Seewölfe - Piraten der Weltmeere 312

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 312
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-709-9

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1.

Kein Mensch an Bord der „Isabella IX.“ hatte auch nur geahnt, daß ausgerechnet Philip und Hasard junior, die Söhne des Seewolfs, in der finnischen Hafenstadt Abo derart hart herausgefordert und beansprucht werden würden – am allerwenigsten sie selbst. Seit sie an Land gegangen waren, hatte es Hiebe und Schläge gehagelt, und schließlich war Hasard junior sogar von dem rachsüchtigen Paavo Korsumäki und dessen Kumpanen entführt worden.

Doch auch diese Episode hatte ein gutes Ende gefunden. Ebenso war die letzte Rauferei mit den vier „finnischen Lümmeln“ siegreich für die jungen Seewölfe verlaufen. Wieder war nun eine „Schlacht“ geschlagen, die Zwillinge kehrten auf ihr Schiff zurück.

Sie waren ein bißchen angekratzt, aber sie grinsten trotzdem verwegen. Verschwitzt und verdreckt waren sie, bluteten aus ein paar Kratz- und Schürfwunden und hatten wunderschön anzusehende, schillernde Veilchenaugen als Trophäen aus ihrer Auseinandersetzung mit den Hafenjungen mitgebracht. Aber sie lachten wie zwei Teufel, die geradewegs der Hölle entsprungen waren.

Plymmie, die junge Wolfshündin, hatte ebenfalls kräftig mit eingegriffen und lief mit heraushängender Zunge neben den beiden her. Nie würde sie vergessen, daß die beiden Jungen sie vor einem bösen Ende bewahrt hatten, immer wieder gab sie ihrer Dankbarkeit Ausdruck. Neben Arwenack, dem Schimpansen, und Sir John, dem Aracanga, war sie nun das dritte Tier auf der „Isabella“, und sie hatte sich innerhalb der kurzen Zeit an Bord bereits gut eingelebt.

Es war der Morgen des 13. März 1593. Die „Isabella“ lag nach wie vor an einer Pier des Hafens von Abo vertäut, denn die Mission des Seewolfs war noch nicht erfüllt. Das Ostseegebiet sollte er neu erkunden, Handelsbeziehungen mußten im Auftrag der englischen Königin angeknüpft werden, so lautete die geheime Order, die bei Skagen geöffnet worden war. London wollte – unter Ausschluß der Hanse – künftig jegliche Art von Waren direkt in den Ländern des Baltikums einkaufen.

Lord Gerald Cliveden, der Sonderbeauftragte des englischen Königshauses, hatte es eines Korsaren als durchaus würdig empfunden, die erforderlichen Kontakte zu vermitteln. Deshalb hatte er Philip Hasard Killigrew in Plymouth die Ledermappe mit den Anweisungen übergeben und ihn auf diese Reise geschickt, die voller haarsträubender Überraschungen war.

Hasard stand auf dem Achterdeck der „Isabella“. Er hatte den Kampf seiner Söhne gegen die Finnenjungen in allen Phasen mitverfolgt. Er mußte selbst grinsen, als sie über die Stelling an Bord gingen und Plymmie hechelnd hinter ihnen herlief.

Ben Brighton, der Erste Offizier und Bootsmann, wandte sich am Backbordschanzkleid des Quarterdecks um, schüttelte den Kopf und lachte verhalten. Er blickte zu Hasard auf und sagte: „Es war also doch richtig, daß wir nicht mit eingegriffen haben, oder?“

„Natürlich“, erwiderte Hasard. „Jungen müssen ihre Streitigkeiten untereinander austragen.“ Er verließ das Achterdeck und stieg auf das Hauptdeck hinunter, um vor allen Dingen Hasard junior zu begrüßen, der sich allein aus Korsumäkis Inselgefängnis befreit und dann den Weg zurück zur „Isabella“ gefunden hatte.

Der Junge erzählte, wie sich alles zugetragen hatte, und wieder wurde reihum gelacht. Der Kutscher und Mac Pellew streckten die Köpfe aus dem Kombüsenschott. Sie erhielten sofort den Befehl, eine Extraration dänischen Aquavits auszuteilen, zur Feier des Tages.

Edwin Carberry, der Profos, kratzte sich angelegentlich an seiner Kopfstreifschußnarbe, dann trat er mit einem grunzenden Laut der Genugtuung vor die Zwillinge hin.

„Na, das habt ihr ja fein hingekriegt, ihr Sprotten“, sagte er. Und zu Hasard junior: „Aber wir haben dir auch was zu berichten, Söhnchen. Rate mal, wer bei uns in der Vorpiek hockt.“

„Dieser Korsumäki vielleicht?“

Carberrys Unterkiefer sank herab. „Hölle und Teufel, woher weißt du das?“

„Ich hab’s geraten“, verkündete Hasard junior fröhlich. „Schließlich habe ich ja die beiden Jollen noch gesehen, die eben zur ‚Isabella‘ zurückgekehrt sind. Da habe ich mir einiges denken können. Ihr habt nach mir gesucht, nicht wahr? Und dabei habt ihr den Kerl geschnappt. Vielleicht auch gleich noch ein paar von seinen Kumpanen?“

„Ja“, entgegnete sein Bruder. „Drei. Sie können jetzt mit Korsumäki zusammen darüber nachdenken, was für Blödmänner sie sind.“

„Hol’s der Henker!“ stieß Carberry aufgebracht hervor. „Euch kann man aber auch gar nichts mehr vormachen, wie? Werdet mir aber bloß nicht zu üppig, ihr Prielwürmer, sonst geht’s rund. Und paßt ja auf, daß eure Plymmie nicht die Kuhl mit Pfützen bewässert.“

„Aye, aye, Sir“, sagten die Zwillinge wie aus einem Mund.

„Ed, trink gefälligst deinen Aquavit“, sagte der Seewolf. „Wir wollen uns stärken, dann sehen wir weiter. Allzulange will ich nicht mehr in Abo bleiben.“

Carberry nahm die Muck mit dem guten dänischen Schnaps von Mac Pellew entgegen. Die anderen hatten ihre Ration inzwischen gekippt, unter ihnen auch Big Old Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister von Arwenack-Castle. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und sagte: „Das ist ganz in unserem Sinn. Uns geht diese Stadt nämlich langsam auf den Geist.“

Der Seewolf enthielt sich jeder weiteren Äußerung und gab dem Kutscher und Mac Pellew nur noch durch eine Gebärde die Anweisung, die Zwillinge zu verarzten. Danach zog er sich in seine Kammer im Achterkastell zurück, um seine nächsten Schritte sorgfältig zu überdenken.

Er wußte ja selbst, daß er einen Fehler begangen hatte, als er Paavo Korsumäki nach der Ankunft in Abo hatte von Bord gehenlassen – dazu noch mit einem Beutel voller Silbermünzen. Er hatte ihn fair behandelt, aber damit hatte das Unheil eigentlich erst richtig begonnen.

Korsumäki war wild, primitiv und außerordentlich gefährlich. Er hatte mit Hilfe seiner Kerle die „Isabella“ vereinnahmen wollen, und er würde auch weiterhin für Aufruhr sorgen, wenn er nicht eingesperrt blieb.

Hasard hatte allerdings nicht das geringste Verlangen, die vier Finnen länger an Bord der „Isabella“ zu behalten. Zu frisch war noch die Erinnerung an Matti Hakulinen und dessen Höllenbande, die sich nach ihrer Rettung durch einen tollkühnen Bubenstreich tatsächlich in den Besitz der „Isabella“ gebracht hatten.

Paavo Korsumäki und seine drei Kumpane mußten von Bord, und zwar sofort. Diesen Entschluß faßte der Seewolf, und er wußte auch schon, wie er die lästigen Kerle loswurde.

Philip und Hasard junior hatten sich in den Krankenraum begeben, der sich an der Backbordseite des Vorkastells befand. Der Kutscher und Mac Pellew versorgten die beiden Kampfhähne, und natürlich enthielten sie sich dabei nicht der entsprechenden lehrmeisterlichen Kommentare.

„Der Apfel fällt nun mal nicht weit vom Stamm“, sagte der Kutscher lächelnd. „Haben wir das nicht schon immer gewußt, Mac?“

„Ja“, antwortete Mac Pellew mit der üblichen säuerlichen Miene. „Es ist ja auch kein Wunder. Aber was soll aus solchen Jungen werden, die sich schon am frühen Morgen auf fremden Kais herumprügeln?“

„Schiffskapitäne“, erwiderte Hasard junior. „Was denn sonst?“

„Da seh ich aber schwarz“, sagte Mac. „Carberry hat ganz recht. Euch sticht mächtig der Hafer. Das geht noch übel aus.“

Der Kutscher wusch Philip juniors letzte Kratzwunde an der linken Wange aus, dann warf er einen Blick auf Plymmie, die brav und sittsam in einer Ecke des Raumes hockte, dabei aber drohend zu Mac Pellew aufsah.

Mac hatte dies inzwischen auch bemerkt und fragte: „Sagt mal, Leute, versteht eure Hündin jetzt schon Englisch?“

„Jedes Wort“, entgegnete Philip junior mit ernster Miene. „Ich an deiner Stelle würde da aufpassen, Mac. Sie kann es nicht leiden, wenn man uns irgendwie kritisiert.“

„Da habt ihr auch was Schönes angerichtet“, brummte Mac. „Einen Bordhund haben wir. Ist ja herrlich. Wie wär’s mit einer Katze? Die könnten wir auch noch brauchen, und Plymmie hätte bestimmt auch seine Freude daran, sie kreuz und quer durchs Schiff zu jagen.“

Der Kutscher lachte. „Mac, hör auf zu stänkern. Du weißt genau, daß es Schiffe gibt, auf denen Schweine und Hühner gehalten werden. Du hast also keinen Grund, dich zu beschweren.“

„Ja, das finden wir auch“, sagte Hasard junior. „Außerdem meckern wir ja auch nicht über die Fische, die du in der Kombüse bändigst, Mac.“

„Ich bändige keine Fische, ich nehme sie aus und bereite sie zu“, erklärte Mac Pellew mit Würde. „So, und jetzt wird’s Zeit, daß ihr euch zur Arbeit an Deck meldet, ihr Frischlinge.“

 

Auf dem Hauptdeck ertönte jetzt auch Carberrys dröhnende Stimme.

„Alle Mann an Deck!“ schrie er. „Rollt an, ihr Säcke! Wird’s bald? Ich will eure Füße qualmen sehen oder es gibt Zunder! Der Kapitän hat euch was zu sagen!“

Prompt verließen die Zwillinge den Krankenraum wieder, und Plymmie trottete hinter ihnen her. Der Kutscher und Mac Pellew grinsten sich zu, dann traten auch sie auf das Hauptdeck hinaus. Selbstverständlich waren ja auch sie heilfroh, daß Hasard junior wieder an Bord war und seine Entführung durch Korsumäki so glimpflich abgelaufen war. Daß er sich selbst aus seiner mißlichen Lage befreit hatte, zählte dabei besonders. Mit anderen Worten, die Zwillinge waren wieder einmal mächtig in der Achtung der Männer gestiegen. Mac Pellew hatte seine ganz persönliche Art, Anerkennung und Freundlichkeit auszudrücken, aber daran hatten Philip und Hasard junior sich längst gewöhnt.

Der Seewolf stand an der Schmuckbalustrade des Quarterdecks und sah zu seinen Männern hinunter, die sich jetzt rasch um die achtere Gräting des Hauptdecks versammelten.

Er wartete, bis Ruhe eingetreten war, dann sagte er: „Ihr wißt, daß Ferris und ich um zehn Uhr bei dem Reeder und Kaufmann Heikki Lahtinen angesagt sind, damit wir das Holz besichtigen können, das wir kaufen wollen. Vorher aber will ich Korsumäki und dessen drei Spießgesellen loswerden. Sten, du gehst deshalb sofort zum Stadtkommandanten von Abo und teilst ihm mit, daß wir den Kerl hier in Gewahrsam haben.“

„Aye, Sir“, sagte Stenmark, der Schwede. „Lahtinen hatte uns ja ohnehin zugesagt, daß der Kommandant Korsumäki gern hinter Schloß und Riegel hätte.“

„Eben. Ich selbst sehe keinen Anlaß, Korsumäki wegen der bisherigen Vorfälle anzuklagen.“

„Auch wegen Hasard juniors Entführung nicht?“ fragte Ferris Tukker, der Schiffszimmermann der „Isabella“, einigermaßen verblüfft. „Deswegen hätte er mindestens zwölf Hiebe mit der Neunschwänzigen verdient.“

Hasard schüttelte den Kopf. „Sie haben ihre Prügel bereits erhalten, das genügt. Sollen doch die Finnen – oder die Schweden, denn das Land steht ja unter schwedischer Verwaltung, wie ich erfahren habe – selbst zusehen, was sie mit dem Kerl anfangen.“

„Ganz meine Meinung“, pflichtete Ben Brighton ihm bei. „Korsumäki ist offenbar so etwas wie ein Häuptling der Inselbewohner vor der finnischen Südküste. Also sind die einheimischen Behörden für ihn zuständig.“

Damit war jede weitere Debatte unterbunden, und Stenmark brach auch sofort auf, um den Stadtkommandanten aufzusuchen. An Bord der „Isabella“ verstrich knapp eine Viertelstunde mit den üblichen Routinearbeiten, dann kehrte Stenmark bereits wieder zurück – in Begleitung von sechs Gendarmen, die im Gleichschritt auf die Pier marschierten und an der Stelling hielten. Sie setzten ihre Musketen ab und blieben abwartend stehen.

Stenmark, der die finnische Sprache gut beherrschte, hatte keinerlei Schwierigkeiten gehabt, sich mit dem Stadtkommandanten von Abo zu verständigen.

„Der Mann heißt Eino Pekkanen, Sir!“ sagte er zu Hasard. „Ich habe es eben erfahren. Er wäre gern selbst erschienen, ist heute vormittag aber leider unabkömmlich. Er läßt dir aber ausrichten, daß er sich erlauben wird, sich noch persönlich bei dir für den guten Fang zu bedanken.“

„In Ordnung“, sagte der Seewolf. „Die Hauptsache ist, daß wir die Kerle los sind. Ed, laß sie aus der Vorpiek holen.“

Der Profos suchte mit Blacky, Batuti, Gary Andrews und Sam Roskill das Vordeck auf, öffnete selbst das Schott der Vorpiek und forderte die vier Finnen durch unmißverständliche Gesten dazu auf, sich an Oberdeck zu begeben.

Der bärtige Paavo Korsumäki sprach kein Wort. Auch seine Kumpane schwiegen. Mit finsteren Mienen traten sie auf das Hauptdeck und wurden hier von den übrigen Seewölfen in Empfang genommen.

Auf Hasards Wink hin kamen nun auch die Gendarmen an Bord. Der Anführer der kleinen, eigentümlich uniformierten Gruppe sagte etwas Barsches und überprüfte die Handfesseln, die Hasard den Gefangenen hatte anlegen lassen. Dann nickte er, bedankte sich mit ein paar Worten, die Stenmark wiederum übersetzte, und der Trupp verließ das Schiff.

Plymmie begann zu knurren. Fast schien es, als wolle sie sich auf Korsumäki und dessen drei Kerle stürzen. Die Zwillinge redeten jedoch besänftigend auf sie ein. Sie beruhigte sich wieder, richtete sich jedoch am Schanzkleid auf und legte die Vorderpfoten auf die Handleiste. So verfolgte sie, wie die Kerle zum Kai hin abgeführt wurden.

Auch die Männer der „Isabella“ beobachteten den Abmarsch des Gendarmenkommandos mit den Gefangenen, und es entging ihnen nicht, daß im Hafenviertel Menschen zusammengelaufen waren. Sie scharten sich um die Gendarmen und die vier Gefangenen und begleiteten sie.

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte Old O’Flynn, der soeben neben Hasard, Ben Brighton, Ferris Tucker und Big Old Shane getreten war. „Braut sich da wieder was zusammen?“

„Ich fürchte, diesmal hast du recht, Donegal“, erwiderte der Seewolf. „Die Leute scheinen Korsumäki zu kennen. Sie sind aber nicht erschienen, um ihn zu verprügeln – ganz im Gegenteil.“

„Stimmt nicht ganz“, sagte Dan O’Flynn und spähte aus schmalen Augen zum Kai hinüber. „Da werden auch Fäuste gegen diesen verlausten Inselhäuptling geschüttelt, ich sehe es ganz deutlich.“

„Ja, aber schau dir mal die Gruppe von Männern an, die drüben auf die Gendarmen zurückt“, sagte der Seewolf. „Ein gutes Dutzend Kerle. Sie pöbeln die Gendarmen an. Das sind Korsumäkis Anhänger.“

„Einer spuckt vor den Gendarmen aus, Sir!“ rief Bill, der eben in den Hauptmars aufgeentert war und aufmerksam zum Hafen hin Ausschau hielt. „Und ein anderer hat versucht, einen der Uniformierten anzurempeln!“

Das Stimmengewirr, das beim Eintreffen des Trupps im Hafenviertel eingesetzt hatte, schwoll jetzt an. Rufe wurden laut, Flüche wurden ausgestoßen. Ein paar Frauen wichen ängstlich zurück, jemand verzog sich in einen Hauseingang. Die Anhänger Korsumäkis aber drangen jetzt massiv auf die Gendarmen ein.

„Eine Prügelei“, sagte Dan O’Flynn. „Soll der Teufel diesen Korsumäki holen! Wer hätte das geahnt?“

„Sir!“ schrie der Profos. „Was tun wir? Greifen wir da ein?“

„Nein“, entgegnete der Seewolf. „Keiner rührt sich vom Fleck.“

So hielt er seine Männer zurück, denen es wieder ganz erheblich in den Fäusten juckte. Hasard wollte sich nicht einmischen, er wollte Zuschauer bleiben und war davon überzeugt, daß die Gendarmen Verstärkung erhalten würden.

Hier täuschte er sich jedoch. Es kam anders, als er gedacht hatte.

2.

Paavo Korsumäki nutzte die Lage voll aus. Die Gendarmen setzten sich energisch gegen die Angreifer zur Wehr und schlugen mit den Kolben ihrer Musketen nach ihnen.

Der Anführer des Trupps, ein Sergeant, zog soeben seinen Degen und schrie: „Zurück, oder ihr landet alle im Kerker!“

Die Antwort der Raufbolde war ein einstimmiges Grölen. Korsumäki blickte zu seinen drei Kumpanen, dann duckte er sich und rammte dem Gendarmen, der ihm am nächsten stand, den Ellenbogen in den Bauch. Der Mann krümmte sich und ließ seine Muskete fallen.

Einer von Korsumäkis Kumpanen trat darauf, es gab einen knirschenden Laut. Das Handgemenge fing jetzt erst richtig an, und die Uniformierten hatten ihre liebe Not, sich gegen die fast fünfzehn Kerle zur Wehr zu setzen, die gegen sie vordrangen.

Korsumäki trat einem Mann der Garde mit voller Wucht gegen das Schienbein, verschaffte sich Bewegungsspielraum und wich nach links aus. Seine Anhänger deckten ihn. Plötzlich war er im dichten Gewühl verschwunden. Seine Kumpane folgten ihm.

Der Sergeant versuchte, etwas gegen die Flucht seiner Gefangenen zu unternehmen, doch die Gegner drängten ihn immer weiter zum Kai hin ab und drohten, ihn ins Wasser zu stoßen.

Jemand trennte Korsumäkis Handfesseln mit einem scharfen Finnendolch durch. Genauso verfuhren die Helfer mit den Stricken, die die Hände der drei Kumpane zusammenhielten. Jetzt waren die Kerle frei, und nichts konnte sie mehr aufhalten. Abgeschirmt und gedeckt von ihren Anhängern, tauchten sie in den Gassen des Hafenviertels unter.

Dort, wo die Anhängerschar der Stadtgarde angegriffen hatte, tobte inzwischen eine gewaltige Prügelei. Es hagelte Hiebe, und einer der Gendarmen flog ins Wasser, wo er mit einem hallenden Klatscher verschwand. Prustend tauchte er wieder auf und kehrte schwimmend zum Kai zurück.

Der Sergeant ließ einen Musketenschuß in die Luft abgeben, doch auch das nutzte nichts. Er kämpfte auf verlorenem Posten. Die Anhänger Paavo Korsumäkis hatten die Oberhand gewonnen, sie johlten und fluchten, lachten und brüllten. Einer hieb dem Sergeanten einen Knüppel gegen den Degen. Der Degen klirrte auf die Katzenköpfe des Kais, der Sergeant war entwaffnet und bezog selbst schwere Prügel.

Einige Bewohner der Stadt, die nicht auf Korsumäkis Seite standen, hatten inzwischen Mut gefaßt und griffen mit ein, doch auch sie hatten gegen die Anhängerschar, die ständig Zuwachs zu erhalten schien, keine Chance. Der Kampf brandete hin und her, ein Höllenlärm wehte von den Gebäuden und der Kaianlage zur „Isabella“ hinüber.

„Verdammt!“ rief Carberry. Er stand am Schanzkleid und hatte beide Hände zu Fäusten geballt. „Wie lange wollen wir uns das noch mit ansehen?“

„Den vier Hurensöhnen ist die Flucht gelungen !“ stieß Big Old Shane erbost hervor. „Auf was warten wir? Schnappen wir sie uns wieder!“

„Zu spät“, sagte der Seewolf. „Sie kennen die Unterschlupfmöglichkeiten in der Stadt und haben Hilfe gefunden. Wir können sie nicht mehr aufstöbern.“ Er blickte zu Carberry und den anderen Männern auf dem Hauptdeck und rief: „Noch einmal – ihr bleibt, wo ihr seid! Überlassen wir es den Gendarmen, nach Korsumäki zu fahnden!“

Wütend war er dennoch, genau wie seine Männer. Paavo Korsumäki hatte sie während der letzten Tage erheblich genervt, mit seinen Angriffen auf die „Isabella“, angefangen bei dem Kampf an der Insel mit dem Runenstein bis hin zur Verschleppung von Hasard junior. Endlich hatten sie den Kerl und seine Kumpane gefaßt – und jetzt das! Er war wieder frei und konnte neue Schandtaten aushecken.

Hasard wandte sich an Ben Brighton, Shane, Ferris und die beiden O’Flynns. „Wir müssen von jetzt an wieder höllisch aufpassen. Das bedeutet erhöhte Aufmerksamkeit, und natürlich müssen wir die Wachen entsprechend verstärken.“

„Aye, aye“, sagte Ben. „Ich treffe sofort die nötigen Vorbereitungen und teile die Männer neu ein.“

Die Prügelei im Hafenviertel brandete immer noch hin und her, doch es schien sich inzwischen eine Wende abzuzeichnen. Die Zahl der Korsumäki-Verbündeten schrumpfte zusammen, nach und nach schienen sich die Kerle zu den Gassen hin zurückzuziehen, in denen die vier befreiten Gefangenen verschwunden waren. Ein echter Anlaß, sich mit der Garde herumzuschlagen, bestand jetzt nicht mehr, zumal diese immer mehr Unterstützung von der Bevölkerung erhielt.

Auch der Schuß, den der Sergeant hatte abfeuern lassen, mußte in der Stadtkommandantur gehört worden sein, wenn man das Gebrüll der Menge schon nicht vernommen hatte. Deshalb war es mehr als logisch, daß die ersehnte Verstärkung endlich anrückte.

Hufgetrappel erklang, und mit einemmal sprengte ein Pulk uniformierter Reiter zwischen den Häusern hervor. Degen und Säbel blitzten auf, Musketen wurden geschwenkt, Rufe schallten zur „Isabella“ herüber. Wie ein Spuk waren die Gegner der Gendarmen plötzlich verschwunden, übrig blieben nur diejenigen Bürger der Stadt, die der Garde geholfen hatten.

Ein Gendarm wurde noch hastig aus dem Hafenwasser gefischt, dann gruppierte sich die Garde neu, und die Verfolgung der flüchtigen Gefangenen wurde unverzüglich aufgenommen. Die Reiter und die sechs Gendarmen zu Fuß entfernten sich, ihre Gestalten wurden von den Einmündungen der Gassen aufgenommen. Huf- und Schrittgeräusche verklangen. Bald waren auch die letzten Bürger vom Kai verschwunden. Er war wie leergefegt, als sei nie etwas geschehen.

„Drücken wir den Gendarmen die Daumen, daß sie die Kerle so schnell wie möglich wieder erwischen“, sagte Hasard. „Solange man uns unbehelligt läßt, greifen wir nicht ein. Ferris, Sten, haltet euch bereit, wir brechen jetzt zu Heikki Lahtinen auf.“

Das Handelshaus von Heikki Lahtinen stand an der Linnan Katu, an der Straße von Abo also, die sich von Nordosten her ganz am Aura-Fluß entlangzog und dessen Verlauf bis zur Mündung in das Hafenbecken folgte. Auf dem Weg zu ihrem Verhandlungspartner schauten sich Hasard, Ferris und Sten-mark immer wieder nach allen Seiten um. Konnte es nicht sein, daß Paavo Korsumäki, der ewig Rachelüsterne, irgendwo auf der Lauer lag, um über sie herzufallen?

 

Sie mußten damit rechnen, denn Korsumäki würde nichts Eiligeres zu tun haben, als einen neuen Angriff gegen seine erklärten Todfeinde zu organisieren. Gelang es ihm, sich vor den Gendarmen zu verbergen, so würde er sofort seine drei Kumpane und die Verbündeten von Abo um sich versammeln und neue Pläne schmieden.

Vorläufig geschah jedoch nichts, ungehindert erreichten die Männer der „Isabella“ das Handelshaus. Hier wurden sie von dem weißhaarigen Heikki Lahtinen bereits erwartet. Höflich bat er sie in sein Kontor, wo sie Platz nahmen und den Begrüßungsschnaps tranken, den er ihnen servierte. Wie bei ihrem ersten Besuch war Lahtinens Benehmen auch diesmal distinguiert. Er war ein honoriger Mann, fast feinsinnig und ohne Zweifel sehr intelligent. Hasard schätzte sein Alter auf Mitte der Sechzig. Für diesen Mann hatte er auf den ersten Blick Sympathie empfunden, und wenn es einen Typ des ehrbaren Kaufmanns gab, so verkörperte Lahtinen ihn mit überzeugender Vollendung.

Lahtinen sprach langsam und deutlich akzentuiert. Stenmark verstand jedes Wort und übersetzte ins Englische, wie er auch ins Finnische übertrug, was Hasard und Ferris sagten.

„Ich bin bereits über alles, was sich im Hafen ereignet hat, im Bilde“, begann der alte Mann. „Natürlich spricht sich alles schnell herum. So weiß ich auch, daß Sie es waren, meine Herren, die Korsumäki und dessen Männer gefangennahmen. Doch was war der Anlaß dafür?“

Hasard berichtete von den Ereignissen der letzten Nacht, nachdem sein Sohn entführt worden war. Lahtinens Miene veränderte sich, sie drückte Besorgnis aus.

„Ich neige zu der Ansicht, daß der halsstarrige Korsumäki für weiteren Ärger sorgen wird“, sagte er. „Der Mann ist eine Mischung aus Aufrührer, Schnapphahn und Räuberhauptmann. Er beugt sich keinem Gesetz. Er lebt noch in der Welt seiner heidnischen Vorstellungen, verflucht den Gott der Christen und haßt alle Fremden.“

„Was wäre geschehen, wenn er in Abo vor ein Gericht gestellt worden wäre?“ fragte Hasard.

„Das Urteil hätte nur auf Tod durch den Galgen lauten können.“

„Trotzdem läßt sich nicht ableugnen, daß es immer noch Menschen gibt, die sich ihm verschworen haben“, sagte Ferris Tucker.

„Allerdings“, bestätigte Lahtinen. „Das beweist ja seine Befreiung. In dem Kreis um Korsumäki sind Galgenstricke und Schlagetots ebenso vertreten wie beschränkte Hinterwäldler und Insulaner mit eingeengtem Horizont. Sie verstehen, was ich meine?“

„Und ob“, entgegnete der Seewolf. „Wir müssen also auf alles gefaßt sein, wie ich mir gedacht habe. Ich sehe aber nicht ein, daß wir deswegen den eigentlichen Grund unseres Hierseins vergessen sollten.“

Heikki Lahtinen lächelte. „Nun gut. Besichtigen wir also die Ware, an der Sie möglicherweise interessiert sind, meine Herren.“

Sie erhoben sich, verließen den Raum und gingen zu den Lagerschuppen hinüber, die sich hinter dem Handelskontor befanden. Hier lagen die Hölzer aufgestapelt, zu Rundhölzern und Planken verschiedener Stärken zersägt. Ferris befand sich ganz in seinem Element, er schritt zwischen den intensiv nach Harz riechenden Stapeln auf und ab, fuhr mit den Fingern über die Bretter und Planken und zeigte sich von der Güte und Qualität tief beeindruckt.

„So gutem Holz bin ich in England noch nicht begegnet“, sagte er anschließend zu Hasard und zu Stenmark.

„Jetzt übertreibst du aber“, meinte der Seewolf.

„Nein, du kannst mir das ruhig glauben. Das ist erstklassige Ware, man kann fabelhafte Schiffe daraus bauen. Ich an deiner Stelle würde sofort zupacken.“

Hasard blieb vorsichtig. „Hören wir uns erst einmal an, welche Preisvorschläge unser Partner anzubieten hat.“

Stenmark dolmetschte wieder, und Lahtinen fragte: „In welcher Währung soll ich Ihnen den Preis nennen, Kapitän Killigrew? In spanischen Piastern vielleicht? Mit Ihrem englischen Geld kenne ich mich nicht so gut aus.“

„Dafür haben wir eine sehr enge Beziehung zu Piastern“, erwiderte Hasard, und Ferris mußte unwillkürlich grinsen. Stenmark auch – sie hatten beide verstanden, wie dies gemeint war, nämlich ein bißchen zweideutig, weil Hasard durch seine Bemerkung auf die Kämpfe hinwies, die sie gegen Spanier und Portugiesen bestanden hatten.

Der Preis, den Heikki Lahtinen nannte, lag zu Hasards großem Erstaunen weit unter dem, der daheim in England üblich war. Deshalb wurden sie sich schnell handelseinig. Hasard kaufte Eichen- und Fichtenholz – das Fichtenholz für Spieren –, gab die Mengen an, und Lahtinen notierte alle Einzelheiten der Bestellung, während Ferris die einzelnen Partien auswählte.

„Wenn Sie wollen, kann ich das Holz sofort auf Langwagen verladen und zum Hafen transportieren lassen“, sagte der alte Mann.

„Einverstanden.“ Hasard holte einen Lederbeutel mit Gold- und Silbermünzen hervor, den er vorsorglich gleich mitgebracht hatte. „Ich gestehe Ihnen ganz ehrlich, für mich ist es ein glänzendes Geschäft, Mister Lahtinen.“

Er begann, die Münzen abzuzählen, und Lahtinen lächelte wieder. „Ich bin ebenfalls höchst zufrieden“, sagte er. „Nicht nur, weil Sie gleich bezahlen, sondern auch, weil es mir eine Ehre ist, mit einem Mitglied der Von-Manteuffel-Familie handelseinig geworden zu sein.“

Hasard händigte ihm das Geld aus, das Lahtinen wegsteckte, ohne es nachzuzählen. Dann schüttelten sie sich die Hände, und Hasard sagte: „Sie wissen gar nicht, wie viel mir Ihre Wertschätzung und Ihre Freundlichkeit bedeuten. Ich hoffe aufrichtig, daß dies nicht das letzte Mal ist, daß wir uns begegnet sind.“

„Das hoffe auch ich“, sagte der alte Mann, dessen Händedruck erstaunlich fest war. „Aber kommen Sie bitte, ich habe auch das Kartenmaterial besorgt, um das Sie mich gebeten hatten.“

Sie kehrten in das Kontor zurück, und hier überreichte Lahtinen dem Seewolf mehrere Kartenrollen, auf denen vor allen Dingen die vielen kleinen Inseln und Schären vor der Küste von Finnland eingezeichnet waren. Hasard öffnete jede einzelne Rolle und betrachtete das Material eingehend.

„Hervorragend“, sagte er. „Diese Karten werden nicht nur mir, sondern vor allen Dingen auch englischen Handelsfahrern dienlich sein, die in Zukunft Finnland anlaufen sollen.“

„Ich kann mir nur wünschen, daß es möglichst viele sein mögen“, sagte Heikki Lahtinen. „Sie verstehen doch, ich bin in erster Linie Kaufmann und denke entsprechend.“

„Mit dieser Einstellung bin ich inzwischen vertraut“, versicherte ihm der Seewolf. „Wie die Dinge jetzt stehen, glaube ich, daß ich mit guten Nachrichten nach England zurückkehren werde. Über meinen Auftrag kann ich Ihnen nicht mehr verraten, denn er ist geheim. Aber Sie haben sicher auch so erkannt, um was es uns geht.“

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