Der Mensch – Ein Spiegelbild seiner Zeit

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2.9 Ein salomonisches Urteil

Mit großer Begeisterung zogen wir Landstürmer Mitte September 1914 hinaus zu kriegerischer Betätigung. Erst unterwegs nach mehrstündiger Fahrt wurde es für uns zu Gewissheit, dass das Ziel der Truppenübungsplatz Lamsdorf in Oberschlesien war. Das bedeutete für uns Gefangenenbewachung. Eine Völkerschau, wie wir es erwartet hatten, war es allerdings nicht. Wir trafen auf ein lehm-grünes Einerlei von 7000 Russen. Am Tage nach unserer Ankunft hatte ich das „Glück“, als „Russenfeldwebel“ über fünf Gefangenenkompagnien, zusammen etwa 1000 Mann, gesetzt zu werden. Da war der Arbeit gar nicht mancherlei. Nicht allein, dass man sich der Verpflegung und des Wohlergehens dieser Gefangenen angelegen sein lassen musste, sondern es wurde einem das Dasein auch mit allerlei Misshelligkeiten erschwert, die die Leute ganz gut unter sich selbst hätten ordnen können, statt unsereinen mit Beschwerden und großen Untersuchungen zu belästigen.

Eines Tages trat, als ich die Kompagnien [17] musterte und meine „Schäflein“ zählte, ein riesenhafter russischer Unteroffizier vor mir hin mit der bedeutsamen Meldung, es habe ihn einer seiner Leute ein Kamel genannt. Obwohl ich nach Lage der Sache im Stillen dem Übeltäter vollständig recht gab, musste doch ein Mittel gefunden werden, um die gelockerte Disziplin zu retten. Die üblichen Strafen, wie Entziehung der Mittagsmahlzeit, Anbinden an einen Baum während einiger Stunden oder Arrest, hielt ich aber in diesem Falle für unangebracht und fragte den Unteroffizier daher zunächst mit Hilfe eines Dolmetschers, ob er denn wirklich ein Kamel sei. Dies verneinte er entrüstet. „Nun“, sprach ich, „so hätten Sie sich das Schimpfwort auch nicht gefallen lassen sollen“. Hilflos blickte mich der Mann an. Ich ließ dann den Beleidiger aus der Front holen und fragte ihn, ob er tatsächlich jenes Tier auf seinen Vorgesetzten angewandt habe. „Nie, nie“, war die Antwort, wie es zu erwarten war, und in langen slawischen Wortschwall beteuerte er seine Unschuld. Der Beleidigte ließ aber von seinem Kamel nicht ab, und ich schenkte ihm auch gern Glauben. „Wenn mich einer so nennen würde, schlüge ich ihn ohne weiteres rechts und links um die Ohren“, ließ ich ihm durch den Dolmetscher meinen Standpunkt bekanntgeben und lud ihn ein, seine besudelte Russenehre auf die gleiche Weise zu rächen. Dieses einfache und gesunde Verfahren schien ihn zu befremden. Blöd glotzte er mich an, und die Kompagnie fing belustigt an zu feixen, polnisch, lettisch, baltisch, kaukasisch, jiddisch und zentral. Jeder reagierte nach seiner Art. „Nun los, ich befehle es Ihnen“, sagte ich zu dem russischen Unteroffizier. Prompt gab der Dolmetscher das Signal weiter. Da endlich reckte sich der Hüne und klatsch, klatsch drehte sich der Beleidiger um seine eigene Achse. Von da an blieb ich bei dieser Kompagnie mit derartigen Kleinigkeiten verschont.

2.10 Nach Russland hinein

Am 7. November 1914 hatte das Kommando des Pirna’schen Landsturmbataillons in Lamsdorf sein Ende erreicht. Die Gefangenen waren nach Döberitz und Altengrabow abgeschoben worden und unser Bataillon [18] wurde abends um acht Uhr über Oppeln nach Kempen in Posen verladen, wo wir nach elfstündiger Bahnfahrt eintrafen. Dort waren 7000 Mann einquartiert. Als wir ankamen, wurde jedoch fast die ganze Besatzung in umliegende Dörfer und Gehöfte nahe der Grenze verlegt, so dass es wieder Platz gab und die Quartiere im Großen und Ganzen den Wünschen entsprachen. Abgesehen von den Unglücklichen, die das Schicksal in besonders schmutzige und ungastliche Polacken-Spelunken geworfen hatte, an denen das kleine, im allgemeinen freundliche Städtchen so überaus reich war. Ich hatte besonderes Glück. Mit einem Landstürmer (Kaden aus Lungwitz) kam ich am Marktplatz bei einer deutschen älteren Witwe unter, die ein Zimmer an einen zurzeit im Feld stehenden Oberlehrer vermietet hatte. In dessen mit einer reichen neuphilologischen Bibliothek geschmückten Heiligtum wurden wir untergebracht. Zum Schlafen erhielt ich noch ein besonderes Zimmer. So wünschte ich mir nur einen längeren Aufenthalt und freie Zeit, um mich hinter die vorhandenen fremdsprachlichen Werke verschanzen zu können. Aber es kam anders. Der Grenzschutz stand plötzlich im Vordergrund. Nachdem das Bataillon am Tag nach der Ankunft (es war ein Sonntag und die Sonntage waren ja überhaupt immer für besondere Angelegenheiten da) gewissermaßen einen Spaziermarsch mit Marschsicherung und geladenem Gewehr nach dem 10 km östlich liegenden Grenzstädtchen Wilhelmsbrück unternommen hatte, bekamen die erste und zweite und dann die dritte und vierte Kompagnie die Aufgabe übertragen, abwechselnd alle zwei Tage das Gut Schönfeld südlich der Straße Kempen – Wilhelmsbrück zu besetzen. Der Abmarsch in Kempen erfolgte stets um 7 Uhr früh, der Abmarsch vom Gut Schönfeld um 4:30 Uhr in der Frühe, so dass man gerade zum Abendessen wieder im Quartier war. Das Gut Schönfeld mit seinen drei mächtigen Strohscheunen, einer großen Stallung mit etwa 100 Stück schwarzweißem Jungvieh und einem kleinen eisenbahnwärterartigen Wohnhaus mit sechs Ferkeln gehörte, wie es hieß, dem Prinzen Heinrich von Preußen.

Die Freuden der Bereitschaftsstellung in dem Gut Schönfeld sollte unsere dritte und vierte Kompagnie indes nur zweimal genießen können. Im Gut angekommen wurden im Hof die Gewehre zusammengesetzt, dann suchte sich jeder ein möglichst lauschiges und warmes Plätzchen im Heu und Stroh der drei Scheunen. Unter zahlreichen Witzen und Späßen wurden die mitgebrachten Essvorräte in Angriff genommen. Sodann begann erst einzeln, bald aber in sich häufenden Akkorden ein schauriges Geschnarche, in hohen und tiefen Tönen, da bedächtig langsam, dort in hastig drängender Eile, als ob nicht genügend Zeit gewesen wäre, den Traumwald zu kleinem Brennholz zu zersägen. Andere, die des Schlummers Wohltat noch nicht lockte, hackten Holz mit ihren breiten Faschinenmessern [19], um am flackernden Feuer ein Süppchen zu kochen oder den Kaffee in den Feldflaschen aufzuwärmen. Die Offiziere hatten sich es im Rinderstall bequem gemacht, den die blökende Herde bis zum Abend verlassen hatte. Die Wahl dieses Aufenthaltsortes sprach genügend für die „traute Häuslichkeit“ der Gutspächter, deren Penaten gern gemieden wurden. So war alles vorbereitet. Nun mochten die Russen kommen.

In jenen Tagen rechnete man mit einem Vormarsch der Russen gegen Kempen – Breslau. Es kam aber nichts, und die Schützengräben rings um das Gut Schönfeld und längs der ganzen Grenze brauchten nicht besetzt zu werden. Dagegen war in dem nördlich an der Bahnlinie Krotoschin – Kalisch gelegenen Städtchen Ostrowo durch die damals vorherrschende neblige Witterung begünstigt plötzlich eine Kosakenabteilung erschienen und hatte die Postkasse mit 300 Mark Inhalt geraubt, ohne aber weiteren Schaden anzurichten.

Unserer zweiten Anwesenheit in Gut Schönfeld wurde vor der Mittagsstunde durch einen Befehl ein Ende gemacht, welcher die beiden Kompagnien um 12:30 Uhr in Wilhelmsbrück zur Verfügung des Majors Schulze-Trinius eintreffen hieß. Dort versammelten sich mit unserer Abteilung das Landsturm-Bataillon Münsterberg, zwei Kompagnien Landwehr 104, eine Batterie Feldartillerie und einige Reiter als Patrouillen. „Das Detachement tritt an um 1:30 Uhr zu einer Gewaltaufklärung gegen Lututow“, verkündete der Major. Wie klopfte da reuevoll manchem unserer Landstürmer das Herz, der es, nichts Böses ahnend, vor dem Ausrücken für gut befunden hatte, von seinen 150 Patronen nur wenige Rahmen zu sich zu stecken. Der Ort Lututow war 23 km entfernt, also 46 km hin und zurück. Wie soll es da mit der Verpflegung werden? Fast jeder hatte seine Vorräte nach Möglichkeit vertilgt in Erwartung des Abendbrotes im Quartier.

So zogen wir dann über die Prossnabrücke an den deutschen Grenzpfählen vorbei und über die russischen Grenzpfähle hinaus nach dem jenseitigen Städtchen Weruszow. Unwillkürlich summte man die „Wacht am Rhein“, aber das passte hier doch gar nicht an dem trüben, teilweise versandeten und sich in mehreren Nebenarmen erschöpfenden Wässerchen. [20] Auf der anderen Seite waren verschiedene Gebäude vollständig demoliert, darunter die russische Zollstation. Sie war anscheinend mit Dynamit gesprengt worden, wie auch die Brücken, welche indes wieder in einen guten Zustand versetzt waren. Das Städtchen Weuszow war schmutzig und unordentlich, wie alles, was wir von nun an zu sehen bekommen sollten. Sehr viele polnische Juden bildeten Spaliere an den Straßenrändern und grüßten die vorbeiziehenden Truppen ehrerbietig. Alle traten auf im schwarzen Kaftan, schwarzes Käppchen auf dem oft ringellockenumhüllten Kopf, lange Schaftstiefel an den Füßen, vom Greis bis zum kleinsten Jungen waren alle in der gleichen Aufmachung. Alle Häuser waren mit Einquartierungen belegt, denen wir ihre Quartiere nicht neideten. Wenigstens vorläufig noch nicht. Hinter dem Städtchen befand sich noch in einer Hütte ein Unteroffiziersposten mit einem etwas weiter vorgeschobenen Doppelposten. Dann hatten wir auch das letzte Heimatliche hinter uns gelassen.

Nun begannen die Freuden der polnischen Landstraße. Eine Reihe alter Bäume zur Rechten unterschied sie von den sich in endloser Ebene dehnenden sandigen Feldern, auf denen ab und zu ein kleines Gehölz die Aussicht nach da und dort verdeckte. Anfangs ging es noch. Dann aber kam eine viele Kilometer lange Strecke, die die deutsche Heeresverwaltung in bester Absicht hatte beschottern lassen. Aber es war erst des Werkes erster Teil geschehen, noch fehlte der Sand obendrauf und die Walzung. Also musste auf den spitzen Steinen marschiert werden und die begonnene Wohltat wurde zur Qual. Nun begann sich die Sehnsucht nach Lamsdorf zu regen, das man so oft hatte verpönen hören. „Ja, in Lamsdorf, da war es doch schöner.“

 

Endlos zogen sich die Dörfer die Straße entlang, nur an beiden Seiten die Häuser, ohne Seitenstraßen. Es waren alles armselige niedere Holzhütten aus behauenen Balken gefügt, die Ritzen mit Moos und Lehm verstopft, mit Stroh gedeckt. In schäbigen Kleidern sahen wir die Bauern, uralte Pelzmützen auf dem Kopf, die Weiber mit schmutzigen Kopftüchern. Beide Geschlechter, Große und Kleine in Schaftstiefeln, ohne die der Dorfstraße wässeriger Kot und des Hofes mistige Pfützen unmöglich begangen werden können. Durch Ochendzin kamen wir nach Sokolniki. Da was es schon dunkel geworden. Eine Stunde hielten wir uns im Regen auf der Straße auf, als die Anweisung für uns kam: „Unterkunft hier im Dorf Sokolniki!“ Böses ahnend hatten die gastlichen Bauern alle Lichter gelöscht, so dass es ringsum stockfinster war. Eine geringe Menge Wurst und Brot war von der Kompagnie im Dorf gekauft worden und wurde vor dem Wegtreten verteilt. Jeder von uns erhielt ein winziges Stücklein des Proviants. Nun ging es auf gut Glück in die Häuser, die erst mit der Taschenlampe gesucht werden mussten. Ich hielt mich mit Kamerad Franz zusammen und hatte außerdem unseren Putzer Knie und das Polenkind Zurawa um uns versammelt. Letzteres diente uns als Dolmetscher. Das erste Fenster, in das ich hineinleuchtete, ging in einen leeren Raum mit zwei Betten. Links von der Haustür war noch eine Stube, in der im Dunkeln schon 10 Mann mit der Familie versammelt waren. Also hinein in den leeren Raum. Da wurde Feuer gemacht, Kaffee und Kartoffeln gekocht und ein frugales Mahl verzehrt. Mit Franz kroch ich in den Kleidern furchtlos in ein Bett. Das andere Bett nahmen die beiden anderen Genossen in Beschlag. So verging die Nacht unter geräuschvollem Schnarchen und unter fluchendem Jucken meines Schlafgenossen, der anscheinend mit seinem wohl besonders süßen Blut die ganzen Mitbewohner unserer Bettstatt auf die Beine brachte. Ich bin nicht missgünstig und missgönnte ihm auch in diesem Falle „seine anziehenden Eigenschaften“ nicht.

Frühzeitig wurde am anderen Morgen das Frühstück bereitet und weiter ging der Marsch. Die ersehnten Kosaken waren nicht zu sehen. Bald bog unsere Straße nach Norden um, und wir verließen an dieser Stelle die qualvolle Beschotterung, die sich in der Richtung nach Wilun weiterzog. So stampften wir wieder durch hohen Sand und suchten uns an den Straßenrändern möglichst festere Stellen, um besser vorwärts zu kommen. Hinter dem Dorf Pichlice begann zu beiden Seiten der Straße ein großer Wald. Der Hauptmann hielt es für angebracht, den ganzen dritten militärischen Zug in Patrouillen aufgelöst rechts und links vorgehen zu lassen, wodurch auch unser Vormarsch ein langsameres Tempo annahm. Als der Wald zu Ende war, sahen wir in noch ziemlicher Entfernung die Ortschaft Lututow, die wir um 11 Uhr erreichten. Lututow war ein Städtchen wie Weruszow mit einem großen Marktplatz und zahllosen Juden, die uns staunend begafften. Auf dem bodenlosen Marktplatz nahm das Detachement Aufstellung, die Gewehre wurden zusammengesetzt, und nach dem Wegtreten versuchte sich jeder nach Möglichkeit in den zahlreichen Fleisch-, Wurst- und Bäckerläden zu versorgen. Die Juden hatten die Gelegenheit zu einem Geschäft erfasst und fingen unter heftiger Konkurrenz an, Tee und Kaffee zu kochen, einer dünner wie der andere. Es wurde uns ein Haus bezeichnet, wo der Tee trinkbar sein sollte. Wir stiegen deshalb eine schmale Holztreppe zu den gastlichen Räumen empor. Durch die Tür, an deren Balken der übliche Judenbrief befestigt war, betraten wir eine kleine Stube mit einem Herd, einem Tisch, mehreren Stühlen und zwei Betten. Sehr appetitlich sah es gerade nicht aus. Der Hausherr, seiner Angabe nach 20 Jahre alt, hauste da mit seiner 18 Jahre alten Frau und seiner Schwester. Die Frau bereitete den Tee, stillte zwischenhinein ihr Jüngstes, der Mann machte die Honneurs, pries in lauten Tönen seinen Tai, verzapfte dazu einen Curacao, und die Schwester wachte mit Argusaugen darüber, dass jeder seine Zeche pünktlich entrichtete. Die anderen Truppenteile, besser ausgerüstet als wir, hatten ihre Gulaschkanonen, z.T. russischer Herkunft, in Betrieb gesetzt und konnten bald ihren Leuten ein warmes Mittagessen bieten. Um 13 Uhr wurde ich zum Befehlsempfang geschickt. Um 1 Uhr in der Frühe sollte das Detachement wieder zum Abmarsch bereitstehen.

Zurück ging es wieder dieselbe Straße. Als es dunkelte, standen unsere beiden Kompagnien in Ochendzin. Wir waren ungefähr 30 km marschiert. Hier wurde wieder einquartiert und auch hier zog der arme Märtyrer Franz wieder sämtliches Getier an sich, so dass für keinen der in der Stube auf Stroh versammelten übrigen vierzehn Mann etwas übrigblieb. Die Folge war eine ziemlich geräuschvolle Nacht, so dass alle indirekt unter der Insektenplage litten. Der Abmarsch wurde so eingerichtet, dass wir um 1 Uhr morgens in Kempen eintreffen konnten. Alles freute sich auf einen Ruhetag und besonders auf ein warmes Mittagessen. So waren trotz großer Ermüdung die Leute guter Dinge. Doch es war anders beschlossen. In Olzowa kam uns ein Radfahrer entgegen mit dem Befehl: „Das Bataillon steht um 2 Uhr auf dem Marktplatz in Kempen bereit zum Abmarsch in der Richtung Baranow. So blieb denn kaum eine Stunde Zeit zum Packen und zur Erholung. Der Aufenthalt in Kempen hatte damit sein Ende erreicht. Ein weiterer Abschnitt in unserem Kriegsleben hatte begonnen.

Abermals ging es der russischen Grenze zu, diesmal in südöstlicher Richtung. Über Baranow und Slupia gelangten wir auf einer schönen Straße nach Opatow, wo wir nach Einbruch der Dunkelheit eintrafen. Dieser Ort war mit Einquartierungen dicht belegt. Zwei Stunden standen wir auf der Straße im Regen, ohne zu wissen, was nun eigentlich werden würde. Kurz darauf kam die verheißungsvolle Kunde, dass wir im „Dominium“ Massenquartiere beziehen sollten. Der vierten Kompagnie wurde der große Schafstall südlich des Ortes zugewiesen, unsere dritte Kompagnie belegte die Scheunen. Diese befanden sich über den massiv gebauten Stallungen, zu denen man über den weiten Hof des umfangreichen Landgutes durch unübersehbare Jauchepfützen und mächtige Misthaufen im rettenden Strahl der Taschenlaternen nach mancherlei Fährnissen gelangen konnte. Alles hatte hier schon einen typisch polnischen Anstrich. In das Herrengut kamen die Offiziere, alles andere stieg im Scheine einer Stalllaterne eine enge Holztreppe hinauf in das duftende Heu und Stroh, wo sich mancher in der rabenschwarzen Dunkelheit am Dachgebälk die erste Kriegsbeule stieß. Obgleich wir uns alle so tief wie möglich in das Heu vertieften, klagte doch jeder am anderen Morgen, dass er elend gefroren habe. Es war noch dunkel, als eine Gruppe unsäglich schmutziger Dirnen in der Scheune erschien und mit ihren Heugabeln unbarmherzig die mit schnarchenden und fluchenden Landstürmern durchwimmelten Heuvorräte zu bearbeiten begannen, um das Heu durch die Luken in den Kuhstall zu befördern, wo die in dampfenden Reihen harrenden Tiere gleichzeitig vorn gefüttert und hinten gemolken wurden. Ein armer Landsturmmann kam auf diese Weise um seinen rechten Stiefel.

Die Kompagnie hatte 30 Liter Milch gekauft, die aber im Handumdrehen vertilgt waren. Ich musste mir bei einer Kuh noch einen Schoppen extra kaufen, da ich zu spät kam, weil ich mich zu lange auf der vergeblichen Suche nach einer Waschgelegenheit aufgehalten hatte. Unter einem Holzschuppen kochten zwei Landstürmer, die sich in Lamsdorf als „Russenköche“ bewährt hatten, in einem mächtigen Kessel einen Morgenkaffee, der aber schon von weitem so miserabel roch, dass ich mich gar nicht erst zum Kaffeekessel traute. Mit Mühe und Not gelang es mir, bei einem anderen Truppenteil, welcher Semmeln gefasst hatte, zwei Stück davon zu ergattern. So war das Frühstück vervollständigt.

Die Kleidung voll Heu und Stroh trat die Kompagnie um 8 Uhr zum Abmarsch an und nahm unterwegs die schafstallduftende vierte Kompagnie auf. Mit ihr zusammen strebten wir über Boleslavice der nahen Grenze zu, welche auch hier durch die Prosna gebildet wird. Auf der gegenüberliegenden Seite liegt das kleine Städtchen Boleslawez, welches wir gegen 9:30 Uhr vormittags erreichten. Dort vereinigten wir uns mit der ersten und dritten Kompagnie, die bereits auf dem Marktplatz die Gewehre zusammengesetzt und das Gepäck abgelegt hatten. Wir taten desgleichen und trafen Anstalten für eine Mittagsverpflegung, da hier anscheinend mit einem längeren Aufenthalt zu rechnen war. Es wurden Fleisch und Kartoffeln gekauft. Das Fleisch wurde im Hausflur eines Fleischers einem großen Wurstkessel übergeben. Auf der anderen Seite des Marktes wurden die Kartoffeln in einer anderen Kochgelegenheit aufgesetzt, so dass nach einigen Stunden des Harrens und Hoffens den Mannschaften eine feine Fleischbrühe mit Fleisch und Kartoffelstückchen verabreicht werden konnte. Wir Feldwebel hatten es uns in der Wohnung des polnischen Fleischers bequem gemacht und bekamen von unserem Koch das gleiche schmackhafte Gericht in der Küche zubereitet. Wir ließen es uns zusammen mit den Offizieren bestens munden.

Gegen 2 Uhr erreichte uns der Befehl, dass die erste und dritte Kompagnie über die Prosna zurückgehen und die dritte und vierte Kompagnie aber in Boleslawez Quartier beziehen sollten. Ich kam mit meinem Kameraden Franz und dem Kompagniefeldwebel Marx zu einer Judenfamilie Holc am Marktplatz in das Quartier. Die Mitglieder der Familie waren außerordentlich zuvorkommend und gastlich, so dass wir da keine Not litten, wenn auch durch die Einhaltung der koscheren Gebräuche unsere Verpflegung auf allerhand kleine Hindernisse stieß. Was mir dort am besten gefiel war die anmutige Zila, des jungen Holc freundliches Töchterchen mit zwei langen schwarzen Zöpfen und die Art, wie der alte Großvater Holc beim Aufstehen, er schlief wie ich in der Küche, seine Morgentoilette verrichtete. Wie umständlich ist das alles bei uns und kann doch wie so manches andere so ungemein vereinfacht werden. Der alte Holc also mit seinem Judenkäppchen auf dem Kopf baut auf seinem Küchenstuhl eine leere Schüssel auf, nimmt einen Blechbecher mit Wasser, nimmt davon einen kleinen Schluck, spuckt ihn über die Hände, fährt einmal mit den angefeuchteten Händen über das Gesicht, trocknet sich ab, und im Nu ist die Reinigung von Mund, Zähnen, Gesicht und Händen ohne jeden überflüssigen Aufwand von Zeit, Kraft und Bewegung vollzogen. Ja, in Polen kann man noch vieles lernen! Andererseits nahmen die Leute aber auch Lehren an. So haben mein Kamerad Franz und ich den Fleischersleuten der Familie Horc beigebracht, wie man Kinder bis zu einem Jahr aufwärts mühelos zum Einschlafen bringt, abweichend von der polnischen Methode. In dem Wohnzimmer, wo wir auf das Garwerden des Rindfleisches warteten – wir waren gerade am Wetten, ob der Krieg oder das Fleisch eher fertig sein würden – stand ein Kinderwagen, in welchem der Sohn des Hauses so eben eine Milchflasche beendet hatte. Er war nicht besorgt um das Schicksal seines Vaterlandes. Die Mutter trat mit der leeren Milchflasche ab. Als Ablösung erschien ein Göhr vom Typus unserer „Ostermädchen“, gröhlte mit fürchterlicher Stimme ein polnisches Lied (vielleicht war es „Noch ist Polen nicht verloren“), maß uns mit überlegenen Blicken, packte den Kinderwagen an Steuer- und Backbord und begann das unselige Vehikel mit raschen, rücksichtslosen Stößen unter Donnergepolter abwechselnd mit dem einen und dem anderen Räderpaar auf den Fußboden aufzustoßen. Erschreckt fuhren wir auf. Zuerst dachten wir an einen Kindesmord. Das Kleinkind fing jämmerlich an zu schreien. Aus dieser Wirkung und den verkehrten Maßnahmen als Ursache schlossen wir auf den Zweck, dass das Kind beruhigt werden sollte. Mit wenig Erfolg versuchten wir dem Göhr Einhalt zu gebieten. Nur lauter erklang ihr Schreigesang, fester stieß sie den Wagen auf die Räder. Sie verstand uns nicht, ebenso nicht die herbeigeholte Mutter. Auch der Vater, der deutsch verstand, wollte unsere Theorie nicht anerkennen, bis mein Kamera Franz das Göhr vertrieb, den Kinderwagen mit geübter Hand erfasste und ihn in die Richtung der Längsachse sanft und behutsam durch Strecken und Beugen des Armes hin und her schob, während ich in eifriger Rede den Vater ersuchte, sich doch einmal mit überfülltem Magen in die Lage des Söhnleins und dessen Behandlung durch das Mädchen hineinzudenken. Inzwischen war der Kleine selig entschlummert und staunend und kopfschüttelnd umstanden die Leute ihr Familienglück.

In dem Städtchen Boleslawez verbrachten wir noch einen ganzen Tag und abermals eine Nacht. Andere Truppenteile waren im Gelände nach Osten zu auf Vorposten gezogen, auch waren zur Sicherung und Aufklärung Kavalleriepatrouillen vorgeschickt worden. Seitlich des Städtchens an der Prosna befand sich eine alte Ruine mit einem hohen verfallenen Turm aus Polens Vergangenheit. Darauf wehte eine weiße Flagge. Die Eingeweihten wussten, dass dies für die in der Nähe lagernden Truppen ein Zeichen dafür sein sollte, dass von feindlicher Seite keinerlei Gefahr drohte, solange die weiße Flagge sichtbar war.

 

Am nächsten Tag begann in der Frühe der Vormarsch. Dem Detachement [21] Zenker zugeteilt übernahm unser Bataillon die Vorhut, unsere dritte Kompagnie den Vortrupp und mein Zug die Spitze. So war ich ganz vorn, wo es stets am interessantesten ist. Während der Nacht waren unsere Vorposten durch Kosaken beschossen worden. Es hieß daher „scharf Ausblick halten“, um Überraschungen vorzubeugen. Weit draußen und seitlich der Straße klärten überdies zusätzlich unsere Kavalleriepatrouillen auf. Das holperige Pflaster von Boleslawez verwandelte sich beim Verlassen des Städtchens in ein ödes, tiefes Sandmeer ohne seitliche Begrenzung, abwechselnd mit Pfützen und Morast, so dass sich das Vorwärtskommen außerordentlich mühselig gestaltete. So zogen wir durch Wiewiorka, Zdar und Parcise, bis sich vor dem langgestreckten Dorf Lyskornia der Sandboden mehr und mehr in einen aufgeweichten schlüpfrigen Ton verwandelte, in dem wir nur mit großer Anstrengung weitermarschieren konnten. Den Höhepunkt erreichte dieser Morast in dem Dorf selbst, dessen Straße einen zähen, weichen Brei bildete, in welchem man bei jedem Schritt mit der halben Stiefellänge einsank, so dass die Stiefel stecken zu bleiben drohten. Als wir uns bereits dem Dorf näherten, sahen wir von weitem am Dorfende eine Anzahl Reiter, welche sich auf uns zu bewegten und nicht zu unserem Detachement zu gehören schienen. Auch die Uniformen machten, soweit wir durch das Glas beobachten konnten, einen durchaus fremdartigen Eindruck. Feindliche Reiter schienen es aber nicht zu sein, dem Verhalten nach zu beurteilen. Als wir im Dorf angelangt waren, entpuppten sich die Reiter als österreichische Dragoner in malerischen Uniformen. Eine ihrer Patrouillen brachte in einem flotten Jagdwagen einen gefangenen jungen Russenoffizier, welcher keck die ihm entgegenkommende Heeressäule musterte. Fröhlich wurden die Bundesbrüder begrüßt.

Endlich hatten wir das unwegsame endlose Dorf hinter uns. Die Straße nahm wieder einen mehr sandigen Charakter an. So gelangten wir gegen Abend nach Biala, wo unser Bataillon bei Einbruch der Nacht Vorposten bezog. Mein Zug bildete die Vorpostenkompagnie und wurde im Schulhaus untergebracht. Die Verpflegung war gleich Null, nur etwas Brot und Wurst konnte verteilt werden. Nach dem Tagesmarsch war dies eine allzu geringe Labung. Mit Tee- und Kaffeekochen wurde der Abend verbracht. Zum Schlafen wurde Stroh herbeigeschafft, und bald legte sich einer nach dem anderen zum Schlummern nieder. Einige Schwierigkeiten bereitete die Beschaffung von trockenem Feuerholz. Selbst der im Hof stehende Bretterabort, ein seltener Luxus im gesegneten polnischen Land, wurde nicht verschont und verwandelte sich schnell unter den Beipicken und Äxten der Landstürmer in kleines Brennmaterial ungeachtet der Protesteuse eines Offiziers, dem gerade in diesem Augenblick an der Erhaltung dieses Kulturobjektes riesig viel gelegen war.

Ich war eben auf meinem Stroh eingeschlummert, als der Feldwebel mit einigen Wagen der Bagage [22] ankam, die große Bagage war infolge der schlechten Straße nur bis Liskornia gekommen, und mich zum Befehlsempfang nach dem Bataillonszimmer beorderte, wo ich um 11 Uhr eintreffen sollte. Nur wenige Minuten waren es noch bis zu dieser Zeit und wo das Geschäftszimmer war, konnte mir niemand sagen. Ich griff zur Taschenlampe und tastete mich in der pechschwarzen Regennacht von Haus zu Haus nach rückwärts, bis ich nach Verlauf einer guten halben Stunde im Pfarrhaus das Ziel meiner Wünsche erreicht hatte. Zuvor hieß es aber noch in einem Vorraum zwei Stunden zu warten, da der Befehl noch nicht da war. Nach Verlauf dieser Zeit machte ich dem Bataillonsadjutanten klar, dass uns das Warten in einem wohnlicheren Raum mit Gelegenheit zum Sitzen oder Liegen leichter fiele und wurde daraufhin mit den Feldwebeln der übrigen Kompagnie in das Geschäftszimmer verwiesen, wo auf einem Plüschsessel des Pfarrers der Zahlmeister schnarchte, während auf einem zweiten Sessel der Adjutant sein unterbrochenes Schnarchen mit Donnergetöse wieder aufnahm. Nie wieder habe ich einen so tüchtigen und gewaltigen Schnarcher wiedergefunden. Der Adjutant leistete darin Übermenschliches. Trotzdem schliefen in der einen mit Stroh belegten Hälfte des Raumes zahlreiche Offiziere und Offizierstellvertreter, die ebenfalls ein maßloses Schnarchkonzert veranstalteten. Nachdem ich auf einem Stuhl sitzend noch mehrere Stunden vergebens wartend verbracht hatte, legte ich mich zu den Schnarchern auf das Stroh, als gerade durch Umwälzen eine Lücke entstanden war. Ich versuchte ein wenig zu ruhen. Endlich ¾ 7 Uhr erschien ein Unteroffizier mit dem Befehl, der sofort verlesen und abgeschrieben wurde. Er füllte in meinem Notizbuch 9 Seiten und enthielt für uns als wichtigsten Hinweis, dass unsere Kompagnie um 8 Uhr nach Konti aufbrechen sollte. Dort waren Quartiere zu beziehen und Vorposten aufzustellen, im Anschluss an die auf einige andere Dörfer verteilten Kompagnien.

Acht Uhr war es, als ich in dem Schulhaus wieder eintraf. Alsbald erfolgte der Abmarsch nach dem in der Luftlinie ganz benachbarten Konti, den wir der Wegverhältnisse halber auf großen Umwegen erreichten. Dieses Dorf lag an einem großen Wald und bestand nur aus wenigen strohgedeckten Holzhütten mit armseligster Einrichtung. Stube, Kammer, Küche, wie üblich ein einziger Raum, als einziger Schmuck hingen zahlreiche Heiligenbilder an den Wänden, vor allem die nirgends fehlende „schwarze Mutter Gottes von Czenstochau“ mit dem Mohrengesicht auf goldenem Grunde. Tief bestürzt waren die Einwohner durch unsere plötzliche Ankunft, wir ebenfalls wegen des allen Begriffen spottenden Zustandes der Dorfstraße, die einem Moorbad glich und nur durch Ausweichen in die nassen Straßengräben zu beiden Seiten überwunden werden konnte. Von Haus zu Haus legten wir quer über die Straße dicke Tannenzweige, um den Verkehr zu ermöglichen. Wer nicht unbedingt draußen zu tun hatte, blieb hübsch „in der Stube“. In jeder solcher Stuben hatten sich 10 – 20 Mann eingenistet und begannen sofort alle essbaren Vorräte zu durchstöbern, denn mit der Verpflegung war es wieder nichts. Hühner und Gänse waren genügend da, auch Kartoffeln, nur an Brot war Mangel. Hier blieben wir den Nachmittag und die Nacht über, die wir wieder auf Stroh verbrachten. Kurz vor unserem Eintreffen waren noch Kosaken dagewesen, die aber spurlos verschwunden waren und sich auch des Nachts nicht bemerkbar machten.

Früh brachen wir am anderen Tag nach Lagiewniki auf, wo die erste und zweite Kompagnie genächtigt hatten. Hier wurde das Detachement neuformiert. Unsere Kompagnie fasste die eiserne Portion, Zwieback und Fleischkonserven, mit denen die übrigen Kompagnien bereits versehen waren. Dann begann der Weitermarsch über Czarnozyly, Emanuelin, Adamin, Nieluszyna, Wolarudlicka bis nach Dabrowa, wo wir wieder nach Einbruch der Dunkelheit ankamen. Es war dies ebenfalls ein kleines armseliges Nest, doch musste hier das ganze Bataillon und außerdem eine Abteilung Maschinengewehre unterkommen, so dass viele Leute trotz des eingetretenen scharfen Frostes in die Scheunen zu kriechen genötigt waren. Ich sollte mit einem Zug die Feldwache übernehmen und richtete mich mit etwa 20 meiner Leute in einem am Dorfende stehenden einsamen Haus ein, welches von seinen Bewohnern verlassen und verschlossen gewesen war. Dort schien man für unseren Empfang vorbereitet, denn alles war in schärfster Ordnung, soweit dieses Wort in Polen berechtigt ist. Sogar Feuerholz war in einem kleinen Nebenraum aufgeschichtet. Nur der aus Steinen und Lehm hergestellte niedere Feuerherd entsprach nicht den in ihn gesetzten Erwartungen. Denn es dauerte nicht lange, da fing der aus lehmverschmierten Brettern bestehende Verbindungskanal zu brennen an und so musste die ganze Nacht hindurch die Glut gelöscht werden, während man gleichzeitig unten im Herd das Feuer mit Holz speiste, um drei in einem Kessel als Frühstück aufgesetzte Hühner gar zu kochen und um die Stube warm zu halten. Diese erwies sich trotz ihrer Geräumigkeit für die zahlreichen Insassen als recht eng, so dass einer dem anderen im Wege war, besonders als während der Nacht noch verschiedene halberfrorene Gestalten aus den Scheunen unsere Gastfreundschaft in Anspruch nahmen. Dies wurde ihnen natürlich nebst einem warmen Trunk trotz der drückenden Enge gern gewährt.