Seewölfe - Piraten der Weltmeere 303

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 303
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-700-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Eisig blies der Westwind und trieb die „Isabella IX.“ an diesem 3. Februar 1593 durch die grauen Fluten der Nordsee in den Skagerrak. Grimmig kalt war es geworden, die Gestalten auf den Decks waren dick vermummt. Der Schnee, der in der vergangenen Nacht gefallen war, lag noch wie ein Teppich auf der Heckgalerie und der Galion und wollte nicht auftauen.

Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte soeben seine Kapitänskammer verlassen und enterte auf dem Weg über das Quarterdeck das Achterdeck. Ben Brighton, sein Erster Offizier und Bootsmann, stand ganz achtern an der Heckreling, und im Ruderhaus, das die Männer vor zwei Tagen um das Ruderrad herum aufgebaut hatten, waren die Gesichter von Pete Ballie, dem Rudergänger, und Nils Larsen, dem dänischen Bootsmann aus der Crew von Jean Ribault, zu erkennen. Hasard schritt auf sie zu.

Ehe er das Ruderhaus betrat, warf er einen Blick in die Runde. Carberry brüllte wie üblich auf dem Hauptdeck herum und purrte die Männer, die zum Wachwechsel angetreten waren, an die Brassen und Schoten. Acht Männer befanden sich zur Zeit auf der Kuhl, auf der Back hielten sich Smoky, der Decksälteste, und Al Conroy auf. Bill hockte im Großmars und versah pflichtgemäß seine Aufgabe als Ausguck. Alle anderen Männer – auch Big Old Shane, Ferris Tucker, die beiden O’Flynns und Roger Brighton – waren unter Deck, wo wegen der bitteren Kälte zwei Öfen in Betrieb gesetzt worden waren.

Hasard mußte unwillkürlich grinsen, denn genau in diesem Moment sagte Pete Ballie zu Nils Larsen: „Hölle und Teufel, wohin geht dieser verflixte Törn bloß? Nach Skagen, gut, soviel wissen wir. Und weiter?“

„Das erfahren wir bald“, entgegnete Nils. „Du wirst dich ja wohl noch ein bißchen gedulden können.“

„Das bestimmt“, sagte Pete. „Aber ich habe den Verdacht, daß uns eine Fahrt durchs Eismeer bevorsteht – wie damals, als wir an Grönland vorbeisegelten und dann die Nordwestpassage fanden. Sollen wir etwa nach einer Nordostpassage suchen? Steht das in der geheimen Order, die Lord Gerald Hasard übergeben hat?“

„Hoffentlich nicht“, brummte Nils. „Sonst hätten wir ja auch gleich dem Wikinger hinterhersegeln können.“

Der Seewolf trat zu ihnen und sagte: „Geht das große Rätselraten wieder los? Ich finde, wir können es uns ersparen. Bald haben wir unser vorläufiges Ziel erreicht. Aber auf große Forschungsreisen, bei denen wir am Ende doch nur zum Narren gehalten werden, lasse ich mich nicht ein, das versichere ich euch schon jetzt.“

Er spielte damit nicht auf die Nordwestpassage an, die sie seinerzeit vom Atlantik in den Pazifik geführt hatte, sondern auf die Abenteuer in Ägypten. Es war noch gar nicht so lange her, daß die Seewölfe mit der „Isabella VIII.“ im Kanal der Pharaonen steckengeblieben waren. Sie hatten das Schiff aufgeben müssen, und die Suche nach dem in Wirklichkeit nicht vorhandenen Seeweg nach Indien war eine totale Niederlage gewesen. Dies hatte Hasard trotz der Erfolge, die er anschließend in Irland und dann in der Bretagne hatte verzeichnen können, nicht vergessen.

Andererseits konnte er sich aber auch nicht vorstellen, daß ausgerechnet Lord Gerald Cliveden, der Sonderbeauftragte der englischen Königin, ihn auf einen Kurs schickte, der ins sichere Verderben führte. Es gab gute Gründe dafür, daß Hasard die versiegelte Mappe, die Cliveden ihm im Hafen von Plymouth ausgehändigt hatte, erst auf der Höhe von Skagen öffnen durfte. Die Erfahrungen mit Easton Terry ließen es dem Hof geraten erscheinen, strengste Geheimhaltung zu wahren. Terry hatte den Seewolf und sogar seine eigene Crew verraten und um ein Haar ans Messer geliefert. Wegen Terry hätte das Unternehmen in der Bretagne platzen können. Aber Hasard war auf der Hut gewesen, er hatte Terry von Anfang an nicht getraut.

Ähnliches sollte sich nicht wiederholen, daher die ganze Geheimnistuerei – obwohl der Seewolf dieses Mal keinen zweifelhaften Verbündeten zur Seite hatte. Selbst Thorfin Njal, auf den er sich voll und ganz hätte verlassen können, befand sich mit „Eiliger Drache über den Wassern“ – dem Schwarzen Segler – längst auf nördlichem Kurs, denn er wollte nach dem sagenhaften Thule suchen, nach den fernen, glücklichen Inseln, von denen er träumte.

Nach dem Abenteuer auf den Ostfriesischen Inseln waren sich die „Isabella IX.“ und der Schwarze Segler noch einmal kurz begegnet, dann aber hatten sie sich wieder getrennt, und der Seewolf war nun auf sich allein gestellt.

Die nahe Zukunft würde zeigen, was vor ihnen lag. Sie alle hatten schon die haarsträubendsten Theorien aufgestellt, doch natürlich konnte keiner ahnen, was die versiegelte Mappe enthielt.

In Plymouth hatte der Seewolf seine Crew durch den Dänen Nils Larsen sowie die beiden Holländer Jan Ranse und Piet Straaten verstärken können, die vorher mit Jean Ribault an Bord des Schwarzen Seglers gewesen waren. Thorfin Njal hatte eingewilligt, und Hasard konnte die drei Männer wirklich sehr gut gebrauchen. Die neue „Isabella“ war größer als das alte Schiff und brauchte eine größere Besatzung. Nils Larsen beherrschte zudem die schwedische und die deutsche Sprache, ein Umstand, der auf der bevorstehenden Reise möglicherweise von großem Nutzen sein würde.

Larsen, Ranse und Straaten waren ehemalige Piraten der Karibik und hatten früher bereits unter Hasards Kommando gedient, ehe sie zu Jean Ribault gestoßen waren. Jean Ribault war in Plymouth geblieben, denn er wollte mit Hesekiel Ramsgate zusammen neue Schiffe auf Stapel legen, die für die Schlangen-Insel bestimmt waren.

Selbstverständlich war es nun Nils Larsen, der in diesen Breiten zu Hause war und „sein“ Gewässer kannte. Deshalb hatte Hasard ihn als Lotsen zu Pete Ballies Unterstützung ins Ruderhaus abkommandiert.

„Wir haben Hanstholm Steuerbord achteraus gelassen, Sir“, erklärte Nils. „Kurs Nordosten liegt nach wie vor präzise an, und wir segeln jetzt an der Jammerbucht entlang.“

Hasard lachte. „Dieser Name ist wirklich zutreffend, denn wenn ich mich nicht täusche, legt der Wind noch ein bißchen zu und die Temperatur sinkt weiter. Die Arwenacks fangen jetzt langsam an zu jammern.“

Pete und Nils lachten, und auch Ben Brighton, der sich inzwischen dem Ruderhaus genähert hatte, setzte eine amüsierte Miene auf.

„Da unterschätzt du deine Crew aber“, sagte er. „Es muß noch um einiges dicker kommen, um sie aus der Fassung zu bringen.“

„Und was ist, wenn der Wind uns auf Untiefen drückt?“ fragte der Seewolf.

Nils schüttelte den Kopf. „Ich kann dich beruhigen. Längs der Jammerbucht verläuft ein einziger Sandstrand, es gibt keine Drachenzähne.“

„Keine Klippen also wie an der bretonischen Küste?“ fragte Pete mit ziemlich argwöhnischem Gesicht. „Bist du wirklich ganz sicher?“

„Na, hör mal!“ stieß Nils empört hervor. „Ich muß mich hier doch auskennen. Falls wir an Land getrieben werden, brauchen wir nur weich die Dünen hochzufahren. Dann können wir unversehrt aussteigen. Unsere Lady nimmt dabei auch keinen Schaden, denn Sand ist schließlich weicher als Fels.“

„Hör sich das einer an“, brummte Pete. „Der Aufenthalt in der Passage zwischen Norderney und Baltrum ist dir wohl auf den Geist gegangen, was?“

„Wie meinst du das?“ fragte der Däne drohend. „Glaubst du, ich bin so behämmert wie die Ostfriesen? Beim Donner, paß bloß auf, daß ich dir dein Ruderrad nicht um den Hals hänge!“

Hasard unterbrach ihren Disput durch eine Handbewegung. „Verrate mir lieber, wie weit es noch bis Skagen ist, Nils. Ich habe die Warterei jetzt wirklich satt.“

„In etwa drei Stunden dürften wir Hirtshals erreicht haben“, entgegnete der Däne. „Dann ist es nur noch ein Katzensprung bis nach Skagens-Grenen, dem nördlichsten Zipfel von Jütland. Bevor es dunkel wird, sind wir am Ziel.“

„Ben“, sagte der Seewolf. „Teile das bitte auch den Männern mit. Am Spätnachmittag öffnen wir Lord Gerald Clivedens Ledermappe, und dann verlese ich die Order der Königin.“

Ben Brighton stieg zum Quarterdeck und von dort aus zur Kuhl hinunter. Etwas verwundert blickte er zu Carberry, der in diesem Moment das Steuerbordschott des Vordecks geöffnet hatte und in die Kombüse blickte. Nicht weniger erstaunt nahm Ben zur Kenntnis, daß die Männer der Wache am Grinsen waren.

„Was geht denn hier vor?“ fragte Ben.

„Mister Carberry hat Sir John verloren“, erwiderte Blacky. „Er sucht nach ihm, aber der Papagei kann ihm nicht antworten.“

„Wieso nicht?“ wollte Ben wissen.

„Weil Sir John erkältet und dadurch so heiser ist, daß er die Stimme verloren hat“, erwiderte Gary Andrews grinsend. „Ist das nicht ein Witz?“

 

„Ja“, sagte Ben, aber er rang sich nur ein sparsames Lächeln ab. „Nun hört mal alle her, ich habe euch etwas Wichtigeres mitzuteilen.“

Ed Carberry hatte unterdessen die Kombüse betreten und hustete, weil ihm Rauchschwaden entgegenschlugen.

„Kutscher, verdammt noch mal“, sagte er grollend. „Warum hast du den Rauchabzug nicht montiert?“

„Das habe ich getan“, erwiderte der Kutscher mit Würde. „Und Mac Pellew hat mir dabei geholfen. Aber die Kälte drückte den ganzen Qualm durch das Rohr in die Kombüse zurück.“

„Das stimmt“, bestätigte Mac Pellew mit der bei ihm üblichen sauertöpfischen Miene. „Und wenn wir nicht aufpassen, verstopft uns das Ding beim nächsten Schneegestöber.“

„Ihr habt sie ja nicht mehr alle!“ wetterte der Profos. „Kalte Luft drückt nicht auf den Rauch, das hast du dir bloß selbst ausgedacht, Kutscher.“

„Ich schlage vor, heute nur kaltes Essen aufzutragen“, sagte der Kutscher – diesmal aber wirklich mit der Absicht, Carberry zu ärgern.

„Das könnte dir so passen!“ brüllte der Narbenmann so laut, daß das Schott wackelte. „Wenn du uns das antust, wanderst du drei Tage lang ab in die Vorpiek – zum Fasten! Und der Schnee? Den kehrt ihr jetzt hübsch säuberlich von der Galion, und wenn er im Rohr steckenbleibt, blast ihr von unten ’rein, verstanden, was, wie?“

„Aye, Sir“, entgegneten der Kutscher, Mac Pellew und die Zwillinge, die beim Zubereiten des Essens mithalfen. Philip junior und Hasard junior rückten vorsichtshalber etwas von Carberry ab, um sich nicht in seiner Reichweite zu befinden, und sie hielten auch schon nach Gerätschaften Ausschau, mit denen sie den Schnee von der Galion fegen konnten.

„Mister Carberry“, sagte der Kutscher seufzend. „Was gibt uns die Ehre deines Besuches?“

„Ich habe da eben so ein merkwürdiges Geräusch gehört“, versetzte der Profos mit grollender Stimme. „So eine Art Niesen. Warst du das, du Hering – oder Sir John?“

„Das war Arwenack“, antwortete der Kutscher. „Er hat sich einen Schnupfen weggeholt. Das habe ich ja gleich geahnt. Er ist an diese Temperaturen nicht gewöhnt.“

„Warum zieht ihr ihm nicht was Warmes an?“ fragte Carberry mit erzwungener Ruhe und vorgetäuschter Freundlichkeit. „Wäre doch keine schlechte Idee, was, ihr Schlaumeier?“

„Das haben wir bereits getan“, sagte Philip junior und wies in eine der Raumecken jenseits der Feuerstelle.

Erst jetzt entdeckte auch der Profos die kleine Gestalt, die da in sich zusammengesunken kauerte und mehr einem Häufchen Elend glich.

Arwenack, der Schimpanse – als Bordmaskottchen begleitete er die Seewölfe vom Beginn ihrer Fahrten an. Kein Seegefecht hatte ihn um sein Affenleben bringen können, er war in keinem Sturm über Bord gegangen, hatte Schiffbruch, Orkan und sämtliche Entbehrungen, die man sich nur denken konnte, mit „seinen Menschen“ zusammen eisern durchgestanden. Doch die Jahre waren auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Er war ein bißchen empfindlicher geworden, und die Kälte war sein ärgster Feind.

Er bewegte die Nase, kräuselte die Lippen, verdrehte die Augen und gab einen Laut von sich, der einem menschlichen Niesen sehr ähnlich klang. Er schnaufte heftig, zog den Kopf wieder ein und kuschelte sich in die Jacke und die Hose aus Segeltuch, die die Zwillinge ihm angelegt hatten.

„Teufel auch“, sagte der Profos und kratzte sich nachdenklich an seinem mächtigen Rammkinn. „Den hat’s wirklich schwer erwischt. Paßt bloß auf, daß er kein Fieber kriegt. Und Sir John? Wo, zur Hölle, steckt das verdammte Rabenaas?“

„Sir, wir wissen es nicht“, entgegnete Hasard junior und zuckte mit den Schultern. Philip junior, der Kutscher und Mac Pellew gaben ebenfalls durch Gebärden zu verstehen, daß sie nicht die geringste Ahnung hätten, wo der Papagei sein könnte.

Carberry schimpfte noch über dieses und jenes herum und stieß seine gewohnten Drohungen gegen den Kutscher, Mac Pellew und die Söhne des Seewolfes aus, dann kehrte er auf das Hauptdeck zurück.

Er wollte sich gerade Ben Brighton und der Crew zuwenden, die an der achteren Kuhlgräting standen und offensichtlich angeregt über irgend etwas sprachen, da drang wieder ein rätselhafter Laut an seine Ohren – ein Kratzen! Diesmal schien es vom Backbordschott des Vordecks zu kommen.

„Da wird doch der Barsch in der Pfanne verrückt“, brummte Carberry aufgebracht und riß das Schott auf.

Sir John, der karmesinrote Aracanga, watschelte aus dem Dunkel des Vordeckraums ins Freie und flüsterte mit heiserer Stimme: „Backbrassen, der Kahn säuft ab!“ Dann stimmte er ein Hüsteln an, das dem eines im Sterben liegenden Hundertjährigen nicht unähnlich war.

Carberry bückte sich und streckte besorgt beide Hände nach ihm aus.

„Sir John, alter Junge“, sagte er. „Was ist mit dir los? Komm her, an Carberrys Brust, da wird’s dir schon wieder richtig warm. Was ist? Kannst du nicht mehr fliegen?“

Sir John krächzte etwas Unverständliches und hüpfte seinem Herrn auf die Hand. Die Antwort auf die letzte Frage ließ er vorläufig offen. Er flatterte nicht, er krabbelte nur den Profosarm hinauf, schlüpfte ins Profoshemd und rollte sich zusammen. Damit war er verschwunden und erschien vorläufig nicht mehr.

„He, Ed!“ rief Smoky von der Back herab. „Hast du deinen Vogel wiedergefunden? Na, ist ja fein. Aber mach dir keine Sorgen, so schnell krepiert er ganz bestimmt nicht.“

„Wer spricht denn davon?“ brüllte Carberry. „Mich juckt es nicht, wenn er verreckt! Mir geht’s ums Prinzip! He, Sir John, du alte Nebelkrähe, laß dir bloß nicht einfallen, noch mal abzuhauen, sonst wanderst du ab zum Kutscher in den Kessel!“

Er drehte sich um und steuerte mit langen Schritten auf Ben und die Gruppe von Männern zu. Smoky und Al Conroy stießen sich mit den Ellenbogen an und grinsten sich zu, dann verließen sie ihre Posten für kurze Zeit und gesellten sich zu den Kameraden auf der Kuhl. Ben gab noch einmal bekannt, was der Seewolf ihm soeben mitgeteilt hatte.

Dann aber legte Carberry los: „Ist ja prächtig, wir sind bald in diesem Scheiß-Skagen, aber ist das vielleicht ein Grund für euch, eure Posten im Stich zu lassen, ihr Prielwürmer? Wollt ihr meutern? Haut ab kehrt marsch, zurück auf Manöverstation – oder ich ziehe euch die Haut in Streifen von euren verlausten Affenärschen!“

Hasard, der immer noch bei Pete und Nils im Ruderhaus stand, mußte unwillkürlich lachen.

„Ist das nicht herrlich?“ sagte er. „Ganz unser alter Carberry – und die guten Zeiten der ‚Isabella‘ scheinen wieder angebrochen zu sein, nicht wahr?“

„Ja, Sir“, erwiderte Nils Larsen. „Das Gebrüll erinnert mich an früher. Weißt du noch, damals in der Karibik?“

„Und ob“, brummte Pete an Hasards Stelle. „Aber manchmal wünsche ich mir, das alte Rauhbein sollte endlich mal einen feinen Schnupfen kriegen – wie Arwenack und Sir John. Ich ertrage sein Geschrei nun schon seit fünfzehn oder sechzehn Jahren, wie lange genau, das weiß ich schon selbst nicht mehr.“

Hasard und Nils lachten, Hasard kehrte in seine Kammer im Achterdeck zurück und holte das Kuvert, das Lord Gerald Cliveden ihm im Hafen von Plymouth überreicht hatte. Wie immer die Order auch lauten mochte – er war froh darüber, daß die Stimmung an Bord so gut wie in den vergangenen Zeiten war. Das war ihm im Moment wichtiger als alles andere.

2.

Olaf Sundbärg hatte sich im tiefen Schnee niedergelassen und wartete auf sein Opfer. Die Kälte kroch durch seine Pelzkleidung und griff nach seinem Leib und seinen Gliedmaßen, doch er harrte mit verbissener Miene aus. Bald würde es dunkel sein. Rötliche Schleier im Westen begleiteten die Sonne auf dem Ende ihrer Bahn, nur noch kurze Zeit, und sie würde hinter dem Horizont untergegangen sein. Sundbärg aber hielt hartnäckig an seinem Vorhaben fest. Die ganze Nacht über wollte er, wenn es sein mußte, hier auf seinem einsamen Posten aushalten.

Immer wieder hatte der Wolf, den er erlegen wollte, ihm ein Schnippchen geschlagen. Sundbärg war seit zwei Tagen unterwegs und hatte mehr als ein Dutzend Fallen aufgestellt, doch es hatte ihm alles nichts genutzt. Hier und da war der von ihm ausgelegte Köder verschwunden, aber kein Tier zappelte im Fangseil oder Fangeisen. Nicht einmal Blutspuren hatten davon gekündet, daß Isegrim zumindest verletzt worden war.

Es handelte sich um einen alten Einzelgänger, der alle erdenklichen Tricks kannte. Sundbärg fühlte sich von ihm herausgefordert und wollte den Kampf um jeden Preis gewinnen. Nur einmal hatte er ihn im Verlauf des Tages von weitem gesehen, nie hatte er sich so weit anzupirschen vermocht, um einen sicheren Schuß aus der Flinte anbringen zu können. Wo sich das Lager des Wolfes befand, wußte er immer noch nicht.

Jetzt hatte er am Ufer des Flusses Göta ein Kaninchen als Köder ausgelegt, diesmal jedoch ohne Falle. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Die Dunkelheit nahte mit langen grauen Schatten, doch der Wolf ließ auf sich warten. Sundbärg fluchte in seinen Gedanken, gab aber nicht auf.

Die Kälte war grimmig, nahm immer mehr zu, zerrte an seinem Körper. Bald würde es schneien. Wenn Isegrim die Nacht zu seinem Verbündeten machte, würde es ihm vielleicht gelingen, den einsamen Mann anzufallen – und wenn er schnell genug war, würde er der Sieger sein.

Ein Anflug von Furcht stahl sich in Sundbärgs Geist, doch er verdrängte ihn. Er wollte seine Lage geringfügig ändern, doch plötzlich erstarrte er. Ganz deutlich hatte er hinter einem der Schneebuckel, die das Bild der Flußlandschaft prägten, eine Bewegung erkannt. Er war sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Da – ein grauer Rücken schob sich auf das Ufer zu, schnürte daran entlang und näherte sich dem Köder.

Sundbärg fühlte sich vom Jagdfieber gepackt, sein Atem ging schneller. Der Augenblick der Entscheidung war da, die Lage spitzte sich zu. Der Wind aus Westen war günstig für den Mann, aber der Wolf war schlau und erfahren, vielleicht nahm er seine Witterung doch auf.

Der Abstand zwischen dem Jäger und seinem Wild schrumpfte zusammen, der Wolf glitt unbeirrt auf das Kaninchen zu. Sundbärg fragte sich in diesem Moment, ob es nicht besser gewesen wäre, das Tier am Leben zu lassen, statt einen toten Köder zu benutzen, doch es war zu spät, noch irgend etwas zu verändern. Der Wolf hatte den Platz am Ufer erreicht. Die Distanz betrug höchstens dreißig Schritte – Sundbärgs Zeigefinger krümmte sich um den Abzug der Flinte.

Plötzlich hob der Wolf den Kopf und blickte genau in die Richtung seines Jägers. Er sah den Kopf des großen, blonden Mannes, ihre Blicke schienen sich zu kreuzen. Sundbärg zögerte nicht mehr, er drückte ab, und donnernd brach der Schuß in der Stille und Einsamkeit der Landschaft.

Sundbärg sah, daß er getroffen hatte. Er sprang auf und lief zum Ufer. Doch der Wolf war nur verletzt, er erhob sich ebenfalls und wandte sich knurrend seinem Todfeind zu. Nur einen Schuß hatte die Flinte, Sundbärg konnte nicht so schnell nachladen, wie das Tier sich auf ihn stürzen würde. Er begriff, daß er einen Fehler begangen hatte. Er hätte eine doppelläufige Waffe oder aber zwei Flinten mitnehmen sollen.

Ihm blieb nur eine Chance. Er zückte seine Steinschloßpistole, blieb stehen und legte noch einmal auf den Wolf an. Die Reichweite der Pistole war geringer als die des Gewehres. Sundbärg mußte den Wolf nah an sich heran lassen, um einen präzisen Schuß anbringen zu können. Dazu aber gehörten eiserne Nerven. Er hielt die Waffe mit beiden Händen fest, zielte und bezwang den Drang, auszuweichen und seinen Standort zu verlagern.

Mit gefletschten Zähnen hielt der Wolf auf ihn zu, er schien wahnsinnig vor Haß und Schmerzen zu sein. Nur noch fünf, sechs Schritte trennten ihn von dem großen Mann mit den hellen Augen.

Der Wolf knurrte und setzte zum Sprung an, doch Sundbärg feuerte. Wieder fand die Kugel ihr Ziel, das Tier überschlug sich und blieb reglos liegen. Sundbärg atmete auf, ließ noch ein wenig Zeit verstreichen und näherte sich seiner Beute erst, als er ganz sicher war, daß der Wolf ihn nicht wieder zu überlisten versuchte.

Wenig später hatte er ihn sich auf die Schulter geladen und schritt zu dem Platz am Ufer, an dem er sein Boot vertäut hatte. Er lud das tote Tier ab, verstaute auch die Waffen an Bord, stieg dann selbst über das Dollbord und nahm auf der mittleren Ducht Platz. Er legte die Riemen in die Dollen und begann zu pullen, den Göta-Fluß abwärts und zurück zu seinem Ausgangsort, von dem aus er vor zweieinhalb Tagen aufgebrochen war.

 

Immer wieder schaute er auf den Wolf hinunter und dachte: Gerissen warst du, das muß ich dir lassen, aber deine ganze Klugheit hat dir nichts genutzt. Ich werde noch andere Einzelgänger wie dich zur Strecke bringen. Man wird mich deswegen bewundern, einem Jäger wie mir gebührt Achtung.

Vorerst aber hatte Olaf Sundbärg genug von der Jagd, es zog ihn jetzt mit Macht nach Hause. Er sehnte sich nach einem züngelnden Kaminfeuer, nach mehreren großen Humpen Bier – und nach einer Frau. Er würde sie suchen und finden, und falls sie ihm Widerstand leistete, würde er sie bezwingen wie den Wolf, der zu seinen Füßen lag.

Kap Skagen war erreicht. Ein letzter, rasch verlassender Schimmer mattroten Lichtes lag auf den Decks der „Isabella“. Nur noch kurze Zeit würde es dauern, bis sich die Dunkelheit vollends über das Schiff und seine Mannschaft gesenkt hatte.

Old Donegal Daniel O’Flynn entfachte die Hecklaterne, dann begab er sich auf das Quarterdeck hinunter, wo Hasard, die Brighton-Brüder, Big Old Shane, Ferris Tucker, Dan O’Flynn und Nils Larsen bereits an der Schmuckbalustrade standen. Auf dem Hauptdeck hatten sich Carberry und die Crew vollzählig versammelt. Pete Ballie streckte seinen Kopf aus dem Ruderhaus, um jedes Wort von dem, was nun gesprochen wurde, auch ja mitzukriegen, und Bill beugte sich weit über die Umrandung des Großmarses. Fast hatte es den Anschein, als würde er jeden Moment auf die Kuhl hinunterstürzen, doch das wirkte nur so: Bill wußte die Schiffsbewegungen und das Schwanken seines luftigen Postens geschickt durch Verlagern seines Körpergewichtes auszugleichen.

Auch der Kutscher, Mac Pellew und die Zwillinge waren zur Öffnung der versiegelten Order auf dem Hauptdeck erschienen, nur Arwenack war in der Kombüse zurückgeblieben und hockte mit trauriger Miene dicht an der Glut des Feuers.

Von Spannung gezeichnet waren die Gesichter der Männer und der beiden Jungen. Was mochte das Kuvert enthalten, was bescherte ihnen die nahe Zukunft? Kaperfahrten oder Forschungsreisen? Reichtum oder neue Erfahrungen?

Über die Maßen lang war ihnen die Überfahrt von England bis hierher erschienen, ein Kurs, der von der Ungewißheit und hundert Zweifeln begleitet war. Doch all dies war vorbei.

Der Seewolf hielt den versiegelten Umschlag in beiden Händen und sagte: „Hiermit breche ich das Siegel auf, wie es mit Lord Gerald Cliveden vereinbart wurde. Ihr alle seid Zeugen, daß es noch unversehrt ist.“

„Aye, Sir“, brummelte der alte O’Flynn. „Aber könntest du die Sache etwas weniger spannend machen? Ich werde schon ganz zappelig.“

„Das gehört mit dazu“, sagte sein Sohn grinsend.

„Ruhe bitte“, sagte Ben Brighton. „Wo bleibt denn hier die Disziplin?“

„Die haben wir irgendwo zwischen den Friesischen Inseln und Jütland verloren“, ließ sich Carberry von unten vernehmen. „Aber ich bleue sie dieser Bande von Rübenschweinen schon wieder ein, darauf kannst du dich verlassen, Mister Brighton.“

Old O’Flynn tat zwei Schritte auf den Steuerbordniedergang zu und hatte den Profos genau unter sich.

„Willst du mir etwa auch beibringen, wie sich ein Seemann benimmt, Mister Carberry?“ fragte er mit diabolischem Grinsen.

Carberry schnitt eine Grimasse. „Komm doch ’runter, dann erkläre ich dir ganz genau, wie ich mir die Sache vorstelle. Du reißt dein Schott mal wieder entschieden zu weit auf.“

„Ruhe!“ rief jetzt der Seewolf, und augenblicklich trat Stille ein. Er hatte das Kuvert geöffnet. Die Männer verfolgten seine Bewegungen mit ihren Blikken, die Spannung wuchs. Hasard entnahm der Mappe Schriftstücke und faltete sie auseinander, einige davon entpuppten sich als Seekarten, die anderen enthielten mit schwarzer Tinte geschriebene Anweisungen.

Hasard reichte die Karten an Ben Brighton weiter. Ben sah nur kurz darauf, dann erklärte er: „Alle Karten zeigen den Bereich der Ostsee.“

„Und hier nun die Order“, sagte der Seewolf und begann aus den Schriftstücken vorzulesen. „Es ist der feierliche Auftrag Ihrer Majestät Elizabeths I. an Philip Hasard Killigrew, Ritter von königlichen Gnaden und Inhaber eines vom Hofe ausgestellten Kaperbriefes, das Baltikum zu erforschen mit dem klaren Ziel, zu ergründen, ob es nicht ratsam ist, den bisherigen Handel mit den Ostseeanliegern allein und unter Ausschluß der Hanse zu betreiben. Lord Gerald Cliveden, der Sonderbeauftragte Ihrer Majestät in außerenglischen Angelegenheiten, ist dabei besonders interessiert an Möglichkeiten, Pelzwerk, Bernstein und Holz aus den Ostseeländern zu beziehen. Zu diesem Behufe wird es Sir Hasard und seinen Getreuen ans Herz gelegt, neue Handelsbeziehungen anzuknüpfen, wobei die Order weiterhin streng geheim zu behandeln ist, so daß kein Außenstehender davon erfährt, welches die Pläne der englischen Nation sind.“

Hasard hielt im Lesen inne und sah seine Männer an. Das Schweigen dauerte fort, nur Big Old Shane räusperte sich vernehmlich. Die Mienen waren teils betroffen, teils verwirrt, und von der anfänglich guten Stimmung an Bord schien nicht viel übriggeblieben zu sein.

Hasard dachte nach. Eins war ihm bekannt: Die Eröffnung und Erschließung der Neuen Welt war einer der Hauptgründe für den Niedergang der Hanse, die zu diesem Zeitpunkt allerdings noch in dem sogenannten „Stahlhof“ in London eine Niederlassung unterhielt. Dort wurden die Güter aus den Ostseeländern umgeschlagen – doch ein Nachlassen des Handels zeichnete sich schon seit einiger Zeit mehr als deutlich ab. Daher also rührte der Auftrag der Königin und Lord Geralds. Gelang es, die Hanse auszuschließen, so konnte das Ostseegeschäft nach wie vor ertragreich für England sein.

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