Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 309»
Impressum
© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-706-8
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
1.
Edwin Carberry, der Profos der „Isabella IX.“, war rundum zufrieden. Er lebte jetzt wieder richtig auf, ließ seine schönsten Flüche vom Stapel, riß hier und dort mal einen Witz und kraulte Sir John, dem karmesinroten Aracanga, großzügig die Nakkenfedern.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand an der hölzernen Schmuckbalustrade, die das Quarterdeck vom Hauptdeck trennte, und blickte zu dem wuchtig gebauten Mann mit dem Narbengesicht und dem Rammkinn hinunter. Plötzlich sah Carberry zu ihm auf – und dann grinsten sie beide sehr herzlich.
„Diesen finnischen Rübenschweinen haben wir’s aber gegeben, was, Sir?“ rief Carberry. „Die kapern so schnell kein englisches Schiff wieder, das schwöre ich dir!“
„Vor allen Dingen nicht das unsere“, sagte Hasard. „Ich schätze, daß sie die Hiebe, die sie bezogen haben, so schnell nicht wieder vergessen.“
Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, daß sie Matti Hakulinen und dessen Mannschaft von der „Isabella IX.“ abgeräumt hatten, wie Carberry das nannte. In hohem Bogen waren die Kerle außenbords geflogen, und das Handgemenge, mit dem die Seewölfe an Bord zurückgekehrt waren, war ihnen wirklich ein Denkzettel. Mächtige Prügel hatten sie bezogen und sich irgendwo auf Gotland verkrochen, um ihre Schrammen und blauen Flecken zu behandeln.
Die Seewölfe hatten also ihr Schiff zurückerobert, und nun segelte die „Lady“ endlich wieder, wie es sich gehörte. Unter Vollzeug pflügte sie die Fluten der Ostsee und steuerte an diesem Vormittag des 5. März 1593 die südwestliche Küste von Finnland an.
Platt lag sie vor dem Wind aus Südwesten und erreichte eine Fahrtgeschwindigkeit von nahezu sieben Knoten. Ja, Hasard und seine achtundzwanzig Männer konnten mit ihrer neuen Galeone vollauf zufrieden sein. Bewährt hatte sie sich seit dem Tag, an dem sie den Hafen von Plymouth verlassen hatte, mehrfach hatte sie die schwersten Proben bestanden. Immer wieder hatte sich gezeigt, daß der alte Hesekiel Ramsgate ihnen ein außerordentlich wendiges und widerstandsfähiges Schiff konstruiert hatte.
Gleichzeitig hatte sich aber auch erwiesen, daß die Ostsee keineswegs der „Heringstümpel“, war, für den die meisten Männer der „Isabella“ sie gehalten hatten. Diese vermeintliche „Pißrinne für Reiher und Schwäne“ konnte sich ganz gewaltig aufbäumen, genau wie alle anderen Meere der Welt, und mannigfaltig waren auch hier die Gefahren, die auf eine Crew lauerten.
Deshalb hatten alle, die zu Beginn des Unternehmens gemurrt und gemekkert hatten, ihr Urteil inzwischen revidiert. Der Auftrag, den Lord Gerald Cliveden ihnen im Namen des englischen Königshauses übermittelt hatte, schien doch nicht so trocken und langweilig zu sein, wie sich das bei Skagen angehört hatte, als Hasard das Siegel der geheimen Order aufgebrochen und den Inhalt der Schriftrollen verlesen hatte.
Handelsbeziehungen zwischen den Ostsee-Ländern und England sollten neu angeknüpft werden – so lautete die Mission. Elizabeth I. wollte die Hanse ausschalten, da das ganze Geschäft sonst nicht mehr lukrativ genug war. Pelze und Bernstein waren die wichtigsten Güter, die im Baltikum umgeschlagen wurden, an diesen war das Königshaus in London am meisten interessiert. Nach verschiedenen Anläufen war Hasard jetzt darauf aus, seine Bemühungen verstärkt voranzutreiben und sich von seinem eigentlichen Vorhaben nicht mehr abbringen zu lassen.
Am frühen Morgen hatte die „Isabella“ den Hafen von Wisby auf Gotland bereits wieder verlassen, nachdem Hasard und seine Männer sich herzlich und waffenbrüderlich von Arne von Manteuffel und dessen Mannen verabschiedet hatten. Arne – Hasards Vetter – hatte seine erwartete Ladung Pelze nun endlich an. Bord der „Wappen von Kolberg“ übernehmen können, nämlich direkt von der „Isabella“, auf der Matti Hakulinen sie während seiner kurzen Zeit als Seeräuber verstaut hatte.
Die „Wappen“ würde am selben Tag nach Kolberg zurücksegeln, wie Arne Hasard versichert hatte. Vorläufig würden sie sich also nicht wiedersehen. Hasard hatte die Absicht, Abo anzulaufen, das auch Turku genannt wurde. In diesem finnischen Hafen, so hatte Arne ihm mitzuteilen gewußt, konnte er Geschäftsbeziehungen für Holzlieferungen – besonders für Eiche – anknüpfen.
Außerdem fühlte Hasard sich dazu verpflichtet, in Abo nach dem Handelshaus zu suchen, für dessen Rechnung Matti Hakulinen gefahren war. Wer sonst sollte den Inhabern mitteilen, daß ihre Handelsgaleone „Katkorapu“ – übersetzt „Krabbe“ – samt ihrer Ladung Eichenholz auf See verbrannt war – und was sich dann ihr sauberer Kapitän Hakulinen geleistet hatte?
Hakulinen kehrte bestimmt nicht nach Abo zurück. In einem tollkühnen Handstreich hatte er die „Isabella“ beschlagnahmt und die Seewölfe auf der winzigen Insel Gotska Sandö ausgesetzt, und das, obwohl sie ihn und seine Mannschaft kurz zuvor aus der Seenot gerettet hatten. Jetzt aber stand der Finnenkapitän erneut ohne Schiff da und konnte sich bei seinen Auftraggebern nicht mehr blicken lassen.
Hasard und seine Männer hatten zwar einen Teil ihrer Wut abreagiert, als sie über die Finnen hergefallen waren, doch sie hegten immer noch eine Spur von Groll, auch gegen sich selbst, weil sie sich die „Isabella“ auf derart simple Weise hatten abnehmen lassen.
„Das passiert mir nicht wieder“, sagte Mac Pellew, der mit der üblichen sauertöpfischen Miene neben dem Kombüsenschott saß und Rüben schälte. „Mich schnappt keiner mehr, um mich als Geisel zu benutzen, zum Henker.“
„Reg dich nicht auf, Mac“, sagte Philip junior, einer der beiden Söhne des Seewolfs. „Sogar Mister Carberry hatten die Kerle erwischt, obwohl er sich wie ein Stier gegen sie gewehrt hatte.“
„Ein schwacher Trost“, brummte Mac Pellew mit einer Miene, als habe er ein ganzes Faß voll eingelegter Gurken verschlungen. „Sollten wir jemals wieder Schiffbrüchige zu uns an Bord nehmen, so tun wir gut daran, sie gleich in Ketten zu legen. Heutzutage kann man keinem mehr trauen, und auch die Seefahrt ist kein ehrliches Geschäft mehr.“
Der Kutscher streckte soeben den Kopf zum Kombüsenschott heraus und sagte: „Nun übertreibe doch nicht so gewaltig. Hasard weiß selbst, daß wir künftig besser auf der Hut sein müssen.“
„Ja, das weiß Dad ganz bestimmt“, erklärte Hasard junior, der neben seinem Zwillingsbruder stand.
Mac erhob sich, spuckte übers Schanzkleid und setzte sich wieder. „Hört mal zu. Wir haben hier, in der verdammten Ostsee, schon einige Dämpfer verpaßt gekriegt. Das reicht mir jetzt. Hierzulande ist ein ganz übles Völkchen zu Hause, jawohl.“
„Mac, möchtest du einen Brathering?“ fragte Philip junior
„Ach, geht mir doch mit den verdammten Bratheringen weg.“
„Achtung“, warnte Hasard junior. „Da kommt der Profos.“
Carberry hatte seinen Kontrollgang über die Kuhl wieder aufgenommen und trat in diesem Moment hinter den Beibooten hervor.
Er stemmte die Fäuste in die Seiten und brüllte: „He, Mac Pellew, du Zwiebelfisch, was ist denn mit dir los? Hältst du Volksreden, was? Hast du nicht genug zu tun, wie? Du brauchst dich nur zu melden, dann verschaffe ich dir jede Menge Arbeit!“
„Ich habe noch fünf Kübel Rüben zu putzen“, sagte Mac Pellew zutiefst beleidigt. „Das reicht bis zum Nachmittag. Danach muß die Kombüse geschrubbt werden.“
„Leg die Kiemen an, du Barsch“, sagte Carberry. „Und sei froh, daß ich heute meinen guten Tag habe.“ Sein Blick wanderte weiter und verharrte auf den Zwillingen, doch der Kutscher handelte geistesgegenwärtig.
„Philip und Hasard, der Krankenraum muß noch aufgeklart werden“, sagte er. „Rückt sofort an, wir haben keine Zeit zu verlieren.“
„Aye, aye“, sagten die Zwillinge wie aus einem Mund, und schon waren sie hinter dem Schott des Krankenraumes verschwunden.
Der Kutscher zog sich ebenfalls zurück, und Mac Pellew schabte weiterhin mit dem Messer verbissen an seinen Rüben herum.
„So ist’s schon besser“, sagte Carberry und setzte seine Runde fort. „Wer groß herumquatscht, der kriegt Pütz und Gebetbuch in die Hand gedrückt und darf die Planken scheuern, von vorn bis achtern und von Backbord nach Steuerbord. Glaubt bloß nicht, daß ich hier Schlendrian und Müßiggang einreißen lasse, ihr Seegurken.“ Als er aber Mac Pellew seinen breiten Rücken zuwandte und auf der anderen Schiffsseite nach achtern zurückschritt, grinste er breit. Blacky, Gary Andrews und Batuti, die an der Nagelbank des Großmastes standen, sahen es ganz deutlich und stießen sich untereinander an.
Hasard hatte unterdessen das Quarterdeck verlassen und stieg tiefer ins Achterschiff hinunter. Im Mittelgang bewegte er sich ein Stück nach vorn und erreichte das offene Schott des Vorratsraumes. Eine Gestalt fuhr im Halbdunkel zu ihm herum und fragte: „Halt, wer da?“
„Ich bin’s, Ben“, antwortete Hasard. „Sag bloß, ich habe dir einen Schreck eingejagt.“
Ben Brighton, sein Erster Offizier und Bootsmann, atmete auf, dann lachte er. „Ehrlich gestanden – ja. Ich habe schon fast gedacht, wir hätten einen der Finnen übersehen, als wir die Bande von Bord gejagt haben. Es hätte doch sein können, daß sich einer von ihnen hier unten versteckt, oder?“
„Nicht ganz“, entgegnete der Seewolf. „Ich habe nämlich mitgezählt, als sie einer nach dem anderen verschwanden. Zwanzig Mann waren sie, und zwanzig haben wir auch zum Teufel geschickt. Was ist mit den Fässern, hast du sie alle kontrolliert?“
„Ja. Die Höllenkerle haben es fertiggebracht, ein ganzes Faß Aquavit und anderthalb Faß spanischen Rotwein auszusaufen. Eine tolle Leistung, nicht wahr?“
Hasard mußte grinsen. „Ja, aber wir dürfen nicht vergessen, daß auch Carberry und Mac Pellew gezwungenermaßen mitgezecht haben. Ein Teil des edlen Stoffes ist also sozusagen in der Familie geblieben.“
„Trotzdem ist es ein ziemlicher Verlust.“
„Schwamm drüber, Ben. Es hätte schlimmer enden können.“
„Allerdings. Was meinst du, ob wir morgen in Abo sind, wenn der Wind weiterhin so günstig steht?“
„Bestimmt“, erwiderte Hasard. „Aber Abend wird es bestimmt werden, denn auf meinen Karten sind eine Menge Inseln eingezeichnet, die der finnischen Küste vorgelagert sind. Das bedeutet einen Aufenthalt für uns, wir müssen uns da vorsichtig hindurchlavieren.“
„Wie wär’s, wenn wir uns vorher ein wenig stärkten?“ fragte Ben.
Hasard lachte. „Keine schlechte Idee. Zum Abendessen gibt es Rotwein für die Crew – und natürlich auch für uns. Na los, nun zapf den Wein schon selber ab, dazu brauchst du den Kutscher und Mac Pellew doch nicht, oder?“
„Nein“, sagte Ben. „Aber würdest du bitte einen der Krüge halten, die ich vorsichtshalber gleich mitgebracht habe? Man muß sie bis an den Zapfhahn heben, sonst könnten ein paar kostbare Tropfen verlorengehen.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung“, stimmte Hasard zu. „Was den Rebensaft und den Schnaps betrifft, da können wir gar nicht geizig genug sein.“ Er leistete Ben Hilfestellung, und so wurde aus dem Weinabzapfen eine richtige Zeremonie.
Den echten dänischen Aquavit hatten die Seewölfe aus Rönne auf Bornholm mitgebracht, wo es außerdem ganz ausgezeichneten Räucherhering gab – und wo Nils Larsen unter anderem mit Gewalt hatte verheiratet werden sollen. Der Wein stammte aus dem fernen Spanien. Im Hafen von Wisby auf Gotland hatten sie ihn dem spanischen Mörderkapitän abgenommen, den sie dort stellten und entlarvten.
Sie hatten somit noch neun Fässer Aquavit und zehneinhalb Fässer Wein an Bord, ein Vorrat, mit dem sie vorsichtig umgingen und mächtig knauserten. Es war ihr Pech gewesen, daß ausgerechnet Matti Hakulinen und dessen Teufelscrew über die Fässer hergefallen waren. Doch sie hatten sich geschworen, daß ihnen ein ähnliches Mißgeschick nicht mehr widerfahren sollte.
Die große Überraschung stand ihnen am nächsten Tag, dem 6. März, bevor. Wie geplant erreichten sie am frühen Nachmittag das Inselgewirr zwischen den größeren Inseln des Berghamnsfjärd östlich des Skifte Sunds. Sie waren nur noch etwa fünfunddreißig Seemeilen von Abo entfernt, das im Nordosten lag, doch jetzt ging es los: Die „Isabella“ geriet zwischen eine Unzahl von Inselchen und Schären, und eigentlich hätten die Männer einen Lotsen gebraucht.
Doch selbst Nils Larsen, der Däne, und Stenmark, der Schwede, mußten hier kapitulieren. Sie kannten sich an der finnischen Küste nicht aus, denn sie waren noch nie hier gewesen.
„Berghamnsfjärd?“ sagte Nils lediglich nach einem Blick auf die Karte. „Herrgott, das kann ja kein Mensch aussprechen!“
„Eine Scheißgegend“, fügte Stenmark hinzu. „Wer soll denn da bloß hindurchfinden?“
„Schickt schon mal ein Stoßgebet zum Himmel“, sagte der alte O’Flynn. „Das scheint mir unter diesen Umständen angebracht zu sein.“
„Ja“, sagte Ferris Tucker mit einem besorgten Blick auf das, was vor ihnen lag. „Mir stehen auch schon die Haare zu Berge.“
„Ihr seid ja mal wieder sehr zuversichtlich“, sagte der Seewolf. „Also los, ein Mann auf die Galion, zum Ausloten und Aussingen der Wassertiefe! Wer meldet sich freiwillig?“
„Ich, Sir!“ rief Bob Grey von der Kuhl zu ihm herauf.
Hasard war einverstanden. Bob bewaffnete sich mit Senkblei und Lotleine und rückte ab zur Back. Er enterte die Galionsplattform und begann, das Lot abzufieren. Dabei hatte er die gütig lächelnde Isabella, ihre Galionsfigur, ständig vor sich, nur leider zeigte ihm die Lady die kühle Schulter. Dafür konnte er von oben auf ihren Busen linsen.
Hasard ließ die Bramsegel und die Schiebblinde ins Gei hängen, und mit langsamerer Fahrt ging es zwischen den ersten Inselchen hindurch.
„Achteinhalb Faaaden!“ sang Bob. Diese Meldung gab noch keinen Anlaß zur Beunruhigung, aber die Männer wußten, daß die Lage sich sehr rasch ändern konnte.
Immer wieder tauchten neue Eilande und Schären wie ein Spuk vor ihnen auf, ständig mußte der Kurs gewechselt werden. Piet Straaten, der Pete Ballie am Ruder abgelöst hatte, hatte gut zu tun, und auch die Crew war ständig an den Brassen und Schoten und mußte die Segel nachtrimmen.
Bald waren sie trotz der Kälte schweißgebadet. Hasard ließ die übrigen Segel aufgeien, bis nur noch das Großsegel gesetzt war, denn inzwischen war die Wassertiefe auf sechs Faden geschrumpft.
„Das geht nicht gut aus“, unkte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Ich will die längste Zeit zur See gefahren sein, wenn wir nicht bald irgendwo aufbrummen.“
„Sei bloß still“, sagte Big Old Shane drohend. „Deine Vorhersagen sind hier völlig überflüssig. Wir wissen selbst, was los ist.“
„Inseln, wohin das Auge blickt“, sagte Ben Brighton. „Teufel, es muß doch irgendwo eine vernünftige Fahrrinne nach Abo geben, wie soll sonst der Schiffsverkehr funktionieren?“
„Fünf Fa-aden!“ ertönte Bob Greys nächste Fadenmeldung.
„Zwei Strich Backbord!“ befahl Hasard, dann wandte er sich Ben, Big Old Shane und Old O’Flynn zu und sagte: „Früher oder später müssen wir zwangsläufig auf die Passage stoßen, die uns direkt nach Abo führt. Ich hoffe auch immer noch, daß wir einem anderen Schiff begegnen, dessen Besatzung uns Auskünfte geben kann.“
„Viereinhalb Faaaaden!“ schrie Bob Grey, und nun mußte Hartruder gelegt werden, um dem drohenden Unglück zu entgehen. Die Männer fluchten auf ihren Stationen und wischten sich den Schweiß aus dem Gesicht. Immer wieder warfen sie Blicke außenbords, wo im klaren Wasser deutlich Untiefen zu erkennen waren, die an Backbord und Steuerbord vorbeiglitten.
Bob bereute bereits, daß er sich freiwillig gemeldet hatte – die Fadenmeldungen rutschten hinauf und kletterten wieder hinunter, ganz nach den Launen der Natur. Es war ein mühsames Geschäft, immer wieder die Tiefe auszuloten, und die Verwünschungen, die auch er auszustoßen begann, konnten mit Carberrys Kraftausdrücken durchaus konkurrieren.
So loteten und tasteten sich die Seewölfe durch das Inselgewirr. Die Suche nach einer Fahrrinne erwies sich jedoch als sinnlos, und so sehr Bill, der sich als Ausguck im Großmars befand, sich auch bemühte – es war kein Schiff zu sichten, das sich ihnen näherte.
Über zwei Stunden lang hielten sie durch, dann aber passierte, was sie alle längst erwartet hatten. Die „Isabella IX.“ lief auf, es gab einen heftigen Ruck und ein Knirschen, dann saß sie fest. Bob Grey mußte sich mit beiden Händen an der Verkleidung der Galionsplattform festhalten, sonst wäre er glatt außenbords gekippt. Er konnte gerade noch verhindern, daß die Lotleine ganz abrollte und im Wasser verschwand. Fluchend packte er sie und hieb vor Wut mit der Faust auf die Planken.
„Verdammter Mist“, sagte er. „Es hat doch alles nichts genutzt.“
2.
„Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir vierkant aufgebrummt“, sagte Old O’Flynn. „Ich meine, wir hängen nicht einfach nur ein bißchen fest. Wir sitzen voll auf.“
„Und zwar auf einer Rundkippe“, fügte der Seewolf hinzu. „Wenn wir schon etwas anrichten, dann gleich ordentlich. Das wolltest du doch sagen, oder?“
„Ja. Aber das wäre auch dem besten Kapitän der Welt passiert.“
„Da bin ich aber froh“, sagte Big Old Shane trocken. „Deine Worte geben einem den nötigen seelischen Halt, Donegal.“
„Willst du mich verhöhnen?“ zischte der Alte.
„Ruhe“, sagte der Seewolf. „Streitet euch jetzt nicht, das können wir am allerwenigsten gebrauchen. Ich verlange äußerste Disziplin. Ferris, du siehst unter Deck nach, ob Lecks zu verzeichnen sind. Sollte das der Fall sein, holst du dir sofort fünf Männer als Unterstützung und fängst mit dem Ausbessern an.“
„Aye, Sir.“ Ferris verschwand vom Achterdeck und turnte mit polternden Schritten die Niedergänge hinunter, um unter Deck alles zu untersuchen.
Hasard begab sich auf die Kuhl und blickte seine Männer einen nach dem anderen an.
„Eigentlich bin ich fast erleichtert“, sagte er. „Es mußte ja mal sein. Soviel Glück hat keiner, daß er jeder Klippe ausweichen kann. Macht euch keine Sorgen, wir kriegen die Lady schon wieder frei.“
Bob Grey hatte die Back geentert, trat an die achtere Balustrade und zuckte mit den Schultern, als Hasard auch zu ihm schaute.
„Tut mir leid, Sir“, sagte er. „Aber es ist wirklich nicht meine Schuld.“
„Das nimmt auch keiner an, Bob“, sagte Hasard. „Du hast deine Aufgabe ordentlich versehen. Niemand wirft dir was vor.“ Er drehte sich wieder zur Crew hin um und fügte hinzu: „Das gilt auch für euch.“
„Danke, Sir“, sagte Carberry. „Wenn einer der Kerls Bockmist gebaut hätte, hätte ich ihm auch schon längst die Haut in Streifen von seinem Affenarsch gezogen.“
Ferris kehrte an Oberdeck zurück, atmete zweimal tief durch und meldete: „Kein Wassereinbruch, Sir. Die Lady ist trocken. In der Beziehung haben wir also doch Glück gehabt.“
„Ja“, sagte der Seewolf. „Wenigstens diesen Vorteil haben wir.“
Er begann, sich selbst ein genaues Bild von der Lage zu verschaffen. Die Crew hatte das Großsegel natürlich sofort geborgen, als die „Isabella“ aufgelaufen war, und hatte auf diese Weise verhindert, daß sie noch weiter auf die Klippe rutschte.
„Wir sitzen mit dem Vorschiff auf“, sagte er zu der inzwischen komplett auf dem Hauptdeck versammelten Mannschaft. „Das bedeutet, daß wir unsere Lady über den Achtersteven von der Klippe ziehen müssen. Dan, hättest du Lust auf ein Bad?“
„Wenn du mich so fragst – natürlich“, antwortete Dan O’Flynn und grinste. Was das bedeutete, wußte er ganz genau, denn sie hatten ja schon vor dem Eiland Gotska Sandö nähere Bekanntschaft mit dem Wasser der Ostsee geschlossen. Es war biestig kalt. Gegen diese Temperaturen gab es im Fall eines Falles nur zwei Mittel: viel Bewegung und Öl, mit dem man sich den ganzen Körper einrieb.
Hasard hatte dem Kutscher bereits eine entsprechende Anweisung gegeben, und jetzt erschienen die Zwillinge und brachten einen Topf voll Öl. Hasard und Dan entkleideten sich bis auf ihre kurzen Hosen, die sie unter dem eigentlichen Beinkleid trugen. Als Waffen nahmen sie nur ihre Messer mit, deren Sitz im Gurt sie sorgsam überprüften.
Dann tauchten sie ihre Hände in das Öl und fetteten sich am ganzen Körper ein. Niemand beneidete sie um ihr Vorhaben. Es war alles andere als ein Vergnügen, in dem eiskalten Wasser am Rumpf der Galeone hinunterzutauchen, wie Hasard es plante.
„Also, dann – sehen wir uns unsere Klippe mal aus der Nähe an“, sagte der Seewolf. Er stand schon am Backbordschanzkleid der Kuhl, schob sich über die hölzerne Handleiste, verharrte für einen Augenblick auf der obersten Stufe, die außenbords zum Auf- und Abentern beim Längsseitsgehen von Booten dienten, und ließ sich dann mit vorgestreckten Armen vornüberkippen. Wie ein Pfeil tauchte er in die Fluten und verschwand darin, es gab nur einen schwachen Klatscher.
Dan folgte seinem Beispiel und stieß ebenfalls in das Wasser hinunter. Ein Panzer aus Eis schien sich um seine Brust zu schließen und drückte ihn wie eine Zentnerlast in die Tiefe. Er sah Hasard neben sich, erkannte auch das Graublau des Felsens, auf dem das Schiff festsaß, und ruderte mit Armen und Beinen, um sich in die richtige Lage zu bringen.
Nebeneinanderher schwammen sie auf den Klippfelsen zu. Hasard schob sich an der Wölbung des Schiffsbauches entlang und arbeitete sich bis zum Kiel vor, dann tastete er den Felsen mit beiden Händen ab, um sich über dessen Beschaffenheit genau zu informieren.
Er drehte sich zu Dan um und gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, daß er auch die andere Schiffsseite untersuchen wollte. Dan antwortete durch eine Gebärde. Er hielt mit, noch setzte ihm die Kälte nicht allzusehr zu, und auch Atemluft hatte er noch genug.
Beide Männer krochen zwischen Schiffsbug und Felsen zur Steuerbordseite hinüber, glitten bis nach achtern und verharrten dabei immer wieder, um ihre Nachforschungen anzustellen. Schließlich erreichten sie das frei im Wasser hängende Heck der „Isabella“. Hasard befaßte sich der Gründlichkeit halber auch mit dem Ruderblatt. Es war völlig intakt. Er sah wieder zu Dan, der mit den von seinem Mund aufsteigenden Luftblasen wie ein seltsames Wesen anmutete. Noch einmal verständigten sie sich durch Gesten, dann ließen sie sich von der Auftriebskraft des Wassers mitnehmen und kehrten an die Oberfläche zurück.
Trotz des Öls und der kräftigen Arm- und Beinarbeit, mit der sie sich zur Bordwand bewegten, spürten sie die Kälte jetzt am ganzen Leib. Ben hatte eine Jakobsleiter ausbringen lassen. Dan klammerte sich als erster an den hölzernen Sprossen fest und enterte im Affentempo auf. Der Seewolf folgte ihm.
Zitternd vor Kälte klommen sie über das Schanzkleid der Steuerbordseite und liefen zur Kombüse, wo der Kutscher und Mac Pellew das Feuer tüchtig angeheizt hatten. Die Zwillinge warfen ihnen Decken über, in die sie sich fröstelnd hüllten, dann hatten sie das Schott auch schon erreicht und traten in die Kombüse, in der sich das Feuer wie ein blutroter Teppich unter den an Ketten hängenden Kesseln ausbreitete.
Ben, Shane, Ferris Tucker, Old O’Flynn, Carberry, Smoky und die anderen Männer näherten sich ebenfalls dem offenen Schott. Wer in der Kombüse noch Platz fand, der betrat sie, die übrigen verharrten draußen und lauschten den Worten des Seewolfs.
„Das Wasser ist hier noch kälter als um Gotska Sandö herum“, erklärte Hasard. „Man hat wirklich das Gefühl, darin zum Eiszapfen zu gefrieren. Kutscher, rück mal mit einer Flasche Aquavit heraus.“
„Aye, Sir.“ Der Kutscher brauchte nur eins seiner Schapps zu öffnen, und schon hatte er den kostbaren Schnaps zur Hand, von dem er ein paar Gallonen in Flaschen abgefüllt hatte. Teils benutzte er den Aquavit zum Behandeln von Wunden, teils hielt er ihn bereit, um ihn an die Mannschaft austeilen zu können, wenn es „Besanschot an“ hieß.
Hasard entkorkte die Flasche und nahm den ersten Schluck. Der Aquavit brannte wie Feuer in seiner Kehle und in seinem Magen und wärmte ihn sofort auf. Dan war als nächster dran, dann durften auch die anderen trinken. Für jeden war ein Schluck in der Flasche, und selbst die Zwillinge durften mal probieren.
„Die Lady ist einen Buckel hochgestiegen“, sagte Hasard dann. „Ganz leicht wird es nicht, sie da wieder herunterzuholen. Aber wir haben ja Zeit genug, alles gründlich vorzubereiten.“
Er blickte ins Freie. Es wurde jetzt dunkel, die Schatten der Dämmerung hatten den letzten blassen Schimmer Tageslicht fast völlig verdrängt.
„Vor morgen früh können wir aber sowieso nichts unternehmen“, fuhr er fort. „Um kurz vor sieben Uhr wird es hell, dann prüfen wir die Lage erneut und beschließen, wie wir vorgehen wollen. Ben, du teilst jetzt die Abend- und Nachtwachen ein. Und noch etwas: Wir fahren den Heckanker mit der kleinen Jolle nach achtern aus.“
„Aus Sicherheitsgründen?“ fragte Carberry.
„Ja, Ed. Wir müssen damit rechnen, daß der Wind eventuell auffrischt. Das würde bedeuten, daß er unser Schiff noch weiter auf die Klippe drücken könnte.“
„Oder aber er donnert sie voll drauf“, sagte Shane. „Ohne Wassereinbruch kämen wir dann nicht mehr davon, und wir könnten wie die Verrückten an den Pumpen schuften, während Ferris die Lecks abdichtet.“
„Das passiert aber nur, wenn der Wind weiterhin aus Südwesten weht“, sagte Old O’Flynn. „Und was ist, wenn er umspringt?“
„Das ist dann genauso schlimm für uns“, erwiderte Hasard. „Mit dem Idealfall, daß er um hundertachtzig Grad dreht und uns von dem verdammten Felsen schiebt, dürfen wir gar nicht erst rechnen.“
„Nee“, murmelte nun auch Mac Pellew. „Nicht bei dem sagenhaften Glück, das wir haben.“
„Sir“, sagte Ben. „Ich hätte einen Vorschlag. Wenn wir uns mächtig beeilen, können wir vielleicht doch noch versuchen, die Lady mit dem Heckanker herunterzuziehen. Ich meine – wir sollten es wenigstens versuchen. Schaden kann es nicht.“
„Ich bezweifle nur, daß wir damit Erfolg haben“, sagte der Seewolf. „Aber bitte – von mir aus kann es sofort losgehen.“
Er bestimmte Gary Andrews, Luke Morgan, Sam Roskill, Jack Finnegan und Paddy Rogers als die Männer, die die kleine Jolle zu Wasser bringen und den Heckanker nach achtern ausfahren sollten. Sie eilten davon, lösten die Zurrrings des Bootes und fingen an, es über das Hauptdeck aufzuhieven.
Hasard und Dan suchten ihre Kammern im Achterkastell auf und zogen sich trockene Kleidung an. Als sie auf die Kuhl zurückkehrten, hatten die Männer die Jolle bereits an Backbord abgefiert und schickten sich eben an, abzuentern.
Hasrad stieg zum Achterdeck hoch, Dan begab sich auf das Quarterdeck und nahm mit Shane, Ferris, Roger Brighton und Nils Larsen am Achterspill Aufstellung. Die Spaken steckten bereits, sie brauchten nur noch auf Hasards Befehl zu warten.
Ben, Jan Ranse und Piet Straaten gingen auf den Befehl des Seewolfs hin auf die Heckgalerie und bereiteten den Heckanker zum Abfieren vor. Die Jolle glitt nach achtern.
Gary und Luke streckten die Hände nach dem Anker aus, Gary rief: „Es kann losgehen!“
Hasard gab den Männern am Spill ein Zeichen. Sie bewegten sich im Kreis, der Anker senkte sich zu Gary, Luke, Sam, Jack und Paddy hinunter. Gary und Luke nahmen ihn in Empfang, hingen ihn hinter dem Heck zwischen zwei vorkragende Spaken, zurrten ihn fest und griffen wieder nach den Riemen.
Die Bootsbesatzung pullte an. Das Achterspill drehte sich wie von Geisterhand bewegt. Als die Jolle die nötige Distanz zum Heck der „Isabella“ erreicht hatte, rief Hasard: „In Ordnung! Das reicht jetzt! Fallen Anker!“
Gary und Luke kippten die Spaken etwas an und ließen den Stockanker achtern ins Wasser rutschen. Die Trosse spannte sich leicht, Hasard ließ durch vorsichtige Arbeit am Spill prüfen, ob der Anker auch wirklich fest auf dem Grund saß.
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