MORLOCK

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Am nächsten Morgen rief Georg beim Landeskriminalamt an, ließ sich mit der Ermittlungsabteilung verbinden und erklärte dem seit gestern bekannten Beamten die Änderung der Aussage vom Cadillac zum Mercedes-Benz 300. „Das haben Sie sich gerade noch rechtzeitig überlegt, bevor das gesamte Protokoll an die Staatsanwaltschaft übermittelt wird. Vergessen Sie nicht, zur Unterschrift zu erscheinen.“

Staatsanwalt Büchner war aus hartem Holz geschnitzt. „Sie können Ihre Strafanzeige erst unterschreiben, wenn Sie mir die Änderung Ihrer Aussage erklärt haben. Bis dahin halte ich die Festlegung auf eine bestimmte andere Automarke für unglaubhaft. Was haben sie wirklich gesehen?“ Georg Meier war völlig verunsichert. Nach einer Zeit des Schweigens reagierte Büchner geradezu knallhart: „Ich protokolliere: Auf Vorhalt schweigt der Anzeigeerstatter und gibt damit konkludent zu erkennen, dass die Festlegung auf eine Automarke entfällt. Das wird jetzt abgetippt und Sie können Ihre Anzeige in einer halben Stunde unterschreiben. Nehmen Sie solange auf dem Gang Platz.“

4. Treffpunkt „Grüner Baum“ in Fürth

Bis Ende 1954 bot die Fürther Altstadt beliebte Treffpunkte für amerikanische Soldaten. Zu einem ihrer bevorzugten Lokale gehörte der „Grüne Baum“ in der Gustavstraße. Dort arbeitete Kunigunde als Kellnerin, von allen „Kuni“ genannt. Ein Abend im Frühsommer 1954 blieb ihr wegen einer ungewöhnlichen Begegnung in besonderer Erinnerung.

„Ten beers, please!“ Zehn lärmende GIs umlagerten den Tresen, an dessen Zapfhahn Kuni mit großer Routine agierte. Den meisten der bierdurstigen Kehlen ging es dennoch nicht schnell genug: „Quickly, rapidly!“ Die Halbliterkrüge wurden ihr förmlich aus den Händen gerissen. Maßkrüge waren wegen mehrerer Schlägereien seit einigen Wochen nicht mehr in Gebrauch. Dichter Zigarettenrauch lag in der Luft. Er mischte sich mit dem Geruch verschütteter Biere und wurde in dieser Mischung in der Kleidung nach Hause getragen.

Die beiden, die sich als einzige nicht vorgedrängt hatten, setzten sich an einen Tisch in der Ecke. Kuni fand sie schon deshalb sympathisch, weil ihr Interesse offenbar nicht nur dem Bier galt, sondern auch dem Gespräch miteinander. Es machte den Eindruck enger Vertrautheit unter Freunden. „Endlich mal anständige Amis!“, dachte sie.

Der größere der beiden kam an den Tresen. Kuni begann wie gewohnt auf Englisch: „Would you like …“ „Sie können Deutsch mit mir reden.“ „Sehr gern. Was kann ich für Sie tun?“ „Gibt es auch ein kleines Bier?“ „Eigentlich nicht. Ich kann aber den Krug nur halb füllen – ein ‚Schnitt‘ sagen wir auch dazu.“ „Das ist sehr nett. Dann bitte zwei Schnitt.“

Um viertel vor acht erschien Kunis beste Freundin Anni, die sie seit der ersten Volksschulklasse kannte. Ihr Erscheinen erregte unter den Soldaten allgemeine Aufmerksamkeit, die sie jedoch entschlossen ignorierte. Da montags schon ab 20 Uhr Feierabend war, wollten sie beide zusammen ins Kino gehen. Kuni hatte Anni ausnahmsweise gebeten, sie im Grünen Baum abzuholen, obwohl sie wusste, dass Annis Vater ihr verboten hatte, in die „amerikanisch verseuchte“ Fürther Altstadt zu gehen.

„Ich bin gleich fertig, gedulde dich noch einen Augenblick. Übrigens: In der Ecke sitzt ein gutaussehender GI, der sogar Deutsch spricht.“ Annis prüfender Blick wurde mit einem selbstbewussten Lächeln und einem erhobenen Krug erwidert. Kuni hatte das Gefühl, dass Annis naturrote Haare auch bei ihm Gefallen gefunden hatten. Als der große Gutaussehende aufstehen wollte, drückte ihn sein Freund mit irritierender Entschiedenheit wieder auf den Stuhl.

„Stay seated!“, pfiff er ihn in militärischem Ton zurück. Sichtlich betreten stierte der so Angeschnauzte vor sich hin. „Sorry“. „Never mind“, flüsterte der andere kleinlaut. „Let’s have another beer“, schlug der Kleinere versöhnlich vor. Er gab Kuni ein Handzeichen mit zwei gestreckten Fingern.

Als sie die Krüge auf den Tisch stellte, spürte sie zwischen den beiden eine angespannte Atmosphäre. Schon nach wenigen Minuten verließen sie das Gasthaus. Der Kleine deutete beim Hinausgehen auf den Tisch mit den zurückgelassenen Dollarscheinen.

Seit ihrer Kindheit erlebte Anni einen psychisch labilen Vater, der zu unberechenbaren Wutanfällen neigte, vor allem, wenn man seine Verbote missachtete. Aber sie ließ sich nicht von seinem spürbaren Hass auf alles Amerikanische anstecken. Dennoch musste sie all ihre Bedenken und Skrupel überwinden, um Kuni wieder im Grünen Baum abzuholen. Sie spürte aber auch, dass das Lächeln des Unbekannten und der für sie zum Gruß erhobene Krug Eindruck auf sie gemacht hatte. Schon beim Betreten des Gastraums wurde sie von Kuni begrüßt. Als diese bemerkte, dass Anni den Raum sondierte, lächelte sie vielsagend und deutete mit dem Kopf in die hintere Richtung. Die beiden Freunde saßen am selben Tisch wie gestern und hatten ihr Kommen bemerkt.

An Anni gerichtet, rief der Gutaussehende mit den braunen Augen und den buschigen Augenbrauen laut genug, um das Gebrüll der anderen GIs zu übertönen: „Wollt ihr euch zu uns setzen?“ Kaum war die Einladung ausgesprochen, stand der andere abrupt auf und drängte an Anni vorbei zum Ausgang.

„Was hat er denn?“, fragte sie irritiert. „Robert ist anfangs immer etwas scheu. Das gibt sich aber mit der Zeit.“ Zögernd nahm Anni Platz auf dem frei gewordenen Stuhl. „Ich bin Mike“, stellte er sich vor, indem er sich kurz erhob. Anni gefiel diese Art alter Höflichkeit. Sie versuchte, auf Englisch zu antworten. „My name is Anni“. „Bleiben wir doch bei deiner Sprache. Pardon, ist Duzen o. k.?“, fragte er nach.

„Kein Problem. Woher hast du dein gutes Deutsch?“, wollte Anni wissen. „Meine Familie stammt aus Deutschland und wir sprachen zuhause häufig Deutsch.“

„Soll ich noch etwas bringen, bevor ich hier Schluss mache?“, mischte sich Kuni ein. „Nicht nötig, wir gehen ja gleich“, gab Anni kurz zurück. Sie hatte am Tonfall bemerkt, dass Kuni ihr die Plauderei mit Mike offenbar nicht gönnte oder wegen des anstehenden Kinobesuches drängte.

Leicht verlegen versuchte Mike, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. „Ich habe dich erst gestern hier gesehen. Aber du scheinst die Bedienung zu kennen.“ „Ja, Kuni ist meine beste Freundin.“ Sie schaute sich forschend nach Kuni um. „Wir kennen uns schon sehr lange.“ Bevor Mike weiter fragen konnte, erklärte sie: „Wir wohnten früher nur einen Steinwurf voneinander entfernt, also in der gleichen Straße.“

Kuni hatte bereits bei ihren Gästen abkassiert und signalisierte Anni, dass sie gleich gehen könnten. „Kommst du morgen wieder?“, beeilte sich Mike, bevor Anni aufstand und den Stuhl zurechtrückte. „Vielleicht“, kam über ihre Lippen, begleitet von einem schelmischen Blick, der ihm „wahrscheinlich“ signalisieren sollte.

Als Mike wie vorher seinen Anstand bewies und sich erhob, indem er beide Arme militärisch an den Körper anlegte, merkte sie, dass er einen ganzen Kopf größer war als sie. Sie schätzte ihn auf gut eins neunzig. „Worauf wartest du noch?“, forderte sie Kuni auf. Beim Hinausgehen drehte sich Anni noch einmal um. Mike freute sich sehr über diese kleine Geste, worüber er im gleichen Augenblick erschrak. Noch nie zuvor hatte ihn ein weibliches Wesen interessiert. Spontan fiel ihm der Vers ein, den er von seinem Großvater kannte: ‚Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust‘. Zwei Seelen, die auseinander drängten.

Am nächsten Tag ließ Anni auf sich warten. Als sie schließlich den stickigen Gastraum betrat, entdeckte sie Mike und seinen Freund gut gelaunt miteinander plaudernd. Mike hatte schon lange den Eingang im Auge behalten. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie erblickte. Noch bevor er entsprechende Worte fand, übernahm diesmal sein Freund die Einladung.

Mike schien ihm ihren Namen genannt zu haben, denn er sagte „Anni, would you be so nice to join us?“ Fragend blickte sie zu Mike. Er nickte einladend. „Gibt es etwas zu feiern?“, fragte sie, indem sie auf dem dritten Stuhl Platz nahm, den Mike bisher tapfer gegenüber anderen GIs verteidigt hatte.

Der Kleine erhob sich und stellte sich förmlich vor: „I’m Robert, Robert Brown. Oh yes, you’r right, there is something to be celebrated.“ Offensichtlich hatte Robert ihre Frage verstanden. „It’s Mike‘s birthday“.

„Willst du dich nicht setzen?“, ermunterte Mike sie, indem er den Stuhl in Position brachte. „Na dann – alles Gute!“, wusste sie nur zu sagen. Sofort orderte Mike ein drittes Bier. „Oder möchtest du etwas anderes?“, ergänzte er. Anni schüttelte nur den Kopf. Ihre roten Backen fielen ihm auf. Als er sie darauf ansprach, ließ sie wissen: „Ich musste heute länger arbeiten. Damit ich nicht allzu spät komme, habe ich mein Fahrrad genommen. Da komme ich immer ins Schwitzen.“ Mike konnte sein Lachen nicht unterdrücken. Da musste sie auch kichern und Robert fiel mit ein. „Noch ein Bier bitte!“ bestellte er auf Deutsch. Kuni war noch zu beschäftigt, um sich schon jetzt zu ihnen zu gesellen.

Die heitere Stimmung veranlasste Mike zu persönlicheren Fragen. Robert hörte angestrengt zu. Möglicherweise verstand er doch einiges, was die beiden erzählten. Schließlich wollte Mike wissen: „Wohnst du noch bei deinen Eltern?“ „Ja, was denkst du denn!“ „Und wo?“ Mike ignorierte den Fußtritt Roberts gegen sein Schienbein. „In der Moltkestraße in Nürnberg“, ergänzte sie in einer Körpersprache, als ob sie vorher nachdenken müsste.

Mike fand dies amüsant, weil er das Spielerische schon immer liebte. Er wurde sich kurz bewusst, wie sehr er Roberts Signal weiterhin missachtete. „Hast du einen langen Weg zur Arbeit?“ Bis zur Straßenbahn in der Fürther Straße laufe ich zehn Minuten. Sie bringt mich dann in weiteren knappen zehn Minuten zu meinem Arbeitsplatz in der Quelle-Hauptverwaltung.“

 

Bei dem Namen Quelle zog Mike seine Stirn spontan in Falten. Anni war deshalb etwas irritiert. Entschlossen griff sie nach dem Bier, um sich abzulenken. Mike verstand diese Geste. „Du musst wissen, der Versandhandel ist eine amerikanische Idee.“ „Ach so, das wusste ich nicht.“ Wieso konnte Mike ihre Firma Quelle als Versandhandel identifizieren? Aber diese Frage hob sie sich für später auf – ebenso wie die Frage, seit wann und woher Mike Robert kannte, dessen Miene sich zunehmend verfinsterte.

Nachdem Kuni abgerechnet und neue Bestellungen an Ursula, ihre Kollegin weitergegeben hatte, kam sie zu den Dreien. Robert zog einen Stuhl heran und sie setzte sich ihm gegenüber. Es entging ihr nicht, dass sein Blick nur auf Mike gerichtet war.

Nach wenigen Minuten forderte er Mike zum Gehen auf. „Come on, we are late!“ Mike zog seinen Ärmel zurück, um besser auf seine Uhr schauen zu können. „You’r right. But one moment please! Er holte Luft und trompetete: „Ich habe einen Geburtstagswunsch ...“, wobei er Kuni bittend ansah. Sie verstand ihn nicht. „Kannst du uns ausnahmsweise die ‚Schwedenstube‘ zeigen; mein Großvater schwärmte immer so von diesem Raum hier im Lokal.“ Die ungläubig verständnislosen Blicke der Drei ignorierte er, indem er seine Bitte nachdrücklich wiederholte: „Please, Bitte!“

Obwohl GIs wegen ihrer Rangeleien seit kurzem der Zutritt zum oberen Stockwerk verboten war, konnte Kuni eine Ausnahme ermöglichen. Sie besorgte den Schlüssel und zu viert erklommen sie die Treppe nach oben. Nach dem Öffnen der knarrenden Tür weitete sich vor ihnen der mächtige Saal, in dem angeblich Gustav Adolf speiste, bevor er 1632 in die Schlacht an der Alten Veste aufbrach. Die gut erhaltene riesige Holzdecke bewunderte besonders der schöngeistige Robert. „It’s really amazing!“, wiederholte er mehrfach mit schwärmendem Blick. Mike kannte den Raum von einem Foto seines Großvaters, doch die Realität übertraf seine Erwartung. Schweigend genoss er den beeindruckenden Anblick.

Der Lärm von der Straße erinnerte Robert an den Aufbruch. „It’s enough, thank you very much!“, raunte er noch knapp und rannte aber dann die Treppe hinab. Er wartete auf der anderen Straßenseite, von der er das Sandsteingebäude des „Grünen Baums“ betrachtete. Die beiden Flügel des geräumigen Tores standen einladend offen. Kommende und Gehende drängten zugleich hindurch. Schließlich erschienen die bekannten Gestalten. Anni sagte an Mike gewandt: „Weil heute dein Geburtstag ist, begleiten wir euch ein Stück. Bis zum Rathaus haben wir denselben Weg.“ – „Kommt ihr nicht mit bis zu unseren Barracks – oder Barracken?“, witzelte Mike.

Anni bemerkte, dass Robert ihn kurz mit dem Ellenbogen anstieß. „Ihr glaubt ja wohl nicht im Ernst, dass wir euch zuliebe einen solchen Umweg über die Südstadt machen!“ In dieser Antwort lag Kunis ganze Enttäuschung über die Tatsache, dass Robert – der zwar nicht so männlich aussah wie Mike, aber viel mehr ihr Typ war – sie in auffallender Weise ignorierte.

Als Anni die Wohnungstür aufsperrte, hörte sie ihren Vater aufgeregt und ungewöhnlich laut mit ihrem Bruder diskutieren. „Was regt euch denn so auf?“ Am Blick ihres Vaters erkannte sie, dass ein Wutanfall zu befürchten war. „Wo kommst du jetzt her?!“, brüllte er sie an. Noch bevor sie antworten konnte, zischte er: „Herbert hat dich gestern mit zwei Amis in der Fürther Altstadt gesehen. Bist du verrückt geworden? Habe ich dir nicht verboten, mit Amis zu verkehren?“ Zitternd stand sie vor ihm. „Du wirst die Typen doch nicht etwa im Rotlichtviertel der Gustavstraße aufgegabelt haben?“ Anni war zu verschüchtert, um eine erklärende Antwort zu geben. Zwar hatte ihr Vater ihr nur als Kleinkind den Hintern versohlt, aber sie traute ihm nun zu, dass er die Kontrolle verlor und zuschlug. „Meine Tochter trifft sich mit Amis! Ich glaub es nicht!“ Anni warf ihrem Bruder einen bösen Blick zu. „Diesen Verrat werde ich ihm nicht verzeihen“, dachte sie. „Es ist doch bekannt, dass besonders die Gustavstraße ein Sündenpfuhl von Kuppelei, Gewerbsunzucht und Schwarzhandel ist. Und was machst du?“ Er näherte sich drohend, die Fäuste geballt.

„Woher willst du denn wissen, wie es dort zugeht?“, protestierte Anni kleinlaut. Er deutete auf den Küchentisch, auf dem die Fürther Nachrichten lagen. Als gebürtiger Fürther bezog ihr Vater seit je dieses Blatt. Er drehte sich um und begann in der Zeitung zu blättern. „Hör dir an, was der Polizeidirektor über die Amis schreibt:“

„Fürth ist vorwiegend eine Arbeiter- und Industriestadt. Lediglich die Hauptverkehrsstraßen bekommen allmählich einen großstädtischen Charakter. Gerade diese Straßen sind aber noch völlig frei von irgendwelchem unsittlichen Treiben geblieben. Die Altstadt ist dagegen das Vergnügungsviertel für die amerikanischen Soldaten. Die engen, winkligen Gassen und der im Allgemeinen schlechte bauliche Zustand sind ein Nährboden für unsittliche Zustände.“ Vorwurfsvoll blickte er sie an.

„Aber von der Gustavstraße ist doch gar nicht die Rede“, wagte sie einzuwenden. Inzwischen hatte sie etwas Mut gefasst. „Du kennst doch noch die Kuni. Vor einer Woche haben wir uns zufällig getroffen. Sie arbeitet seit kurzem im „Grünen Baum“. Zwar hat sie mir von einigen Schlägereien in der Gustavstraße erzählt, aber nichts von unsittlichen Zuständen. Ich hab sie nur abgeholt, weil wir gemeinsam ins Kino gehen wollten. Da haben uns zwei GIs bis zur Königstraße begleitet. Außerdem ist Mike deutschstämmig und sehr schüchtern.“ Sie biss sich auf die Lippen, als ihr dies entfuhr.

„Aha, du kennst sogar schon seinen Namen!“ „Das hat nichts zu bedeuten; der andere hat ihn so genannt.“ Dass sie Mike wieder getroffen hatte, verschwieg sie verständlicherweise. Die Wut ihres Vaters ebbte ab. Im Drohton verkündete er: „Damit du es dir hinter die Ohren schreiben kannst: Ich verbiete dir ein für alle Mal den Umgang mit den Amis in der Kneipe oder sonst wo – und glaub bloß nicht, dass ich das in Zukunft nicht bemerken würde!“ Sie wusste, dass er sich nicht mehr mit Ausreden besänftigen lassen würde. Derartige emotionale Ausbrüche ihres Vaters waren für Anni schrecklich, aber leider keine Seltenheit. „Das hat mit seiner Vergangenheit im Krieg zu tun“, hatte ihre Mutter auf Nachfrage „Warum Vater oft so wütend wird“, knapp geantwortet. Die ganze Wahrheit war: Am 25. Februar 1944 hatte er bei einem Luftangriff amerikanischer Bomber auf die damals kriegswichtigen „Bayerischen Waggon- und Flugzeugwerke“ sein linkes Bein verloren und litt heute noch unter ständigen Schmerzen und den täglichen Einschränkungen.

Die Werksanlagen auf der Fürther Hardhöhe zählten zu den bevorzugten Angriffszielen, die von amerikanischen Flugzeugen bombardiert wurden. Zwei seiner Brüder gehörten zu den 139 Todesopfern dieses Angriffs. Seit diesem Tag waren „die Amerikaner“ für ihn „Mörder und keine Befreier“. Er trichterte seinen Kindern ein: „Die Amerikaner behaupten, uns Deutsche 1945 vom Nationalsozialismus befreit zu haben. Das ist eine grobe Geschichtsfälschung. Die NSDAP war als stärkste Partei demokratisch an die Macht gekommen und Hitler war ihr Führer. Er hat die Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre beseitigt, die Autobahnen gebaut und Deutschland in der Welt wieder Respekt verschafft. Das mit den Juden war ein großer Fehler.“ Während Annis Bruder das alles richtig fand, war sie mit ihrer Mutter der Meinung, nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 die gesamte „Nazizeit“ für erledigt erklären zu können.

Das war auch der Frontverlauf im verbalen Krieg der Familie über die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Gründung der Bundeswehr: Hier die pazifistischen Frauen, dort die militaristischen Männer. „Mein Namensvetter Konrad Adenauer verhandelt mit Truman und beugt sich amerikanischen Bedürfnissen, anstatt deutsche Interessen zu vertreten“, ließ Konrad Förster wissen. „Wenn uns keine Wehrmacht mehr schützt, müssen wir uns eben selbst verteidigen.“ Dass ihr Vater einen Revolver besaß, hatte Anni zufällig entdeckt, als sie im Kleiderschrank ihrer Eltern nach einem Faschingskostüm schnüffelte. Diese Entdeckung verheimlichte sie aber.

5. Max Morlock – ein „Mordsfußballer“

Ein Sonderzug brachte die 1954er Überraschungsweltmeister von Bern nach München. Entlang der Bahnstrecke warteten Hunderttausende, um den Spielern zuzujubeln. Beim Autokorso in München und bei der Feier auf dem Marienplatz waren es am 6. Juli geschätzt 300.000 Fußballbegeisterte. Um Max Morlock aus der Hauptstadt des Landes in die Hochburg des Fußballs bringen zu lassen, hatte der „Club“ am 7. Juli nicht irgendein Fahrzeug geschickt, sondern eine amerikanische Limousine. Einer Ehrenrunde im Städtischen Stadion vor dreißigtausend Jugendlichen, die dort zum jährlichen Schulsportfest zusammengekommen waren, folgte eine Triumphfahrt durch die Stadt. Der Jubel kannte keine Grenzen. Im heimischen Sportpark „Zabo“ gab „Gerch“ Georg Meier das Signal, seinen Nachbarn von gegenüber als den Schützen des „dritten Tores“ auf die Schultern zu nehmen und ihn „dreimal hochleben“ zu lassen: „Max Morlock lebe hoch! – Hoch! – Hoch!“ Dies wurde mehrfach wiederholt.

Ein Sportreporter des Bayerischen Rundfunks hatte die Szene beobachtet. Er ging auf Georg Meier zu und sagte leicht schnippisch: „Für das dritte Tor hätten Sie Helmut Rahn hochleben lassen müssen!“ „Das war das dritte deutsche Tor, aber nicht das dritte Tor des Spiels.“ Die Antwort gefiel dem Reporter so, dass er Georg nach seinem Verhältnis zu Morlock befragte. Nach wenigen Sätzen über die Entwicklung einer Freundschaft zwischen zwei Männern des Jahrgangs 1925 hatte er den Eindruck, diese Freundschaftsgeschichte für das Portrait eines ganz aktuellen Fußballidols nutzen zu können. Deshalb bat er darum, die Geschichte aufzeichnen zu dürfen. „Band läuft. – Legen Sie los!“

„Nach unserer Hochzeit im Jahr 1953 sind meine Frau und ich in ein Mietshaus in der Pillenreuther Straße eingezogen. Max Morlocks Lottoladen liegt direkt gegenüber. Da ich sein fußballerisches Talent seit Jahren mit Begeisterung beobachtet hatte, wollte ich ihn noch am Tag unseres Einzugs persönlich kennenlernen. Das ist mir dann beim Einkauf einer Schachtel Zigaretten der Marke Lucky Strike auch gelungen. Ich versuche, unser erstes Gespräch möglichst so wiederzugeben, wie es damals vor etwa einem Jahr tatsächlich stattgefunden hat:“

„Nachdem ich meine Zigaretten bezahlt hatte, bat ich ihn um ein Autogramm. Er war darüber sehr verwundert und fragte, ob ich wohl Club-Anhänger sei. Mehr als das, gab ich zur Antwort: Ich bin vor allem fasziniert von Ihrer Art, Fußball zu spielen. Sie tragen als halbrechter Stürmer auf dem weinroten Trikot die Nummer 8 beim Club. Schon 1948 haben Sie mit einem 2:1 gegen Kaiserslautern die Deutsche Meisterschaft gewonnen. Auch Fritz Walter, der Kapitän der Lauterer, nannte ihre Spielweise schon damals ‚überragend‘: Sowohl im Sturm wie auch in der Abwehr seien Sie immer dort aufgetaucht, wo man Sie nicht erwartete. Und so manche Situation hätten Sie nach Art eines Verteidigers geklärt.“

Morlock war – wie die meisten Franken – kein Mann großer Worte und langer Reden. „Ich denk, der Fritz hat mich bloß so g‘lobt, um die Niederlage seiner Mannschaft zu erklären.“

„Seit 1950 sind Sie Mitglied der Deutschen Nationalmannschaft und ich wette, nächstes Jahr werden Sie mit ihr Weltmeister!“ „Das wenn wir wüssten! Dann müssten wir uns im Training nicht mehr so quälen.“

„Ich habe meine Zigaretten ausschließlich in Morlocks Laden gekauft, um ihn so oft wie möglich zu treffen. Selbstverständlich habe ich jedes Clubspiel in der Oberliga Süd im Sportpark Zabo besucht und kein Bundesligaspiel im Städtischen Stadion versäumt. Die Spiele des letzten Wochenendes wurden in unserer Stammkneipe regelmäßig an den darauf folgenden Montagen beim abendlichen Schafkopf-Spiel unter uns Fußballbegeisterten ‚in ihre Einzelteile zerlegt‘. Max war auch beim Karteln ein fairer Sportsmann. Er konnte verlieren, ohne zu lamentieren. Und einem gut gespielten Solo konnte er applaudieren, ohne neidisch zu sein.“

„Aber eigentlich war ihm jede Art von Selbstinszenierung fremd. Das beste Beispiel dafür ist eine Episode aus dem letzten Jahr: Vor dem Länderspiel gegen Österreich wurden die Spieler dem Bundespräsidenten Theodor Heuss vorgestellt. Weil Morlock der letzte in der Reihe war, vermutete Heuss, der vorher noch kein Fußballspiel gesehen hatte: ‚Und Sie sind sicher der Torwart?!‘. Um dem ersten Mann im Staate eine peinliche Situation zu ersparen, antwortete er: ‚Ja, Herr Bundespräsident, ich bin der Torwart‘.“

Der Sportreporter war offensichtlich zufrieden: „Danke. Das ist ein guter Schluss für das geplante Portrait in meinem Sender.“ Schorsch Meier beeilte sich darum zu bitten: „Geben Sie mir Bescheid, wann es ausgestrahlt wird. Ich würde es gern gemeinsam mit meinem Freund Max anhören.“ Wegen angeblicher Arbeitsüberlastung des Reporters wurde das Portrait aber weder fertiggestellt noch gesendet. So enttäuscht Georg darüber war, so froh war er, Max zuvor nichts davon erzählt zu haben.

 

Die Stadt Nürnberg ehrte ihren Meisterspieler durch einen Eintrag in das Goldene Buch. Nach der offiziellen Siegesfeier, die sich bis in den Abend erstreckte, kam Max zuhause endlich dazu, seinen Schwiegervater nach dem Gang der Geschäfte in der Lotto- und Toto-Annahme zu fragen: „Wie waren denn die Umsätze der letzten drei Tage?“ „Ja, wir hatten deutlich mehr Kundschaft und insgesamt eine Umsatzsteigerung von dreißig Prozent!“ „Gab es sonst noch etwas Besonderes?“ Weil Hans seinen Schwiegersohn zu nachtschlafender Zeit nicht beunruhigen wollte, sagte er nur kurz, aber bestimmt: „Das hat Zeit bis morgen ...“

„Schluss mit der Feierei! Wir kehren wieder zu einem normalen Tagesablauf zurück“. Mit diesem Satz gab Max seinem Schwiegervater kurz vor Ladenöffnung am Donnerstag, 8. Juli, dann das Zeichen für den Bericht über das Geschehen vom vergangenen Sonntag: den von Elisabeth Meier gehörten Schuss, die Blutspur vor dem Laden (die der Regen inzwischen weggewaschen hatte), das liegengebliebene Damenfahrrad, und natürlich, die offene Seitentür des Hauses sowie die Unordnung im Hinterzimmer. Von Ereignis zu Ereignis verfinsterte sich das Gesicht des Weltmeisters. „Was ist mit der Kasse?“, unterbrach er den Bericht. „Nein, es fehlt nichts.“ „Das ist komisch. Hast du eine Erklärung?“ Hans schüttelte nur den Kopf.

„War die Polizei da?“, wollte Max wissen. „Ja, am Sonntag mit zwei Uniformierten im Polizeifahrzeug.“ – „Hoffentlich nicht mit Sirene und Blaulicht!“ „Nein. Aber ein gewisses Aufsehen in der Nachbarschaft war schon bemerkbar. Dagegen fiel der Herr von der Kripo, der am Dienstag eine Probe der Blutspur und das Damenfahrrad mitnahm, niemandem auf.“ „Glaubst du, dass unser Laden dadurch in ein schiefes Licht gerät?“ „Nicht, solange du, Max, die Seele des Geschäfts bist. Und das blieb Max Morlock, der grundsätzlich jeden Tag da war, über fast vier Jahrzehnte. Seine jüngere Tochter nannte seinen Laden – einen der ersten in Nürnberg mit Lottolizenz – „sein Hobby“. Und er selbst sagte, er sei „der glücklichste Mensch, wenn er früh aufstehen und ins Geschäft gehen“ konnte.

„Die Unordnung im Hinterzimmer beunruhigt mich. Lass uns noch einmal nachsehen, ob nicht doch etwas fehlt.“ „Ich hab‘ doch schon alles überprüft!“, warf Hans ein: „Es fehlt nichts!“ Hans verstand nicht, dass Max trotzdem die Ordner in einem offenen Wandregal etwas zur Seite schob und dann erschrocken feststellte: „O je! Es fehlt das Kuvert mit der Aufschrift ‚Deutsch-Amerikanische Freundschaft‘. Ich habe es für einen deutschstämmigen Amerikaner aufbewahrt, den ich beim Besuch des Clubs in New York im letzten Jahr kennengelernt hatte.“ „Was war denn drin in dem Kuvert?“ „Ich weiß es ja nicht. Es war verschlossen und Mike Frank – das war sein Name – hat mich um Verschwiegenheit gebeten.“ „Na, da war er bei dir ja gleich an der richtigen Adresse! Der muss Menschenkenntnis gehabt haben.“

„Ich hoffe, du hilfst mit dabei! Wenn wir beide verschwiegen bleiben, darf das Verschwinden des Kuverts niemandem verraten werden!“ Reichlich konsterniert brummte Hans: „Einverstanden.“

Heftig irritiert durch die Entwendung eines offenbar wichtigen Dokuments für diesen ihnen sonst fremden Mike Frank schaute Max sich weiter im Laden um. „Wo sind meine Fußballschuhe, die hier in der Glasvitrine standen?“ „Tatsächlich: Die ersten Stollenschuhe, die Adi Dassler dir geschenkt hat, fehlen! Warum ist mir das selbst nicht aufgefallen?“ Der ideelle Wert dieses besonderen Geschenks bestand für Max in der Erinnerung daran, dass er in jener Zeit jeden neu entwickelten Adidas-Fußballschuh im Spiel persönlich testen durfte.

Strafanzeige wegen Diebstahls zu erstatten, wurde nach kurzer Diskussion verworfen: Durch das Auftauchen der Polizei am Endspielsonntag waren schon genug Gerüchte entstanden, die nicht um weitere Phantasiegeschichten fortgeschrieben werden sollten.

„Der Meisterspieler von Nürnberg“ – so der damalige Titel des geplanten Rundfunkportraits – beendete seine große fußballerische Karriere am 12. Mai 1964 exakt mit seinem 900. Spiel für den Club. Dieses Ereignis erinnerte den Rundfunkreporter an das damalige Interview mit Georg Meier. Sozusagen nach einer Sendepause von zehn Jahren bot es ihm Gelegenheit, die damalige Erzählung aufzugreifen und mit einer aktuellen Würdigung Morlocks zu verbinden. Georg Meier nahm die Einladung ins Funkhaus am Rundfunkplatz in München gern an.

„1961 gewann der Club das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft mit 3:0 gegen Dortmund. Ich war in Hannover als Zuschauer dabei. Morlock war damals mit 36 Jahren doppelt so alt wie der jüngste Clubspieler. Für die in den Medien so genannten ‚Jungen Wilden‘ war er ein Idol im besten Sinne des Wortes: ein bewundernswertes Vorbild in Leistung und Charakter. Bescheiden und bodenständig, trug er ein Vierteljahrhundert kein anderes Trikot als das des 1. FC Nürnberg.“

„Sein Mitspieler Heiner Müller formulierte die Pointe so: ‚In Max Morlock hatten wir einen Kapitän, vor dem du am liebsten sogar während des Spiels den Hut gezogen hättest.‘ Er war Torjäger mit einem Instinkt für erfolgreiche Abschlüsse mit dem Fuß – wie im Endspiel in Bern mit der Stiefelspitze – und einer Sprungkraft, die seine zahlreichen Kopfballtore erklärt. Als Spielmacher und Ballschlepper kurbelte er Spiele immer wieder an. Der damalige Bundestrainer Sepp Herberger hob hervor, ‚in kritischen Situationen‘ sei Morlock immer ‚sein Mann‘ gewesen, auf den er sich ‚stets verlassen‘ konnte. ‚Er war ein Spieler, der alle mitgerissen hat‘.“

„Auf das ‚Wunder von Bern‘ angesprochen, hat er die ‚Wunder‘-These zurückgewiesen: ‚Wir waren in der Schweiz dreieinhalb Wochen zusammen, hatten keine Ablenkung und spielten nur Fußball. Wir trainierten täglich mit dem Ziel einer auf die Spitze getriebenen Kondition aller 22 Spieler, wir lebten bis aufs Kleinste nach Vorschrift und bildeten einen unzerreißbaren Kameradenkreis, der wohl seinesgleichen suchte.‘“

„Auch das Anschlusstor, das er auf Rahns Flanke erzielte, beschrieb Max bodenständig: ‚Auf dem nassen Boden bekam der Ball eine Mordsfahrt. Mit einem energischen Satz ließ ich mich in die Vorlage hineinrutschen, Grosics schaute entgeistert, und an ihm vorbei rollte der Ball ins Netz.‘ Was er hier zur ‚Fahrt‘ des Balles in einer typisch fränkischen Ausdrucksweise sagt – ‚Mordsfahrt‘ –, möchte ich zu ihm als Fußballer sagen: Max Morlock war ein ‚Mordsfußballer.‘“

Sehr zur Enttäuschung Georg Meiers wurde auch das zweite Interview nicht gesendet. Er hatte auf eine Sendung des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel „Max Morlock als Mordsfußballer“ gehofft. Mehrere Nachfragen im Funkhaus in München blieben jedoch erfolglos und ergaben keine Erklärung, die ihm plausibel erschien. Als bitterer Nachgeschmack blieb deshalb der Eindruck, dass München und Nürnberg in einem ähnlichen Verhältnis zueinander stehen wie Nürnberg und Fürth – der große Bruder hält den kleinen am liebsten weiterhin klein.

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