Vom Ende einer Rütlifahrt

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Vom Ende einer Rütlifahrt
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Rolf Käppeli

Vom Ende einer Rütlifahrt

Roman


Zum Buch

Ausflug in Kriegszeit Die Schweiz im Jahr 1944 war vom Kriegsgeschehen umgeben. Der Betriebsausflug einer chemischen Fabrik aufs Rütli – zugleich die Hochzeitsreise des Patrons – wird zum Spiegel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation des Unternehmens und der Belegschaft. Die Reise legt die Stimmung der Menschen jener Zeit offen. Sie endet nach einer fröhlichen Fahrt auf dem Vierwaldstättersee.

Rolf Käppeli macht mit dieser patriotischen Reise ein Stück weit das widersprüchliche Leben und Überleben im Kleinstaat Schweiz im Zweiten Weltkrieg erfahrbar. Welche Anpassung ist angesichts des Inseldaseins den Menschen zumutbar? Welcher Patriotismus ist opportun? Wie nehmen Frauen ihn wahr, wie die Männer? Zwänge am Arbeitsplatz prägen das Oben und Unten in der Fabrik. Die Reise mit dem Raddampfer »Schiller« an den historischen Ort, den viele als Geburtsstätte der Schweiz sehen, wird zur patriotischen Erfahrung der besonderen Art.

Rolf Käppeli, geboren und aufgewachsen in Luzern, lebt mit seiner Lebenspartnerin in Uetikon im Kanton Zürich. Er studierte Germanistik, Pädagogik und Geschichte und arbeitete als Bildungsfachmann, Lehrer, Schulberater und Journalist. In den 1970er-Jahren war er Redaktor bei den Tageszeitungen „Luzerner Neuste Nachrichten“ und „Zürcher Tages-Anzeiger“. 1995 veröffentlichte er eine literarische Reportage sowie später ein Sachbuch und mehrere Romane. In der Zeitschrift „Grosseltern“ publizierte er eine monatliche Kolumne.

Impressum

Der vorliegende Roman ist zwar von wahren Begebenheiten inspiriert, aber dennoch ein rein fiktionales Werk. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Tatsachen, Orten oder Personen sind daher rein zufällig.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Brunnen_and_the_Mythen,_Lake_Lucerne,_Switzerland-LCCN2001703120.jpg

ISBN 978-3-8392-6856-8

1

Sie schaut über den dunklen See hinüber zum Hang, wo von der Häuserzeile am Horizont ein lichter Wald zum Ufer abfällt. Die Schatten der Bäume deuten nach Nordwesten, hin zum Gelände, wo die Toten ruhen.

Ins Friedental.

Emma Gamper sitzt im Extrazug nach Luzern. Mit ihrem Mann Gottlieb und einem befreundeten Paar, Heinrich und Rosmarie Tinner, haben sie in einem Viererabteil Platz gefunden. Im gleichen Wagen reisen Arbeitskollegen, die zur Ausflugsgesellschaft gehören.

Mit den Tinners verbringen die Gampers den einen oder anderen Sonntag bei einem Glas Wein im Garten oder sie machen bei schönem Wetter eine Wanderung mit den Kindern im Glarnerland.

Emma betrachtet den nüchternen Raum, mustert die Hüte auf den Ablagen über den schmiedeeisernen Stützen und schmunzelt. Die riechen nach Filz, Fest und Feiertag wie die Röcke und Frisuren der Frauen und die Anzüge, Gilets und Schuhe der Männer. Ihr Blick streift die Holzbänke, deren Farbe abblättert.

Es ist Dienstag, der 11. Juli 1944.

Der Zug verlangsamt die Fahrt. Emma schaut schräg hinunter auf die glatte Fläche. Das Wasser spiegelt die Umrisse des Pilatus.

»Welch märchenhafter Anblick: das Schilf, die Bäume, Wasservögel!«

Das Lächeln überstrahlt die Falten in Emmas Gesicht.

»Im Rotsee zu schwimmen, muss traumhaft sein, da zu rudern – ein Genuss.«

Am anderen Ufer steigen Menschen in ein Boot.

»Schau dort drüben, Godi, das Fährihaus mit dem Schiff, das die Leute über den Göttersee bringt.«

Gottlieb unterbricht das Gespräch mit Heinrich und schaut durchs Fenster. »Der Eindruck täuscht, Emma, was du siehst, ist eine Kloake. Die Abwässer der Umgebung fließen ungefiltert in den See, er hat keine Strömung. Das Leben darin stirbt ab.« Der schmächtige Mann verzieht das Gesicht. »Ich möchte nicht eintauchen in den Morast.«

Heinrich steht auf, zieht das Fenster herunter und beäugt die Gegend. Das metallene Rattern der Räder dringt wuchtig in den Wagen.

»Auf dem Seegrund liegen Handgranaten.«

Der Fahrtwind zerzaust Emmas Haar. Verständnislos schaut sie zu Heinrich. »Handgranaten?«

Rosmarie blickt ungläubig hoch, in ihrer Stimme schwingt ein vorwurfsvoller Unterton mit: »Was erzählst du da, Heiri, machst du Witze?«

Heinrich schüttelt den Kopf. »Vor knapp 30 Jahren explodierte auf der anderen Seeseite ein Munitionsmagazin, in der Nähe der Badeanstalt. Hunderte von Granaten flogen ins Wasser, sie liegen auf dem Seegrund – noch heute.«

Alle lehnen sich vor, um die Uferstelle zu sehen, wo Heinrich hinzeigt. Die Mitfahrenden machen neugierige Gesichter, Köpfe drehen sich, Gespräche werden unterbrochen. Kollegen von der Spedition haben Heinrichs Bemerkung mitbekommen, zwei Frauen aus dem Büro sind aufgestanden, um einen Blick ans gegenüberliegende Ufer zu werfen.

»Woher weißt du das?«, fragt Gottlieb, dessen Mundwinkel unmerklich zucken, als erwarte er eine Geschichte, die ihm zupass kommt.

Heinrich setzt sich wieder.

»Vor fünf Jahren am Schützenfest in Luzern erzählte mir ein Kollege davon, wir waren mit der Sektion der Feldschützen am Eidgenössischen. Beim Mittagessen auf der Allmend haben wir einander kennengelernt und darüber gesprochen.«

Emma runzelt die Stirn. »Kamen bei dem Unglück Menschen zu Schaden?«

»Fünf Personen starben. Es muss mitten im Krieg passiert sein, ich glaube, 1916. Auf dem Friedhof, an dem wir vorüberfahren, soll eine Gedenkstätte stehen, die der Bund finanziert hat. Für die Angehörigen der Opfer sammelte man Geld.«

Es wird still in der Runde, nachdenklich schauen sie zum Fenster hinaus. Gottlieb drängt Heinrich, mehr über den Vorfall zu berichten.

»Es müssen über 1.000 Handgranaten gewesen sein, die eine private Firma für das Militär hergestellt hatte.« Heinrich zündet sich eine Zigarette an; die Aufmerksamkeit im Wagen, die er mit seiner Äußerung ausgelöst hat, ist ihm sichtlich ungewohnt. Für einmal interessiert man sich in seiner Umgebung nicht für Gottliebs prononcierte Meinungen zu Armee und Politik, sondern für ihn.

»Im Gespräch haben wir zufällig herausgefunden«, fährt Heinrich mit ernster Miene fort, »dass der Vater des Schützenkollegen zwei Jahre später zum Bataillon gehörte, das im November 1918 Ordnungsdienst beim Landesstreik in Zürich leistete. Die Soldaten kamen aus dem Luzerner Hinterland. Der Kollege konnte nicht wissen, dass mein Vater unter den Streikenden war – und verprügelt wurde.«

Gottlieb nickt zustimmend und schaut Heinrich eindringlich an. »Beim Generalstreik kam es nicht bloß zu Prügeleien, Heiri, es gab Tote.« Er verschränkt die Arme. »Die Luzerner sind mit Maschinengewehren angerückt. Verletzt und getötet wird man in der Schweiz nicht vom äußeren Feind, der innere ist in den Augen der Obrigkeit gefährlicher, selbst in bitteren Tagen wie …«

»Heute keine Politik!«, unterbricht Emma ihren Mann scharf, sie blickt die beiden Männer streng an. »Ich lasse mir den Tag nicht durch politische Schwarzmalerei verderben!«

Gottlieb linst ins Abteil auf der anderen Seite und raunt: »Es ist leider eine Tatsache, Emma, auch in diesem Krieg, der nicht enden will, sind Schweizer von Schweizern erschossen worden.«

Emma wendet sich missmutig ab und schaut aus dem Fenster. Sie kennt Gottliebs Ärger über militärische Einsätze gegen streikende Arbeiter in der Schweiz. Über umstrittene Todesurteile der Militärjustiz. Im Grunde teilt sie seine Meinung und versteht seine Gefühle. Heute jedoch hat sie keine Lust auf unangenehme Debatten. Sie stellt sich vor, wie Gottlieb und Heinrich sich regelmäßig in der »Krone« zum Jass treffen, nachmittags mit Kollegen, wenn die Frühschicht beendet ist. In welchem Ton reden sie da miteinander?

Emma schätzt Heinrichs bescheidene Art. Er kennt sich nicht nur in der Bergwelt aus, er ist im Betriebsrat der Fabrik aktiv und weiß um die Sorgen der Arbeiter und Angestellten. Das verbindet ihn mit Gottlieb. In der Gewerkschaft ist Heinrich nicht. Er sei nicht der Kämpfertyp und wolle sich nicht exponieren, wehrte er ab, als Gottlieb ihn zum Beitritt in die Sektion aufforderte. Wenn es um Probleme mit Vorgesetzten geht oder bei einem sozialen Engpass, zum Beispiel nach einem Unfall an einem Ofen, setzt sich Heinrich vorbehaltlos für die Betroffenen ein. Emma erinnert sich an das Unglück vor drei Jahren, als ein Arbeiter unter einem stürzenden Pyrithaufen begraben wurde. Die Witwe stand nach dem tödlichen Unfall mit zwei Kindern alleine da. Heinrich setzte alle Hebel in Bewegung, um der Familie zu helfen, mit Erfolg. Die Fabrikherren zeigten sich entgegenkommend, die betriebseigene Pensionskasse entrichtet der Frau eine Rente, worauf sie nicht zwingend Anspruch gehabt hätte. Kürzlich forderte Heinrich mehr Essensgutscheine in der Kantine für die Mitarbeiter, wovon auch sie, Emma, die in der Buchhaltung arbeitet, und natürlich auch Gottlieb im Büro etwas haben.

 

Für all dies ist Emma Heinrich dankbar. Auch wenn ihr Mann Heinrich manchmal einen politischen Bremsklotz schimpft, erlebt sie den 50-jährigen Zürcher Oberländer als vermittelnden Brückenbauer. Es ist, findet Emma, neben ihrer Freundschaft mit Rosmarie zu einem schönen Teil Heinrichs Verdienst, dass sie, die Gampers und Tinners, in der Freizeit zu einem freundschaftlichen Quartett, einem eigentlichen Kleeblatt wurden. Rosmarie sagt jeweils lachend und augenzwinkernd: »Ein Vierblättriges«, wenn die Frauen gegen die Männer beim Jassen einen stolzen Weis ankündigen. Fliegen zwischen den Männern die Fetzen oder ziehen, weil sie sich in der Einschätzung der politischen Lage nicht einig sind, dunkle Wolken auf, erinnert Emma die anderen mit einem Kleeblatt, das sie aus einer Jacke oder Blusentasche hervorzieht, an künftige Tage, die besser würden. Nach dem Krieg.

Nach dem empörten Einwurf und dem warnenden Hinweis auf den feierlichen Anlass der Reise bleibt es still. Emma zieht die Fahrkarte aus der Rocktasche, die der Abteilungsleiter ihr gestern in die Hand gedrückt hat. Das Spezialbillet sei einen Tag lang gültig, für Hin- und Rückfahrt, hat er ihr erklärt. Wolle man später heimkehren, könne man nach 18 Uhr auch einen regulären Zug zurück nach Zürich wählen.

Emma schaut Rosmarie und die Männer fragend an. »Ich will den Besuch der Leuchtenstadt Luzern genießen, länger, als es das Programm vorsieht – seid ihr am Abend dabei?«

Heinrich und Gottlieb brummen etwas vor sich hin, man habe anderntags Spätschicht, was die Frauen als Einverständnis deuten.

Rosmarie nickt. »Werden wir Zeit haben, den Gletschergarten zu besuchen?«

2

Am Friedental vorbei scheppert die Bahn über die Reussbrücke, wo der Blick frei wird auf Luzerns Wohnquartier südländischer Bauarbeiter.

Nachdenklich schaut Otto Wigger auf das Treiben an der Baselstraße. Menschen drängen am Kreuzstutz in das elektrische Tram, Velofahrer zirkeln über die Gleise. Der Verkehrspolizist mit weißen Armstulpen lenkt Fußgänger und Fahrzeuge gestikulierend aneinander vorbei. Die Frau mit langem Rock weicht mitten auf der Straße dem Mann mit Schubkarren aus, der von der Bernstraße her quer über den Platz zur Sankt-Karli-Brücke steuert.

Heimatliche Gefühle überkommen Otto. Der Blick schweift rechts den Felshang hoch, hinauf zu den Arbeiterhäusern, von dort hinüber zum Schlosshotel mit den Türmen und Erkern, wo jetzt, wie er gelesen hat, Flüchtlinge und Kriegsgefangene hausen.

Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Entlebuchers, als er auf der anderen Seite der Reuss das schnörkellose Kirchengebäude am Fenster vorbeiziehen sieht. »Schau, dort, Hans, der Turm am Fluss, die Sankt-Karli-Kirche. Sie ist erst zehn Jahre alt und weniger pompös als die anderen Kirchen in Luzern, ein moderner Betonbau. Der Bischof hat dem Architekten vorgeworfen, das Gotteshaus sei im Inneren zu demokratisch eingerichtet. Zu demokratisch! Ich will mir das ansehen, wenn wir heute Abend von der Schifffahrt zurückkehren.«

Hans Brennwald guckt dem Kollegen über die Schulter. »Wenn du nichts dagegen hast, begleite ich dich. Auch wenn ich mit der Kirche nichts mehr am Hut habe, schon gar nicht mit der katholischen. Was immer der Kirchenfürst damit meinte – das macht mich neugierig.« Er zieht an der Toscani, bläst den Rauch zur Decke hoch und schürzt die Lippen. »Die Reise ist ein Feiertag – nicht nur für das frischgebackene Ehepaar Krütli.«

Otto schaut Hans fragend an.

»In drei Tagen ist mein Dienstjubiläum.« Hans zieht die Augenbrauen hoch, bevor er in ernstem Ton fortfährt. »Meine Tage und Nächte an den Pyrit­öfen und Bleikammern sind gezählt. Oberholzer hat versprochen, mir eine andere Arbeit zu geben, vielleicht im Düngerbereich, wo ich der Hitze weniger ausgesetzt bin und den Rücken schonen kann.« Er macht eine Grimasse, das Gesicht schmerzerfüllt, beugt den Oberkörper nach vorn, den Blick nach unten, wie beim Tragen der Säcke mit der schweren Last.

Otto beobachtet die Gebärde des Kollegen, runzelt die Stirn. Er kennt die glühende Hitze an den Öfen aus eigener Erfahrung, die Risiken in den Produktionshallen sind ihm vertraut, auch jene auf dem Fabrikgelände. Er klopft dem schmächtigen Kollegen auf die Schulter. »Vom Abfüllen der Säcke wirst du nicht befreit, Hans. Das Unterhauen der Haufen bleibt im Düngerbereich gefährlich, auch mit dem neuen Gabelstapler.«

»Ich weiß.« Hans nickt. »Sicher gibt es leichtere Arbeiten, vielleicht im Rangierbereich. Ich kann mich umschulen lassen, um eine Werklokomotive zu führen.«

Otto wippt mit dem Kopf hin und her. Im Gesicht sind die Jahre, die er in der Fabrik gearbeitet hat, in Furchen gebrannt, die Stimme ist ernst, die Augen wirken müde. 32 Jahre hat er in verschiedenen Werkbereichen geschuftet, immer zur Zufriedenheit der Vorgesetzten. Momentan hilft er im Düngerbau, wo mehr Aufträge hereinkommen. Im Umfeld schätzt man seine entschlossene Art zuzupacken, die sicheren Handgriffe an den Maschinen. Wenn es etwas von Hand zu transportieren gibt, ist seine Hilfe gefragt. Er weiß: Sein Wort hat Gewicht, unter Kollegen wie bei Vorgesetzten. Nur einmal hat Otto seiner Wut in der Fabrik freien Lauf gelassen, vor zwei Jahren, als man ihn zunächst bei einer Jubiläumsgabe übersehen hatte. Der verantwortliche Leiter hat sich bei ihm entschuldigt. Das Geschenk, eine festliche Uhr, trägt Otto seither am Sonntag. Damit war die Sache für beide erledigt. Nächstes Jahr wird Otto 55, an eine Pensionierung ist noch lange nicht zu denken. Er würde auch sich eine andere Arbeit gönnen.

»Braucht die Fabrik neue Lokführer?«

»Ich weiß es nicht, jedenfalls brauche ich einen neuen Arbeitsplatz.« Hans blickt Otto entschlossen an. »Wir werden die Schicht, wenn es klappt, aufeinander abstimmen.«

Otto überlegt. »Wann bist du in die Fabrik eingetreten?«

»Vor 25 Jahren. Vater und Großvater waren noch mit im Betrieb.«

Es wird dunkel, ein fahles elektrisches Licht geht an.

Hans nimmt die Brille ab, putzt die Gläser mit dem Taschentuch. »Der Vater hat es zum Fabri­kationsleiter gebracht. Seit er vor einem Jahr in Rente ging, steht er tagein, tagaus in Wigets Rebberg. Er kennt den Weinbau wie kein anderer und erzählt Geschichten, die man in der Fa­brik ungern hört.«

»Welche denn?«

»Er berichtet von Verbrennungen an den Reben. Beklagt Schäden, die vom Schwefelgas der Fabrik kämen.«

Otto schaut Hans skeptisch an. »Woher weiß er das?«

»Die meisten Bauern in der Umgebung schimpfen. Die Ernte ist in den letzten Jahren kleiner geworden.« Hans zuckt mit den Schultern. »Einen stichfesten Beweis haben sie nicht, die Schäden können mit dem schlechten Wetter zusammenhängen.« Er hält inne. »Allerdings, die rotbraunen Spuren an den Rosskastanien, die du in der Badeanstalt findest, deuten auf die gleiche Ursache.«

Otto rümpft die Nase. »Man sollte dem nachgehen.« Er hält inne. »Vor allem müsste man, wo wir arbeiten, für mehr Sicherheit sorgen.«

Hans nickt. »Mein Großvater zog sich am Ofen Verbrennungen zu, er ist daran gestorben.«

Otto macht ein verdutztes Gesicht. »Dein Großvater? Weiß Gamper davon?«

»Ja, und der Gewerkschaft ist auch bekannt, dass sich vor 20 Jahren zwei Kollegen beim Ausräumen des Salpetersäure-Ofens vergiftet haben, einer mit tödlichen Folgen.«

»Das höre ich zum ersten Mal.«

»Man hat es nicht an die große Glocke gehängt, der Zusammenhang mit der Vergiftung wurde bestritten. Man wollte, dass man die Sache im Nachhinein abklärte – vergeblich.«

»Hat deine Großmutter, als ihr Mann starb, eine Abfindung bekommen?«

»Bis zu ihrem Tod bezog sie eine kleine Rente von der Witwen- und Waisenkasse der Fabrik. Zusammen mit dem, was die Putzarbeiten in den Herrschaftshäusern am See einbrachten, reichte es zum Überleben.«

3

Arm in Arm spazieren Karl und Erika Krütli über den Bahnhofsplatz, vor ihnen schlendert eine Gruppe von Angestellten vorbei an Pferdedroschken, wo Kutscher gelangweilt auf Touristen warten. Es ist 8.30 Uhr. Mit der Hand deutet Karl schräg hinüber zum See.

»Dort, Liebste, an der Landebrücke 3, erwartet uns das Prunkstück der Waldstätterflotte. Hier beginnt unsere Hochzeitsreise.«

Erika schaut Karl vertrauensvoll an, sie ahnt, was kommt.

»Wenn wir mit der großen Familie auf dem Wasser sind, vergessen wir, was uns Sorgen macht: den Krieg, das Geschäft, die Zukunft. Du wirst begeistert sein.«

Karl strahlt. »Ich habe den stolzen Raddampfer für dich und uns alle gemietet, Erika. Es wird eine unvergessliche Fahrt.«

»Ich freue mich, was für ein wunderbares Geschenk!«

Erikas Stimme wird leiser. »Kannst du das, Liebster: Alles vergessen, was dich beschäftigt?«

Karl holt Atem, reckt die Brust. »Auf dem Schiff, im Schillerstübli, bei einem guten Glas Weißen, oder auf dem Oberdeck neben dem Kapitän, umringt von Schweizer Bergen, da entschwebt, was uns bekümmert.« Die Augen des groß gewachsenen Mannes weiten sich.

Er spricht, denkt Erika lächelnd, als übte er für die Rede auf dem Festplatz.

»Wir befinden uns im Herzen der Schweiz. Schau dich um, diese Kulisse: hinter uns der Pilatus, vor uns der schönste See in Europa, eine landschaftliche Perle. Wem die stolze Natur der Urschweiz die Seele nicht erwärmt …«, sein Blick gleitet hin zu Rigi und Bürgenstock, »wem der heutige Tag den Glauben an das Unternehmen und unser Land nicht stärkt, dem ist nicht zu helfen.«

»Gewiss, mein Schatz.« Erika schaut zum Ufer, wo zwei Höckerschwäne schwerfällig über steiniges Gefälle hinab ins Wasser watscheln. Mit kräftigen Stößen schwimmen sie davon.

Auf Karls Stirn bildet sich eine Sorgenfalte. »Freust du dich nicht?«

Erika, den Schalk im Gesicht, blickt Karl verschmitzt an.

»Welche Frage, hochgeschätzter Reiseleiter!«

Erika zweifelt nicht an Karls Willen, ihr einen unvergesslichen Tag zu schenken. Er wird keinen Aufwand scheuen, dafür zu sorgen, dass sich der Hochzeitstag tief in ihr Gedächtnis einbrennen wird. Dies, hofft sie, wird helfen, Unebenheiten, die am Horizont ihrer Beziehung schon früh aufgetaucht sind, zu glätten. Seit sie mit Karl in der Fabrikantenvilla in Rustikon wohnt, hört Erika in Abständen von kleinen Fehltritten, die er an ihr beobachte. Ein unverblümtes Wort, locker hingeworfen am Mittagstisch der Krütlis, eine unpassende Bemerkung bei einem gesellschaftlichen Anlass. Es seien Ausrutscher, schwächt sie dann ab, Patzer, die ihr passieren. Unangenehm aufgefallen, vermerkte Karl einmal, sei ihm ihr Fraternisieren mit der Hausangestellten. Im Übrigen hätten ihn die skeptischen Blicke gestört, wenn er einen Arbeiter oder Angestellten wegen unstatthaften Widersprechens zurechtweisen müsse; das passe nicht zum Stil des Hauses, tadelte er.

Erika nimmt Karls Nadelstiche nicht auf die leichte Schulter. Manchmal steckt sie den Argwohn weg, den Karls deftige Art bei ihr auslöst. Sie ist 18 Jahre jünger als er und überzeugt, dass der unübersehbare Altersunterschied sie im ehelichen und gesellschaftlichen Kräftemessen begünstigt. Ihr jugendliches Auftreten federt Unstimmigkeiten ab, es verschafft ihr Freiraum, den sie nutzt. In dieser Haltung wird sie bestärkt durch ihre Freundin Christa, deren Einsatz für den fabrikeigenen Kindergarten sie schätzt. Ihr vertraut sie als Einzige die Zwistigkeiten ihrer Ehe an. Karls Frostigkeiten schmelzen in der Regel angesichts Erikas verführerischen Charmes. Anderseits ist Erika bewusst, dass sie mit Karl den Spross einer industriellen Familiendynastie geheiratet hat. Diese Verpflichtung verträgt keine Leichtfertigkeiten, keine Spielerei in Beziehungsfragen. Das will und muss sie beachten, es fordert ihr einiges ab. Das Jawort, das sie Karl vor einem halben Jahr auf dem Standesamt gegeben hat, war ein Kompromiss, gestand sie Christa, keine Liebesheirat. Kommt hinzu, dass einige Regeln im Umgang, die seit Urzeiten in Karls Familie gelten, jenen einer mittelständischen Kaufmannsfamilie wenig entsprechen, im Umgang innerhalb der Familie, im Betrieb, im Kontakt mit Kunden. Die Krütlis, hat Erika gelernt, haben eigene Sitten und Rituale, die gepflegt werden, ungeschriebene Gesetze, geformt und gefestigt über 130 Jahre, als die Vorfahren den Grundstein zur wirtschaftlichen und familiären Erfolgsgeschichte legten.

 

In der kurzen Zeit ihrer Ehe lebt Erika eine Form der Anpassung, mit der sie noch unzufrieden ist. Die Unterschiede zwischen Karl und ihr findet sie spannend. Sie bewundert jene charakterlichen Züge an ihrem Mann, die auch ihrem Wesen entsprechen: die Liebe zur Natur, das Interesse an Pflanzen und Insekten, die Wertschätzung des Vogelschutzes. Karls Bekenntnis zur Umwelt hat die beiden einander nähergebracht. Mehr als es gegen außen den Anschein machte. Was es in Karls Verwandtschaft und im Betrieb hinter vorgehaltener Hand zu reden gibt, die schwachen wirtschaftlichen Motive der Liaison und die lebenslustige Jugendlichkeit der Ehefrau, das alles gehört zur Oberfläche, findet Erika, es ist Stoff für Tratsch und Klatsch. Erika fasziniert Karls untergründiges Wesen, die Gegensätze in seinem Leben. Die Aufgaben des obersten Fa­brikherrn stehen in auffälligem Kontrast zu seinem beherzten Einsatz für gefährdete Tier- und Pflanzenarten: Karl, der große Naturfreund, führt ein Unternehmen, das einen internationalen Ruf darin erworben hat, wirksame chemische Mittel für die Agrarwirtschaft zu produzieren, giftige Stoffe zur Förderung pflanzlichen Wachstums, namentlich auch stinkige Schwefelsäure für Industrieprodukte.

Die Angst vor ehelicher Langeweile kenne sie nicht, versicherte Erika ihrer Freundin einmal, als beide aus dem Nähkästchen plauderten. Bei aller Anstrengung, die das Schicksal ihr abverlange: Ihr Mann sei eine zwar nicht einfache, aber interessante Persönlichkeit, von der sie viel lerne.

Karl lächelt, schaut hinüber zu den hochschießenden Fontänen vor dem Kunsthaus. Er kenne den Architekten des Baus, erzählt er Erika, von der Landesausstellung 1939 in Zürich, ein bedeutender Mann. Überhaupt sei die Luzerner Kai­anlage ein historischer Ort: Als Heerespolizist habe er vor vier Jahren, nach der militärischen Niederlage Frankreichs gegen Deutschland, miterlebt, wie 500 hohe Offiziere auf ein Schiff gestiegen seien, um auf der Rütliwiese vom General zu vernehmen, dass die Schweizer Armee, wenn sie die Grenzen nicht mehr verteidigen könne, sich zurückziehen werde in die Alpenfestung, ins Reduit um den Gotthard, uneinnehmbar. Der Plan sei noch heute so etwas wie eine militärische Lebensversicherung für die Schweiz, bekräftigt Karl. Die Schifffahrt und das Treffen im Juli 1940 sei, wenn auch riskant – die gesamte Armeespitze auf einem Schiff –, ein imposantes Zeichen des schweizerischen Widerstandswillens gewesen. Unter anderem gegen jene politischen Kräfte in Bern, die einen Anschluss an Hitler-Deutschland begrüßt hätten.

Erika schaudert, als Karl ihr ausmalt, was die möglichen Folgen wären: Das schweizerische Mittelland würde dem Feind überlassen – wer immer dies wäre. Das Militär würde Brücken und Tunnel zerstören, wichtige Transportwege in der Schweiz unterbrechen, notabene, fügt Karl mit grimmiger Miene hinzu, mit Sprengstoff aus seiner Fabrik.

Als die »Schweizer Filmwochenschau« und die Zeitungen von der Absicht des Generals berichteten, war man in der Schweiz verunsichert. Die Strategie, dem Feind den Eintrittspreis ins Land so teuer wie möglich zu machen, leuchtete Erika ein. Doch das politische Dilemma, auf welcher Seite man im Ernstfall stehen würde, war unangenehm, ja bedrohlich. Karls Unternehmen geriete in fremde Hände. Man wäre nicht mehr neutral, würde zum Kollaborateur. Als Hitlers Handlanger oder im Sold der Alliierten.

Man müsste fliehen.

Nur: wohin?

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