenschnelle Bewegung des Franzosen erfolgte zu spät. Die Faust traf seine Kinnlade, er flog ein Stück zurück und fiel auf den Rücken, dann schwanden ihm die Sinne. Reglos blieb er liegen.

Es war ein verhängnisvoller Morgen für Hinkle, er sollte ihn nicht mehr vergessen. Ribault war über ihm und nahm ihm den Säbel und das Messer ab, die er bei sich trug. Die Pistole ließ er ihm – die war ohnehin ungefährlich, denn die Pulverladung war durch das Seewasser unbrauchbar geworden.

Schon tauchte die nächste Gestalt auf, wieder ein klatschnasser Mann, der sich als der entpuppte, dem Carlos Rivero den Ellenbogen in den Magen gerammt hatte. Carlos war in diesem Moment neben Ribault und warf sich auf den Angreifer, als dieser einen Wutschrei ausstoßen wollte.

Sie gingen gemeinsam zu Boden und verklammerten sich ineinander. Ribault wollte dem Kerl mit dem Knauf des erbeuteten Messers einen Hieb verpassen, aber der Spanier gewann die Oberhand und schickte den Gegner mit einem gezielten Hieb ins Reich der Träume.

„Hinkle, bist du das?“ ertönte höchstens zwei, drei Yards von ihnen entfernt im Busch eine dunkle Männerstimme. Kein Zweifel, das war der dritte Mann aus der Pinasse, der Mann vom Bug, den Ribault mit einem Bootsriemen niedergeschlagen hatte. Wo sich die anderen Verfolger jetzt befanden, ließ sich nicht ermitteln, aber nach Ribaults Schätzungen waren sie alle wie Morrison bereits ein Stück vorausgeeilt.

Lautlos und sehr schnell nahm Carlos dem bewußtlosen Gegner die Waffen ab und huschte zu Ribault, der ihm durch Zeichen bedeutete, sich wieder zu ducken. Der dritte Gegner tauchte aus dem Dunkelgrün der Büsche auf. Plötzlich blieb er stehen und riß seinen Säbel hoch. Er hatte Ribaults Gesicht zwischen den Blättern entdeckt und auf Anhieb wiedererkannt.

„Hier sind sie!“ brüllte er. „Hierher!“ Dann stürzte er sich auf Jean Ribault und ließ den Säbel auf dessen Kopf niedersausen.

Ribault handelte geistesgegenwärtig. Er warf sich zur Seite, rollte sich ab und sprang mit dem kampfbereiten Beutesäbel in der Rechten wieder auf. Der Hieb des Gegners ging ins Leere, die Klinge zerschnitt ein paar Blätter und fuhr in den Dschungelboden.

 

Carlos sprang mit einem Satz hinter den Verfolger und schlug ihm den Korb seines Säbels auf den Hinterkopf. Der Mann brach zusammen, ohne auch einen Laut von sich zu geben. Carlos’ Verhalten war völlig richtig: Sie durften sich auf keine Säbelduelle einlassen. Schon verrieten die Stimmen von Morrison und seinen Leuten, daß sie sich umgedreht hatten und zu ihnen zurückkehrten.

Nach wie vor hatte es keinen Sinn, die Flucht fortzusetzen. Zu dicht saßen ihnen die Verfolger auf den Fersen. Im übrigen mußte der Schrei des einen Mannes auch die anderen Wachen alarmiert haben, die rund um El Triunfo verteilt waren.

Scheinheilig und hinterlistig hatte die Black Queen Willem Tomdijk vor etwaigen spanischen Spionen gewarnt, die in El Triunfo eindringen könnten, um die Lage auszukundschaften. Tomdijk hatte daraufhin sämtliche Wachtposten verstärkt, und prompt waren Ribault und Rivero in einen Hinterhalt geraten.

Jetzt aber drehten sie den Spieß um. Wieder tauchten sie im Dickicht unter. Der nächste Mann, der in ihre Falle lief, war Morrison.

„Clark!“ schrie Morrison. „Hast du sie?“

„Ja“, erwiderte Ribault, indem er Clarks Stimme täuschend echt nachahmte.

Clark, der Mann, der Ribault den Schädel hatte spalten wollen, lag nach wie vor völlig regungslos und in tiefer Ohnmacht am Boden, ebenso Hinkle und der dritte Gegner. Von dem, was um sie herum vorging, bemerkten sie in ihrem Zustand nichts mehr.

Morrison stürmte auf den Platz zu, an dem Clarks Stimme soeben ertönt war. Er hielt seinen Säbel in der rechten Faust, in der linken hatte er eine schußbereite Muskete. Plötzlich sah er links vor sich, nur einen Yard entfernt, eine Gestalt aus dem Dickicht hochschnellen, gleich darauf rechts von sich eine zweite. Er fluchte, riß beide Waffen hoch und begriff, daß er einem Trick erlegen war, aber das nutzte ihm nichts mehr.

Carlos Rivero ließ seinen erbeuteten Säbel durch die Luft pfeifen. Morrison duckte sich und wich aus. Jean Ribault war mit einem Satz bei ihm, packte tollkühn die Muskete und riß ihn zu sich heran. Morrison verlor das Gleichgewicht und ging zu Boden. Fast stürzte er auf seinen Säbel und verletzte sich, nur im letzten Augenblick konnte er sich herumwälzen und dem Unheil entgehen.

Ribaults Faust entging er nicht. Die sauste auf ihn nieder und schickte ihn mit einem schmetternden Hieb in tiefe Bewußtlosigkeit. Ribault beugte sich über ihn, nahm ihm die Waffen ab und war im nächsten Moment wieder im Gestrüpp verschwunden.

Carlos zerrte Morrison an den Beinen tiefer ins Dickicht – und schon war der nächste Gegner heran. Er stoppte und blickte sich verwirrt um.

„Morrison?“ fragte er. „Clark?“

„Hier“, sagte Carlos Rivero aus dem Gebüsch heraus.

Der Mann rückte näher auf ihn zu und hielt die Muskete schußbereit. Irgend etwas schien ihm nicht zu gefallen. Schöpfte er Verdacht? Er beugte sich über das Gesträuch, in dem Carlos sich verborgen hielt.

„He!“ sagte er und wollte wohl auch noch etwas hinzufügen, kam aber nicht mehr dazu.

Jean Ribault hatte sich angepirscht und hieb mit dem Kolben von Morrisons Muskete zu. Mit einem Ächzer sank auch dieser Gegner zu Boden.

Ribault und der Spanier warteten auf weitere Gegner, aber sie vernahmen nur das Trampeln von Schritten und das Rascheln des Gestrüpps ein Stück rechts von sich. Die beiden anderen Verfolger liefen höchstens zwei, drei Yards entfernt an ihnen vorbei. Sie hatten nur leicht die Orientierung verloren, aber das genügte bereits: Sie stießen weder auf Morrison, Clark, Hinkle und die anderen Kerle noch auf die beiden entflohenen Gefangenen. Im Grunde war es ihr Glück, denn so ersparten sie sich schmerzende Kopfnüsse. Ribault und der Spanier hätten in der Tat keine großen Schwierigkeiten gehabt, auch diese Gegner außer Gefecht zu setzen. Sie hatten das Überraschungsmoment nach wie vor auf ihrer Seite.

Die Männer von Morrisons Trupp langten am Ufer der Bucht an und hasteten zu der Pinasse und der Schaluppe. Inzwischen war ein drittes Boot eingetroffen, das mit sechs Siedlern bemannt war. In geringem Abstand zum Ufer dümpelte es im Wasser.

Der Bootsführer rief den beiden Männern am Strand zu: „Was ist hier los? Wo steckt Morrison?“

„Die beiden spanischen Spione sind geflohen“, entgegnete der eine Mann. „Wir suchen sie. Habt ihr Morrison und unsere Leute nicht gesehen?“

„Nein.“

„Sie müssen noch im Busch sein.“ Der zweite Posten am Strand drehte sich zum Urwald um, seine Miene war argwöhnisch. „He, Morrison!“ schrie er, aber niemand antwortete ihm. „Da stimmt was nicht“, sagte er. „Was ist passiert?“

Das Boot legte an, die Insassen sprangen an Land. Acht Männer stürmten ins Dickicht und hielten überall nach den Verschwundenen Ausschau. Die Antwort auf die Frage, wo Morrison, Clark, Hinkle und die beiden anderen Kerle waren, erhielten sie bald. Als ersten fanden sie Hinkle, der sich verwirrt und blinzelnd aufrichtete, dann entdeckten sie auch die anderen.

Doch die Frage, wo die beiden „Spione“ steckten, blieb ungeklärt. Ribault und Rivero waren längst verschwunden und schlichen wieder durch den Busch, bemüht, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen.

„Wohin?“ zischte der Spanier.

„Zurück zur Siedlung“, raunte Ribault ihm zu. „Wir müssen versuchen, doch noch etwas zu erreichen. Es hat keinen Sinn, zur ‚Vengeur‘ zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin würden die Kerle uns so oder so schnappen.“

„Ja“, pflichtete Rivero ihm bei. „Da lauern mehr Posten als anderswo. Keiner rechnet damit, daß wir so verrückt sind, wieder in El Triunfo zu erscheinen. Dann also los! Aber Siri-Tong wird sich um uns sorgen.“

„Nicht, solange keine Schüsse fallen“, flüsterte Ribault. „Sie wird annehmen, daß uns nichts geschehen ist. Sie ahnt nichts von dem, was vorgefallen ist.“

„Das ist beim jetzigen Stand der Dinge auch nur gut so“, murmelte Carlos Rivero mit grimmiger Miene.

2.

Der Marsch von El Triunfo zur Bahia de Tela, wo die Schiffe der Black Queen ankerten, war für Willem Tomdijk sehr beschwerlich gewesen. Willem war ein übergewichtiger Mensch, der schon im zarten Kindesalter zur Fettleibigkeit geneigt hatte. Nichts haßte er mehr als körperliche Tätigkeiten jedweder Art.

Dennoch hatte der Marsch ein positives Ergebnis. Willem war seine gräßlichen Kopfschmerzen, die ihn nach der durchzechten Nacht mit der Queen, Caligula und Georges Buisson geplagt hatten, fast völlig los. Er konnte wieder klar denken. Ja, mit fast fröhlicher Miene, so konnte man sagen, trat er auf den Strand der Bucht und ließ den Blick seiner listigen schmutziggrauen Augen über die beiden Dreimaster gleiten, die da ankerten.

„Wunderbar“, sagte er. „So ein schöner Anblick.“ Er unterließ es jedoch, darauf hinzuweisen, daß die Bemerkung eher der Black Queen galt als den Schiffen. Immer wieder bedachte er sie mit Seitenblicken, die keine Fehldeutung zuließen. Schon in der Nacht hatte er versucht, sie mit seinen dicken Fingern anzufassen, hatte aber keinen rechten Erfolg gehabt. Trotzdem – es würde ihm noch gelingen, sie zu erobern. Davon war er felsenfest überzeugt.

„Nicht wahr?“ sagte die Queen und lächelte. „Der Zweidecker ist meine ‚Caribian Queen‘. Das andere Schiff ist die ‚Aguila‘. Sie hat achtundzwanzig Culverinen, vier Drehbassen und zwei Zwölfpfünder als Heckgeschütze.“

„Eine feine Armierung“, sagte Willem.

„Damit heizen wir den Spaniern ganz schön ein, wenn sie erscheinen“, meinte Georges Buisson, der den Trupp wieder begleitet hatte.

„Nicht so voreilig“, sagte einer von Tomdijks vier Leibwächtern. „Das hängt davon ab, wie groß der Verband ist, der uns angreifen soll.“

„Die Queen hat keine Angst“, sagte Buisson. „Weder vor zwei noch vor drei Dutzend spanischen Kriegsgaleonen.“

Er sah sie sehnsüchtig und entsagungsvoll zugleich an. Gern hätte auch er sich näher mit ihr befaßt, denn sie war eine Frau, die die Phantasie jedes Mannes anheizte. Schön in ihrer brutalen, unbezähmbaren Wildheit stand sie da und schaute triumphierend zu den Mannschaften der Schiffe. Sie hatte die Lage in der Hand, sie war die Herrin. Selbst Caligula, der riesige Schwarze, war nur ein williges Werkzeug in ihren Händen.

Caligula gab ein Zeichen zur „Caribian Queen“ und zur „Aguila“. Ein zweites Beiboot wurde abgefiert, bemannt und zum Ufer gepullt. Die Jolle der „Caribian Queen“ allein, die auf dem Sandstrand lag, reichte nicht aus, um die Queen, Tomdijk und deren Begleiter zu befördern.

Das Boot traf ein. Nur wenige Worte wurden gewechselt. Die Queen hatte es jetzt eilig, ihre Gäste an Bord der „Caribian Queen“ zu befördern. Die Jolle wurde ins Wasser geschoben, und die Männer kletterten an Bord beider Boote.

Das ging sehr rasch vonstatten. Nur Willem, der als letzter überenterte, hatte Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Er setzte einen Fuß in die Jolle der Queen, während er mit dem anderen – das Hosenbein hochgekrempelt – im flachen Wasser stand. Die Jolle sackte bedrohlich tiefer und krängte. Willem hatte nicht den richtigen Schwung, um sich ganz an Bord zu befördern. Er wankte, ruderte mit den Armen und drohte, ins Wasser zurückzukippen.

Zwei seiner Leibwächter, die schon im Boot saßen, griffen beherzt zu und packten seine Arme. Willem fluchte in seiner Muttersprache und versuchte erneut, einzusteigen. Ein wüstes Zerren und Hangeln begann, wobei anfangs nicht klar zu sein schien, wer der Sieger blieb: Die Leibwächter, die alles taten, um ihn in die Jolle zu hieven, oder Willem, der wie ein gewaltiger Mehlsack an ihnen hing und sie ins Wasser zu reißen schien.

Endlich griff der dritte Leibwächter mit zu, dann war auch der vierte heran, und gemeinsam wuchteten sie den massigen Mann an Bord. Willem ließ sich mit einem Ächzer auf die mittlere Ducht sinken und hielt sich an Backbord und Steuerbord fest, denn das Boot begann bedenklich zu kippen.

Buisson und die anderen saßen in dem zweiten Boot und konnten sich ein Lachen kaum verkneifen. Aber es mochte wohl der Gedanke an das sein, was bevorstand, der sie daran hinderte, laut loszuprusten.

Willem, die Witzfigur, wurde einer mächtigen Tonne gleich zur „Caribian Queen“ gepullt. Aber er war doch nicht nur witzig, dieser Willem Tomdijk, er war auch ein Schlitzohr und eine Krämerseele und rechnete sich sofort sämtliche Vorteile aus, die ihm durch das Auftauchen der Queen und ihrer Schiffe geboten wurden.

Schließlich mußte der Mensch zuallererst an sein persönliches Wohlergehen denken. Nach diesem Prinzip handelte Willem. Er hatte in der ehemaligen spanischen Mission von El Triunfo, die sein Hauptquartier war, eine Bierbrauerei eingerichtet. Davon lebte er.

Im übrigen verfuhr er nach dem Grundsatz, daß es ihm nur dann gutging, wenn das auch für alle anderen in seiner näheren Umgebung zutraf. Leben und leben lassen! Kein Mann in der frauenlosen Siedlung hatte je bereut, diesen Dicken zum Bürgermeister gewählt zu haben. Er nahm eine neutrale Stellung ein und wußte Entscheidungen durch Abstimmungen souverän herbeizuführen – das mußte man ihm lassen.

Die Boote schoben sich an der Bordwand der „Caribian Queen“ längsseits. Alle Insassen enterten an der bereithängenden Jakobsleiter auf, nur für Willem mußte schleunigst ein Bootsmannsstuhl abgefiert werden, ohne den er es nicht geschafft hätte, an Bord der Galeone zu gelangen.

Ein paar Flüche der Piraten, die Willem mittels der Taue hochhievten, ein sattes Schnaufen und Ächzen des Bürgermeisters, dann stand er auf dem Hauptdeck der „Caribian Queen“ und schaute sich vergnügt um.

Die Queen stand vor ihm und stemmte die Fäuste in die Seiten.

„Nun?“ fragte sie ihn. „Wie gefällt dir mein Reich?“

„Sehr gut, ich sagte es wohl schon.“

„Du siehst, wir haben hier sehr viel Platz.“

Er grinste. „Auf beiden Schiffen können gut und gern zweihundert Menschen befördert werden – was sage ich! Dreihundert!“

„Langsam, langsam“, sagte sie lachend. „Wir wollen die Einzelheiten unseres Planes erst noch eingehend besprechen. Wie wäre es mit einem Begrüßungstrunk?“

Etwas wehleidig verzog Willem sein rosiges Jungengesicht. „Im Moment kann ich höchstens einen Schluck Wasser annehmen.“

Caligula und die anderen Kerle, die sie umringten, lachten grölend. Willem betrachtete sie der Reihe nach. Auch Jaime Cerrana war inzwischen eingetroffen. Er hatte sich in dem Boot der „Aguila“ übersetzen lassen, denn er wollte sich nicht entgehen lassen, den Bürgermeister von El Triunfo persönlich zu begrüßen.

 

Es wurden also reihum die Hände geschüttelt, dann begann die Besichtigung der „Caribian Queen“. Willem bedachte Cerrana mit einem etwas mißtrauischen Seitenblick. Wer war dieser Kerl? Ein Spanier?

Er würde sich noch genauer über ihn informieren müssen. Jeder Spanier war in El Triunfo verhaßt, die Spanier waren die erklärten Feinde der englischen und französischen Siedler. Von ihnen konnte nur Unheil drohen.

Im Achterdeckssalon des Zweideckers legte die „Delegation“, die aus der Queen, Caligula, Buisson, Willem und den vier Leibwächtern bestand, vorerst eine Rast ein.

Willem ließ sich seufzend auf der Koje der Queen nieder, ohne viel zu fragen, breitete die Arme aus und sagte: „Queen, es ist das schönste Schiff, das ich je gesehen habe.“

In der Tat war er ganz besonders von diesem Salon angetan. Sofort bewegten sich seine Gedanken wieder in eine bestimmte Richtung. Wie würde es wohl sein, wenn er hier nächtigte, und wenn sie, die Black Queen, im Dunkeln sein Quartier betrat, nur bekleidet mit diesem lächerlichen Fetzen von einem Lendenschurz?

Sie schien seine Gedanken zu erraten und lächelte ihm aufreizend zu. „Vielen Dank für deine lobenden Worte. Selbstverständlich stelle ich dir meine Kammer für die Überfahrt nach Tortuga und Hispaniola zur Verfügung. Ich tue das gern für dich, Willem.“

„Danke. Tortuga und Hispaniola – das also ist das Land, wo wir alle sicher sind?“

„Ja.“

„Wir laufen aus und segeln davon, Bürgermeister?“ fragte einer der Leibwächter. „Das war uns noch gar nicht bekannt.“

„Moment mal, Moment mal“, sagte Willem. „Nur keine übertriebene Hast. Wir stimmen darüber noch ab, wie sich das gehört. Und wir fassen auch einen Beschluß, der die Schiffe betrifft. Es wäre wohl richtiger, sie in den Hafen zu verholen.“

„Und wenn die Spanier inzwischen angreifen?“ fragte Georges Buisson. „Dann liegen die ‚Caribian Queen‘ und die ‚Aguila‘ dort in der Falle.“

„So schnell rücken die Spanier, diese Hundesöhne, nicht an“, sagte Willem.

„Da würde ich nicht so sicher sein.“ Die Black Queen hatte eins der Schapps geöffnet und nahm eine große Flasche Wein und dickbauchige Kelche heraus, die sie verteilte. „Ich habe es dir schon gesagt, Willem, es ist stündlich mit ihrem Angriff zu rechnen. Jaime Cerrana kann es dir bestätigen.“

„Ja, Cerrana.“ Willem nahm den Kelch mit süffigem spanischem Rotwein nur zögernd entgegen. Doch als sie anstießen und er den ersten Schluck kostete, konnte er nicht umhin, den Rest gleich in einem Zug die Kehle hinunterzustürzen. „Dieser Cerrana“, sagte er. „Was ist das überhaupt für ein Mensch?“

„Ein spanischer Rebell und mein Verbündeter“, erwiderte die Queen. „Ich kann mich voll und ganz auf ihn verlassen. Auch das habe ich dir schon gesagt, Willem.“

„Wann?“

„Heute nacht.“

„Ach ja, richtig, heute nacht.“ Der Dicke grinste. Jetzt, nachdem das Schädelbrummen aufgehört hatte, war die Erinnerung an die Bier-und-Gürteltier-Orgie wieder etwas ungemein Angenehmes. Entschlossen erhob er sich. „Fahren wir also fort mit der Besichtigung der Schiffe, damit wir zu einem Abschluß gelangen. Ich nehme doch an, daß es hier auch genügend Raum für meine Bierfässer und die Brauerei-Ausstattung gibt?“

„Aber natürlich.“ Sie führte ihn in die tiefer gelegenen Decks der Galeone, und hier konnte Willem die Stauräume in Augenschein nehmen, die wahrhaftig enorm groß wirkten. Ein neues Ziel schwebte ihm vor. Auf Tortuga oder Hispaniola, das stand schon jetzt für ihn fest, würde er so schnell wie möglich eine neue Brauerei aufbauen.

Die Black Queen begann jetzt, ihm die Zukunft unter ihrer Herrschaft in den buntesten und schönsten Farben zu malen. Bereitwillig ging er darauf ein und sah sich unter anderem schon als Inhaber des Biermonopols für den Machtbereich der Queen.

Etwas Besseres konnte ihm, Willem Tomdijk, gar nicht geschehen. Er war somit bereit, auf jeden Fall mit Nachdruck für die Umsiedlung zu stimmen. Er rechnete auch nicht damit, daß es viele Gegenstimmen geben würde.

Eine Ansprache hatte er bereits gehalten. Die Männer hatten nur Augen für die Queen gehabt. Sie würden sich ihrem Kommando anschließen, da hatte er keine Zweifel. Außerdem war sich jedermann in El Triunfo der Bedrohung durch die Spanier bewußt – mit all ihren Konsequenzen. Das Dasein der Engländer und Franzosen in El Triunfo konnte nicht mehr von langer Dauer sein. Schon zu lange überfielen sie vorbeisegelnde Schiffe, die Siedlung war den Machthabern in Cartagena ein Dorn im Auge. Sie sollte völlig zerstört werden. Honduras – so hatten die Spanier dieses Land getauft – sollte wieder ganz spanischer Besitz werden, ohne „störende Umtriebe“.

Unter einigen Komplikationen wurde Willem Tomdijk in die Jolle abgefiert und dann zur „Aguila“ hinübergepullt. Jaime Cerrana übernahm es, den Dicken überall an Bord der Kriegsgaleone herumzuführen.

Auch die „Aguila“ war ein prachtvolles Schiff. Willem hatte das bereits festgestellt und erhielt jetzt die Bestätigung dafür. Der Dreimaster war gut in Schuß, die Decks und das Rigg waren tadellos in Ordnung.

Nur diese Spanier gefielen ihm nicht besonders. Die Black Queen und Caligula aber, die ihn auch jetzt begleiteten, überzeugten ihn davon, daß Jaime Cerrana und die ganze Crew in ihrer Eigenschaft als Meuterer mit den eigenen Landsleuten nicht mehr viel im Sinn hatten.

„Sie haben den Kapitän und die Offiziere getötet, ebenso die meisten Seesoldaten“, sagte die Queen. „Ist das nicht Beweis genug, wie sehr auch sie Spanien hassen?“

„Ja“, erwiderte Willem. „Eigentlich schon.“ Und damit gab er sich zufrieden.

Zu Fuß kehrte die Gruppe wenig später nach El Triunfo zurück. Willem wollte erst die Siedler versammeln und abstimmen lassen, dann sollte entschieden werden, ob die „Caribian Queen“ und die „Aguila“ in die Hafenbucht verholt wurden oder nicht.

Die Black Queen und Caligula begleiteten den Bürgermeister wieder. Die Queen wollte genau verfolgen, wie die Versammlung verlief. Nicht zuletzt war sie auch immer noch neugierig auf die Schätze, die im Keller der Mission verborgen gehalten wurden.

Unruhig schritt Siri-Tong auf dem Achterdeck der „Le Vengeur III.“ auf und ab. Immer wieder blickte sie in den undurchdringlichen Busch, aber dort regte sich nichts, Jean Ribault und Carlos Rivero kehrten nicht zurück.

Sie blieb bei Barba und dem Rudergänger Jenkins stehen. „Es wird Zeit, daß wir etwas unternehmen.“

„Ja, Madam“, pflichtete ihr Barba, der bärtige Riese, sofort bei. „Zu viele Stunden sind vergangen. Vielleicht ist Ribault und dem Spanier etwas zugestoßen.“

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