MORLOCK

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Morlock - Mordgeschichte um einen Mordsfußballer

1. Auflage, erschienen 6-2021

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Rolf Gröschner und Wolfgang Mölkner

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-804-3

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Morlock

Mordgeschichte um einen Mordsfußballer

von Rolf Gröschner und Wolfgang Mölkner

Inhaltsverzeichnis

Die Autoren

1. Der 4. Juli 1954

2. Blutspur vor Morlocks Lottoladen

3. Erpressung zweier Zeugen

4. Treffpunkt „Grüner Baum“ in Fürth

5. Max Morlock – ein „Mordsfußballer“

6. Mike und Robert in New York

7. Frankenderby

8. Anni, Mike und Robert

9. Anni und die Quelle

10. Familie Frank

11. Fremdenführung in Nürnbergs Altstadt

12. Geheime Dienste

13. Vergebliches Warten

14. Linie 21

15. Stollenschuhe

16. Pressearbeit

17. Mord ohne Leiche?

18. Fund auf der Fürther Hardhöhe

19. Morlocks Anstoß

20. Das Urteil des Schwurgerichts

Die Autoren

Rolf Gröschner, promovierter und habilitierter Jurist, war von 1993 bis zur Emeritierung 2013 Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Jena.

Wolfgang Mölkner, promovierter Philosoph, war von 1977 bis zur Pensionierung 2013 Gymnasiallehrer für Deutsch, Religion und Philosophie.

1. Der 4. Juli 1954

„Aus! – Aus! – Aus! – Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“

Es war Max Morlock, der die deutsche Mannschaft durch sein Tor zum 1:2 auf den Weg zur Weltmeisterschaft gebracht hatte – mit der Stiefelspitze, im Spagat und „mit allerletzter Kraft“, wie Herbert Zimmermann das „Anschlusstor“ in der Rundfunk- und Fernsehübertragung aus Bern kommentierte.

Das vierfache „Aus“ nach dem Schlusspfiff übertraf in seiner legendär gewordenen Leidenschaft sogar den vierfachen Torschrei nach dem 3:2 durch Helmut Rahn („Tooor! – Tooor! – Tooor! – Tooor!“). Freudentänze in ganz Fußballdeutschland waren die Folge und knallende Sektkorken keine Seltenheit.

Auch in der Pillenreuther Straße in Nürnberg wurde an diesem denkwürdigen Sonntag des 4. Juli 1954 gefeiert und eine Flasche „Rüttgers Club“ aus dem Kühlschrank geholt. Georg Meier und seine Frau Elisabeth nannten es einen „feinen Durst“, um sich zu besonderen Gelegenheiten ein Glas Sekt gönnen zu dürfen. „A Mordsfußballer isser scho, der Max. Lou mer also den Korgn gnalln!“

„Georg, du weißt, wie unschön ich diesen Nürnberger Dialekt finde. Du fällst immer dann in ihn zurück, wenn dich etwas aufregt oder begeistert. Das schreckliche „lou“ statt „lassen“ habe ich zum Glück schon lang nicht mehr gehört.“ Elisabeth stammte aus Hannover und behauptete, dort werde das reinste Hochdeutsch gesprochen. Georg war geborener und bekennender Nürnberger und als solcher „fei wergli“ stolz darauf, mit Max Morlock befreundet zu sein.

Was sein Nürnbergerisch betraf, hatte er seiner Frau versprochen, sich um Besserung zu bemühen – was ihm im Alltag durchaus gelang.

„Dann lou ich jetzt das Nürnbergern, lasse nicht den ‚Korgn“, sondern den ‚Korken‘ knallen und stoße nicht mit der fränkischen ‚Betti‘ an, sondern mit der hochdeutschen ‚Elisabeth‘ – auf unseren Nürnberger Meisterspieler, ohne den wir das Endspiel nicht gewonnen hätten.“ Während sie nur nippte, leerte er das Glas mit vier kräftigen Schlucken. Dann rief er „Alles Walzer“, nahm sie in Tanzhaltung in den Arm und legte in seinem Lieblingstakt einen für ihn weltmeisterlichen Tanz durch das Wohnzimmer hin.

„Rechts herum bist du wirklich ein guter Walzertänzer. Wir sollten für die nächste Stunde die Linksdrehung üben.“ Sie hatten einen Tanzkurs für Ehepaare gebucht, weil Georg – wie Elisabeth als talentierte Tänzerin festgestellt hatte – zwar über ein gutes Rhythmusgefühl verfügte, an seiner Tanzhaltung jedoch arbeiten musste. Er schenkte sich ein zweites Glas aus dem Hause Henkell ein. „Bitte keinen Sturztrunk“, mahnte sie, nahm selbst aber immerhin einen ganzen Schluck.

Sie spürte die Zuneigung, die im Blick ihres Mannes lag und erwiderte sie mit einem Lächeln, auf dessen Wirkung sie sich verlassen konnte. Die Gelegenheit war günstig, ein Anliegen vorzubringen, das ihrer Sensibilität für Sprache entsprang: „Weil du in Feststimmung bist, erlaube ich mir eine Bitte: Sag deinem Freund Max, er solle dich doch bitte nicht mehr „Gerch“ nennen. Das klingt für mich zu provinziell. Und ein Weltmeister sollte als Weltmann nicht die Namen der Provinz verwenden.“

Obwohl er sich darüber ärgerte, widerstand Georg der Versuchung, mit der „Provinz Hannover“ zu kontern. Stattdessen ging er auf die vorgeschlagene Tanzstundenübung ein: „Also alles Walzer links herum. Vorher darf ich aber erst einmal um die Ecke.“ Sie nickte und war erleichtert, nicht wie am Anfang ihrer Beziehung vor zwei Jahren hören zu müssen „lou mi amol um die Eggn“.

Auf der Toilette hörte er sie aufgeregt nach ihm rufen. Aus dem anschließenden Wortgewirr verstand er aber nur „Schluss“. Er nahm deshalb an, sich mit dem Händewaschen beeilen zu sollen. Zurück im Wohnzimmer, sah er sie am Fenster hantieren. Es war wegen der sommerlichen Temperatur gekippt, ließ sich deshalb nicht umstandslos öffnen, sondern musste erst geschlossen werden. „Ist dir zu warm?“

„Nein, ich habe einen Schuss gehört und will sehen, was draußen los ist.“ „Ich habe ‚Schluss‘ verstanden. Und ein Schuss entspringt deiner blühenden Phantasie, weil du in letzter Zeit zu viele Krimis gelesen hast.“ Lass uns die verabredete Linksdrehung üben. „Eins–zwei–drei, eins–zwei–drei …“

Weil sie keine Spielverderberin sein und ihrem Georg die Stimmung nicht verderben wollte, tanzte sie eine Weile mit, bis sie mit Bestimmtheit sagte: „Das reicht jetzt. Ich will wissen, was da draußen los war.“

Sie rannte zum Fenster, riss es hastig auf und streckte ihren Wuschelkopf weit nach draußen.

„Und? Gibt’s etwas zu sehen, das deine Phantasie bestätigt?“ „Nichts, nur ein Fahrrad liegt vor dem Laden von Max. Sonst ist die Straße wie leergefegt.“

„Natürlich. Alle hocken vor dem Radio, die Bonzen vor dem Fernseher. Du wirst die Fehlzündung eines Motorrads gehört haben.“

„Da ist kein Motorrad! Aber schau, dort im Celtis-Tunnel – sie deutete Richtung Bahnhof – verschwindet gerade ein amerikanischer Straßenkreuzer mit seinen langen Heckflossen.“

Georg war nicht schnell genug, um die Beobachtung bestätigen zu können. In der Tunnelröhre unter den Gleisen des Hauptbahnhofs war kein Fahrzeug zu sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er daran, auch Elisabeths Straßenkreuzer für ein Produkt ihrer Phantasie zu halten.

Weil sie dieses Zweifeln spürte, bekam Georg zu hören: „Du glaubst immer nur, was du selbst gehört und gesehen hast. In einer guten Ehe sollte man sich aber auch darauf verlassen, dass der Partner seine Sinne beisammenhat. Ich habe einen Schuss gehört und einen Amischlitten gesehen. Basta!“

 

Georg musste sich eingestehen, seiner Frau – mit der er erst ein Jahr verheiratet war – tatsächlich nicht geglaubt zu haben, jedenfalls was den Schuss betraf. Spontan wurde ihm der Grund dafür klar: ihre ausgeprägte Neugier, die sie von der Leidenschaft für Kriminalromane auf das Alltagsleben als Hausfrau übertrug.

„Ich geh jetzt rüber zu den Reibers. Vielleicht hat Gundi auch was gehört!“

Draußen waren die ersten Freudengesänge zu hören: „Morlock, Mor-lock, –Deutsch-land, Deutsch-land!“

„Mach dich bitte nicht lächerlich! Wer soll denn da geschossen haben!?“ Aber Elisabeth ließ sich nicht abhalten. Durch die offene Tür bekam Georg mit, wie sie bei den Nachbarn klingelte. Gundi öffnete mit Elan, ein halbvolles Sektglas in der Hand. Bevor sie etwas sagen konnte, platzte Elisabeth heraus: „Hast du auch einen Schuss gehört?“

„Einen Schuss? Möglich wäre es schon. Laut geknallt hat es jedenfalls.“ Mit dieser Feststellung war Elisabeth zufrieden. Sie ließ die verdutzte Gundi stehen und verschwand wieder in ihrer Wohnung.

„Georg, die Reibers haben auch einen Knall gehört. Da stimmt etwas nicht! Gehen wir doch mal runter!“

„Wozu? Wir sind in Nürnberg und nicht in Chicago. Gott sei Dank! Bei uns wird nicht jeden Tag ein Mensch auf offener Straße erschossen.“

Weil er die Neugier seiner Frau für chronisch hielt, war ihm klar, dass sein Chicago-Vergleich ohne Wirkung bleiben würde. Seine Jubellaune war jedenfalls völlig verflogen.

„Jetzt komm schon!“ Sie packte ihn resolut am Ärmel und zog ihn hinter sich her.

2. Blutspur vor Morlocks Lottoladen

Direkt gegenüber der Wohnung des Ehepaars Meier lag Max Morlocks Lotto- und Toto-Laden. Am Sonntag war der Laden selbstverständlich geschlossen. Um sicherzugehen, dass sich niemand darin aufhielt – der den Straßenkreuzer gesehen und den Schuss gehört haben könnte – klopfte Elisabeth an die gläserne Eingangstür. Erwartungsgemäß blieb eine Reaktion aus. Sie hob das Fahrrad auf und lehnte es ans Haus.

„Da ist doch etwas nicht in Ordnung! Und du stehst nur herum und suchst nicht nach verdächtigen Spuren! Die Schüsse könnten dem Radfahrer gegolten haben …“

„… der sich vor Schreck in Luft aufgelöst hat?“ Inzwischen suchte sie den Gehsteig vor dem Laden nach irgendeinem brauchbaren Hinweis ab. Ein paar tropfenförmige Kleckse, die in der untergehenden Sonne rötlich schimmerten, schienen ihr zunächst uninteressant. Bei genauerem Hinsehen traute sie jedoch ihren Augen nicht: „Georg, schau dir das mal an!“

„Allmächd: Des siecht nach Blut aus!“ „Tatsächlich, eine Blutspur! Und offensichtlich noch ganz frisch!“ „Nicht berühren! Ich rufe die Polizei und du hältst hier Wache!“, befahl sie in energischem Ton und verschwand in Windeseile im Hauseingang. Er ärgerte sich, dass sie immer das Kommando übernahm und er sich wie ein Trottel vorkommen musste. „Doldi“, sagte er zu sich selbst. Dabei sah er sich hilflos um, ob ihn jemand in dieser Lage sah.

Seine Pillenreuther Straße, in der er seit seiner Hochzeit vor etwa einem Jahr wohnte, war ihm noch nie so unattraktiv vorgekommen wie in diesem Moment. Jetzt verstand er, warum Elisabeth partout nicht hier einziehen wollte. Nur weil sie keine andere Wohnung fanden, war sie mit dieser „Notlösung“ einverstanden. Beim Wiederaufbau der stark zerstörten Südstadt – MAN und der Rangierbahnhof waren bevorzugte Angriffsziele der amerikanischen und britischen Bomber gewesen – ging es schlicht und einfach um die Beschaffung bezahlbaren Wohnraums für die Bevölkerung im „Arbeiterbezirk“ südlich des Hauptbahnhofs und nicht um einen städtebaulichen Schönheitswettbewerb.

Als Straßenbahnschaffner hatte Georg bisher kein Problem damit gehabt, hier zu wohnen. Die Leute sprachen wie er – „Nürnbergerisch halt“ – und nannten ihn „Gerch“. Aber seiner Elisabeth zuliebe würde er wohl nicht nur den Max bitten, auf „Georg“ umzustellen, sondern alle, mit denen er sich duzte. Überhaupt war er sehr bemüht, den Herkunfts- und Bildungsunterschied zwischen seiner Frau und ihm – er stammte aus einer Arbeiterfamilie und hatte kein Abitur – so wenig wie möglich spüren zu lassen.

Aus der Seitenstraße war das Deutschlandlied zu hören. Vier Männer mit Bierflaschen in der Hand bogen grölend um die Ecke und wollten mit ihm „auf den Weltmeister“ anstoßen. Georg drehte ihnen spontan den Rücken zu und stellte sich mit gespreizten Beinen über die Blutspur. Einen Schubser musste er ertragen.

„So ein komischer Fußballmuffel! Wir sind wieder wer!“ Nach Hochrufen auf Morlock stimmten sie erneut ihre Hymne an.

Hier noch länger ’rumzustehen, wurde ihm zunehmend peinlich. Ärger über die scheinbare Hysterie seiner Frau stieg in ihm auf. Leicht neidisch schaute er hinter den Feiernden her. Sein Blick fiel auf das Fahrrad. „So können wir es nicht stehen lassen.“ Er griff Lenker und Sattel und schob es um die Ecke in die Wendlerstraße. Der seitliche Hauseingang gehörte noch zu Morlocks Geschäft. Inzwischen war Elisabeth zurück. „Du hast gar nicht bemerkt, dass die Polizei schon in Sicht ist!“ Georg fühlte sich von der angezettelten Sache überrumpelt. Mit einem so raschen Erscheinen der Polizei hatte er nicht gerechnet.

Aus dem grünen Volkswagen-Käfer mit der weißen Aufschrift „POLIZEI“ auf der Vorderhaube und dem übergroßen Blaulicht auf dem Dach stiegen zwei Männer in der blauen Uniform der Nürnberger Polizei.

Elisabeth Meier nahm das Heft des Handelns in die Hand: „Ich habe Sie gerufen, weil ich einen Schuss gehört und eine Blutspur gefunden habe.“ Die Beamten warteten darauf, dass Georg Stellung bezog. Der aber blickte verlegen auf den Boden.

„Wo soll denn das Blut sein?“ Elisabeth deutete auf die roten Tropfen. Da es inzwischen zu dämmern begonnen hatte, holte der größere Polizist eine Taschenlampe aus dem Wagen, um die Spur zu beleuchten.

„Das sieht nicht nach dem Blut eines Menschen aus. Es dürfte Katzenblut sein –und für den Tierschutz sind wir nicht zuständig.“ Der andere, kleinere Polizist nickte nur. Doch dann sah er die Gelegenheit gekommen, den Fall loszuwerden, ohne ein lästiges Protokoll schreiben zu müssen: „Selbst wenn auf die Katze geschossen wurde, sind wir als Stadtpolizei dafür nicht zuständig, sondern unsere bayerischen Kollegen.“

„Das kann doch nicht wahr sein! Georg, das lassen wir uns nicht gefallen!“ „Was wollen wir denn unternehmen, wenn es sich so verhält, wie die Herren sagen?“ „Das Fahrrad wird nicht von einer Katze gefahren worden sein“, zischte sie ihrem Mann – ihm zugewandt – zu.

Der kleinere Polizist fühlte sich durch diese Bemerkung auf den Arm genommen: „Sie sollten sich genau überlegen, was Sie sagen. Wenn Sie uns unterstellen, Rad fahrende Katzen für möglich zu halten, erfüllt das den Tatbestand der Beamtenbeleidigung.“ „Lass es gut sein, Elisabeth“, versuchte Georg seine vorwitzige Frau zu beruhigen.

Der kleine Schutzmann trat zwei Schritte vor. „Hören Sie auf Ihren Mann und sehen Sie von einer Anzeige ab. Dann vergessen wir auch die Beleidigung.“

Das Anrücken der Polizei hatte Aufsehen erregt. Aus einigen Fenstern schauten die Nachbarn neugierig herunter. „Gerch, was ist denn los?“ rief es aus dem zweiten Stockwerk. Georg zog den Kopf ein, er fühlte sich ab jetzt verantwortlich für die zu befürchtenden Gerüchte. Und ausgerechnet in einer solchen Situation sollte er den „Gerch“ verabschieden?

Er war schon im Hausflur und wollte – wie es seine Art war – die Tür nicht lautstark ins Schloss fallen lassen, sondern leise schließen, als eine lindgrüne Limousine auf der gegenüberliegenden Straßenseite langsam an Morlocks Laden in Richtung Hauptbahnhof vorbeifuhr. „Das sieht nach Elisabeths Straßenkreuzer aus. Ich muss mir das Kennzeichen merken!“ In dieser Absicht zog er die Tür so weit zurück, dass er freien Blick auf die Rückansicht des Wagens hatte, der schon fast wieder die Höhle des Celtis-Tunnels erreicht hatte. „Das sind die typischen Schwanzflossen eines Cadillac!“ Ein Kennzeichen war in der beginnenden Dunkelheit des Abends aber nicht mehr zu lesen.

3. Erpressung zweier Zeugen

Johann (Hans) Weiß, ehemaliger Leiter der Jugendabteilung beim „Club“ – wie der „Erste Fußballclub Nürnberg“ (1. FCN) unter Fußballanhängern auch außerhalb Frankens genannt wird – hatte im Frühjahr 1949 zusammen mit Max Morlock die „Totoannahme Weiß-Morlock“ am Celtisplatz 2 eröffnet. Zum „Sporthaus“ erweitert, war das allgemein als „Lottoladen“ bezeichnete Geschäft Anfang der fünfziger Jahre in die Pillenreuther Straße 23 umgezogen. 1950 hatte Morlock Inge Weiß, die Tochter seines Kompagnons, geheiratet.

Am Morgen des 5. Juli 1954 war Hans Weiß noch früher als sonst auf den Beinen, um den Laden zu öffnen. Er erwartete einen Ansturm von Gratulanten und erhoffte sich gute Umsätze. Als er in das Hinterzimmer ging, um einen Besen zu holen, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass einige Zeitungen, Magazine und Kalender anders neben- und übereinander lagen als am Samstag. Er konnte sich das Durcheinander nicht erklären. Unruhig schaute er hinter die Regalwand, die quer im Raum stand.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, brummte er. Die Tür zum Seiteneingang des Ladens in der Wendlerstraße war einen Spalt breit geöffnet. „Ich bin mir ganz sicher, abgeschlossen zu haben“, sagte er sich mit fester innerer Stimme. Penibel untersuchte er Schloss und Tür. Die paar Kratzer in Kniehöhe kannte er schon. „Komisch, alles ist unbeschädigt.“ Er beeilte sich, in der Kasse nachzusehen und bemerkte dabei, dass seine Hände leicht zitterten. Wechselgeld und einige Scheine lagen wie unberührt an Ort und Stelle. Offensichtlich fehlte nichts – und trotzdem musste sich jemand Zutritt in seinen Laden verschafft haben. „Ausgerechnet am Weltmeistersonntag!“

Bevor er weitere Überlegungen anstellen konnte, kam der erste Stammkunde, Siegfried Ernst, um Morlocks Schwiegervater zu gratulieren: „Mensch, Hans, dei Max hat des Wunder von Bern gezaubert!“ Bei diesen Worten platzte Richard Bubner herein. „So ein Wahnsinn! Max, lou dei Stiefelspitz vergolden!“ Siegfried war als Spaßvogel bekannt. Er ulkte: „Wou hat er den Spagatschritt glernt, doch wohl ned im Ballett?“ Ausgelassenes Gelächter erfüllte den Raum. Sie wurden unterbrochen, als ein weiterer Kunde sich vordrängte: „Zwei Schachteln Eckstein!“ forderte er lautstark. „Wer holt die Zigaretten?“ „Immer der wo frächt!“

Durch das große Ladenfenster erblickte Hans Weiß seinen alten Kumpel Georg Meier, der mit langen Schritten näher eilte. Er drängte sich durch die Gratulantenschar, in der gerade der Spruch zirkulierte „Kein Rahn ohne Morlock!“, hakte Hans unter und zog ihn ins Hinterzimmer. Bevor er die Geschichte von gestern erzählen konnte, musste er sich die Sache mit der offenen Seitentür anhören. „Das Hinterzimmer ist durchstöbert worden. Die Kasse ist aber unberührt!“

„Auch des no!“ Obwohl Georg einigermaßen aufgeregt war, bemühte er sich, die Geschichte von gestern so zu erzählen, dass Elisabeth keinen Grund gehabt hätte, seinen Dialekt zu kritisieren. „Übung macht den Meister“ dachte er sich und berichtete fast dialektfrei über den „Schuss, den meine Frau gehört hat“, die Blutspur vor dem Laden, „die wir beide gesehen haben“ und das liegen gebliebene Damenfahrrad. Den Cadillac verschwieg er.

„Wirklich? Eine Blutspur? Das hört sich ja an wie der Beginn eines Krimis.“ „Hör zu! Ich erzähle keinen Quatsch! Schließlich haben wir die Polizei geholt. In einem Krimi hätten die das Blut untersucht. Aber die beiden Doldi, die gestern hier waren, lehnten eine Untersuchung ab.“ Den „Doldi“ hätte er sich in Gegenwart seiner Frau natürlich nicht gegönnt. „Dann war’s wahrscheinlich doch kein Blut!“ „Das steht zweifelsfrei fest, aber die sagten, es ist Katzenblut.“

„Waren sie von der Kriminalpolizei?“„Sie sprachen von Stadtpolizei und davon, nicht zuständig zu sein.“ „Siehst du – du hättest gleich die Kripo anrufen sollen. Probier es doch bei denen und vergiss auch nicht, die offene Seitentür zu erwähnen!“ „Solltest nicht besser du das übernehmen, es ist doch euere Ladentür.“ Hans überlegte, dann sagte er: „Da offensichtlich nichts fehlt, will ich mich erst mit Max besprechen.“ „Gut, ich wende mich also wegen der Blutspur an die Kripo.“

Elisabeth lauschte auf das Knarren der Treppe. Sie kannte den schweren Schritt ihres Mannes. Noch bevor er aufsperren konnte, öffnete sie die Tür. „Und? Was sagt Hans zu unserer Entdeckung?“, fragte sie gespannt. Sie konnte kaum abwarten, bis Georg wieder zu Atem kam. „Ich muss mich erst setzen. Hans meint, für die Untersuchung der Blutspur ist die Kriminalpolizei zuständig. Und die Kripo wird sich ja wohl auch mehr für den Schuss interessieren, den du gehört hast.“ „Georg, jetzt merke ich, dass du mir doch glaubst. Das freut mich sehr!“

 

„Wo finde ich denn die Telefonnummer der Kriminalpolizei?“ „Im Telefonbuch unter K.“ „Fehlanzeige!“ „Haben die beiden Polizisten gestern nicht von der Bayerischen Polizei gesprochen?“ „Unter B finde ich nur das Bayerische Landeskriminalamt. Aber es ist auch eine Nürnberger Nummer angegeben.“

Georg wählte bewusst langsam, um ein wenig Zeit für die Überlegung zu gewinnen, was er sagen sollte: „Erwähne ich nur die Blutspur oder auch den Schuss und wer hat ihn gehört – nur Elisabeth und die Reibers oder auch ich?“

Das „Belegt“-Zeichen verlängerte seine Bedenkzeit. Als sich beim dritten Versuch eine unwirsch klingende Männerstimme meldete, hatte er die Lösung, die er auch sofort loswerden wollte: „Meine Frau hat mir glaubhaft versichert, gestern einen Schuss gehört zu haben …“ „Einen Moment, ich verbinde mit der Abteilung Ermittlungen.“

Der Ansprechpartner aus dieser Abteilung war freundlich, geduldig und außergewöhnlich hilfsbereit. Nachdem Georg seinen Satz mit dem Schuss wiederholt hatte, wurde er zunächst belehrt: „Eine Strafanzeige gegen Unbekannt nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Sie können sie aber auch bei der Staatsanwaltschaft aufgeben.“ „Und bei Ihnen?“ „Wir sind dafür eigentlich nicht zuständig. Ich kann Ihre Aussage aber protokollieren und an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Sie müssen das Protokoll dann dort nur noch unterschreiben.“

Der hilfsbereite Bayerische Beamte fragte zunächst nach den Personalien: „Georg Meier, geboren am 14. November 1925 in Nürnberg, wohnhaft in der Pillenreuther Straße 18 in Nürnberg; verheiratet mit Elisabeth Meier, geborene Blonske, Geburtstag am selben Tag wie ich, nur vier Jahre später, also am 14. November 1929 in Zirndorf.“ „Was sind Sie von Beruf?“ „Schaffner bei der Nürnberg-Fürther Straßenbahn.“

Der Beamte räusperte sich: „Ich frage jetzt außerhalb des Protokolls: Auf welcher Linie könnte ich schon einmal einen Fahrschein bei Ihnen erworben haben?“ „Auf der Linie 21.“ In einer spontanen Reaktion auf die Hilfsbereitschaft seines Gesprächspartners fügte er hinzu: „Falls Sie mitfahren wollen: Montags beginnt mein Dienst immer um kurz nach zehn am Hauptbahnhof.“ „Um diese Zeit habe ich schon zwei Dienststunden hinter mir. Überlassen wir eine Begegnung in der Linie 21 also dem Zufall.“

Nach diesem Intermezzo erzählte Georg die Geschichte mit dem Schuss, der Blutspur, dem Damenfahrrad und – dieses Mal verschwieg er ihn nicht – mit dem Cadillac. „Das Protokoll wird übermorgen zur Unterschrift in der Fürther Straße 112 bereitliegen. Danach wird die Staatsanwaltschaft die erforderlichen polizeilichen Ermittlungen veranlassen.“

Georg war doppelt erleichtert. Erstens war es ihm gelungen, den Fall aktenkundig zu machen und die Ermittlungen in Gang zu setzen. Und zweitens konnte er Elisabeth beweisen, dass er ihre Wahrnehmung nicht für ein Hirngespinst hielt. Sie hatte dem Gespräch höchst aufmerksam zugehört und grinste nun über beide Backen. Sie nickten einander wortlos zu.

Weil Hans den Tipp mit der Kripo gegeben hatte, hätte Georg ihm gern noch von seiner erfolgreichen Strafanzeige berichtet. Es war jedoch schon bald zehn Uhr und sein Dienstbeginn rückte näher. Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, griff Schaffnerjacke, Geldtasche, Münzwechsler und gab Elisabeth einen Kuss auf die Wange. „Bis später!“ Auf dem kurzen Weg zum Hauptbahnhof geriet er ins Grübeln: Was würde aus ihm als Schaffner werden, wenn die Nürnberg-Fürther Straßenbahn tatsächlich wie geplant auf schaffnerlosen Betrieb umstellen sollte?

Abgesehen vom Verlust des Arbeitsplatzes konnte er sich das Entfallen der täglichen Rituale nicht vorstellen: die Geldscheine in seine Schaffnertasche und die Münzen in seinen Geldwechsler mit der gebotenen Sorgfalt einzuordnen und über das Wechselgeld genau Buch zu führen.

Und dann kreisten seine Gedanken längere Zeit um die Frage: Wie will man das Schwarzfahren verhindern, wenn niemand mehr ruft: „Noch jemand ohne Fahrschein?“ Er liebte seinen Beruf, daher wollte er sich nicht weiter mit unklarer Zukunft beschäftigen. Plötzlich wurde er im Halbdunkel des Celtis-Tunnels von einem Fahrradfahrer gerammt, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Im Stolpern fing ihn ein entgegenkommender Fußgänger auf, der ihn unangenehm kräftig umfasste. Ohne einen Dank abzuwarten, setzte dieser seinen Weg mit forschen Schritten fort. Irgendwie kam ihm der Zwischenfall komisch vor.

Am Hauptbahnhof stieg er in „seinen Einundzwanziger“. Warum „die“ Straßenbahn und „ihre“ Linien in Nürnberg männlich sind, konnte er nicht begründen, fand es aber irgendwie richtig. Die Linie 21 fuhr um diese Zeit ohne Beiwagen. Georg nahm im Schaffnersitz des Triebwagens Platz. Als er seine Schaffnertasche öffnen wollte, fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder: Sie war offen und er befürchtete, unbemerkt bestohlen worden zu sein. Auf den ersten Blick fehlte jedoch nichts. Aber zwischen den blauen Zehnmarkscheinen steckte ein kleiner weißer Zettel. In Anfängerschrift stand darauf: „Kein Cadillac. Sonst teuer bezahlen!“ Er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen. Außerdem musste er sich seinen Dienstaufgaben widmen.

Georg Meier versah seinen Schaffnerdienst an diesem Tag nicht mit der gewohnten Konzentration und Sorgfalt. Immer wieder stimmte das sonst so sicher von ihm abgezählte Wechselgeld nicht, weil es ihm einfach nicht gelang, den Zettel zu vergessen. Er nahm ihn als Versuch einer Erpressung sehr ernst: Mit „Kein Cadillac“ wurde er wohl aufgefordert, seine Aussage zu widerrufen. Aber was war mit „Sonst teuer bezahlen!“ gemeint? Und woher kannte der Erpresser den Hinweis auf den Cadillac in seiner Anzeige?

Dienstschluss war um 18 Uhr, wieder am Hauptbahnhof. Die Linie 21 – um diese Zeit mit Beiwagen – hatte fünf Minuten Verspätung. Während des gesamten Tages hatte Georg überlegt, ob und wie er Elisabeth von der befürchteten Erpressung erzählen sollte. Auf dem Heimweg, der durch den Celtis-Tunnel führte, fiel seine Entscheidung: Er würde ihr den Zettel ohne Kommentar in die Hand geben und ihrer Phantasie als Krimileserin vertrauen. Dabei musste er gegenüber sich selbst zugeben, die betreffende Lektüre seiner Frau bisher zu gering geschätzt zu haben.

Elisabeth empfing ihn mit dem Satz, der nach jedem Arbeitstag Georgs Feierabend einläutete: „Abendbrot ist fertig. Dein Bier steht bereit.“ Weil das gewohnte „Danke. Dann lass ich es zischen“ ausblieb, fragte sie sofort: „Was ist passiert?“ Georg gab ihr wortlos den Zettel. Sie las, kratzte sich kurz an ihrem Wuschelkopf und sagte im Brustton der Überzeugung: „Da will uns jemand erpressen. Und zwar jemand, der deine telefonische Strafanzeige mitgehört oder abgehört haben muss. Nur so kann er wissen, dass du von einem Cadillac berichtet hast, den ich ja unmittelbar nach dem Schuss gesehen habe und der dir dann bei seiner Rückfahrt, fast wie bei einer späteren Kontrollfahrt am Tatort vorbei, aufgefallen ist.“

Georg war sprachlos. Der kriminalistische Scharfsinn seiner Frau nötigte ihm jetzt größten Respekt ab. Zwingend erschien ihm vor allem die Annahme des abgehörten Telefonats. Georg wusste es aus dem Bericht eines von ihm geschätzten Nachrichtenmagazins: In der ‚amerikanisch besetzten Zone Bayern‘ – auf den Autokennzeichen mit einem B unter einem A abgekürzt – gehörte es für die Besatzungsmacht gewissermaßen zum guten Ton, die deutsche Polizei durch Abhörmaßnahmen zu überwachen. „Elisabeth, du hast ganz sicher Recht: Die Amerikaner müssen mein Telefonat mit dem Landeskriminalamt abgehört haben! Aber was haben die Amis mit der Sache zu tun?“

Elisabeth fühlte sich wie die Kommissarin in ihrem Lieblingskrimi: „Wo hast du denn den Zettel her?“ „Er steckte zwischen den Zehnmarkscheinen in meiner Geldtasche.“ „Also hat jemand gewusst, wann und wo dein Dienst heute Vormittag beginnen würde. Und genau dies hast du gestern telefonisch bekanntgegeben. Ich habe mich deshalb darüber gewundert, weil es mit unserer Strafanzeige nichts zu tun hatte.“

„Und warum habe ich nicht bemerkt, dass meine Tasche geöffnet und der Zettel hineingesteckt wurde?“ „Es gibt genug Trickdiebe, die so fingerfertig sind, dass sie dir unbemerkt eine Uhr vom Handgelenk klauen.“ Da fiel ihm die eigenartige Begegnung im Celtis-Tunnel ein, die er seiner Frau anschaulich erzählte. „Im Rückblick kommt mir die Sache sehr gewollt vor“, resümierte er. „Das war sie auch: Der Kontakt verschaffte jemand die Gelegenheit, den Zettel in deine Geldtasche zu schmuggeln.“ Georg wurde plötzlich leicht schwindelig. In welche Sache waren sie da verwickelt? Hätte Elisabeth doch besser keinen Schuss gehört. Wie gerne würde er den Film, der in seinem Kopf ablief, zurückspulen. Und wie schön wäre es, wenn er dem Regisseur in Gedanken einfach zurufen könnte: „Lou mer mei Rouh!“

Angesichts der gefühlten Bedrohungslage verharrten beide schweigend am Küchentisch. Wie sollten sie nun mit der Drohung umgehen? Sie nahmen sie jedenfalls nicht auf die leichte Schulter. Elisabeth löste sich als erste aus der gedanklichen Umklammerung. In ihr reifte eine Idee: „Wir korrigieren unsere Aussage folgendermaßen: Es darf nicht mehr protokolliert werden, dass es sich um einen Cadillac oder überhaupt um eine amerikanische Automarke handelte.“ Georg war erleichtert: „Damit erfüllen wir die Bedingung unseres vermutlich amerikanischen Erpressers. Wir sollten besser hinzufügen: ‚Die beobachtete lindgrüne Limousine könnte auch ein deutsches Fabrikat gewesen sein, etwa ein Mercedes-Benz 300.‘ Schließlich war der Wagen schon zu weit weg.“ Jetzt durfte es ein Bier sein.