Die Köln-Affäre

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Die Köln-Affäre
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Die Köln-Affäre

Thriller

Von Rolf D. Sabel


Rolf D. Sabel

Die Köln-Affäre

Thriller

Cover: Unter Verwendung von 123RF 34317271 und 46453605

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

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ISBN E-Book: 978-3-96136-141-0

ISBN Print: 978-3-96136-140-3

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Für Ruth und Berthold Sabel

in liebevoller Erinnerung

Der Roman beinhaltet die Fortsetzung des Thrillers Die Agenten-Affäre (ratio-books 2021), kann aber auch ohne Kenntnis dieses Romans gelesen werden, weil alle Zusammenhänge erklärt werden.

„Der Fanatismus schafft auch bei ganz ungebildeten Leuten oft eine bedeutende Beredsamkeit und gibt ihren Äußerungen oft eine bemerkenswerte, formelle rednerische Form.“

Cesare Lombroso (1836 - 1909), italienischer Arzt, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie, gilt als Begründer der Kriminalanthropologie

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

Epilog

Prolog

Ein Jahr hatte ich den Monsignore nicht gesehen, aber jetzt war es soweit. Wir hatten uns in meinem Kölner Stammlokal in der Wichterichstraße verabredet und ich musste nicht lange warten.

Monsignore Dr. Peter Diefenstein betrat das Lokal, schaute sich kurz um und steuerte auf meinen Tisch zu. In der Hand trug er eine schmale, schwarze Aktentasche.

Der Pfarrer der Basilika St. Pantaleon war ein stattlicher Mann, wohl gut in den Sechzigern, von hohem, schlankem Wuchs, kurzem, eisgrauen Haar, markanten Gesichtszügen mit buschigen grauen Augenbrauen und einer ausgeprägten Hakennase. Seit unserem letzten Treffen hatte er sich kaum verändert.

Er strahlte, als er mich sah und nahm die Maske ab, die die Coronazeit ihm abverlangte.

„Seien Sie herzlich gegrüßt“, sagte er mit seiner sonoren Stimme und wir schüttelten uns die Hände. Sein Blick fiel auf mein Kölschglas und verriet Interesse. „Auch ein Kölsch?“

„Sehr gerne“, sagte er und setzte sich. Er trug wie gewohnt seinen schwarzen Anzug mit weißem Collar. „Wie ist es Ihnen ergangen?“, wollte ich wissen, während die freundliche Wirtin in gewohnter Schnelligkeit die Kölschstange brachte. Er schüttelte den Kopf. „Die Zeiten ändern sich, die Kirchen werden leerer und besonders hier in Köln scheint ein Glaubenskrieg zu toben. Der Kardinal …“

 

Er führte den Satz nicht zu Ende.

Ich nickte. „Sie meinen zum Beispiel den synodalen Weg, oder? Aber ist es nicht gut, wenn Laien versuchen, sich mehr in die Kirchenarbeit einzubringen?“

Er wiegte seinen Kopf. „Ein wenig kommt mir das so vor, als wollten die Patienten in die Arbeit der Ärzte eingreifen.“

Ich fand den Vergleich amüsant, schwieg aber. Das sollte heute nicht unser Thema sein.

Und der Monsignore kam auch sofort zur Sache.

„Und was ist aus meinem äh … Manuskript geworden?“

Ja, das Manuskript, seine Aufzeichnungen, die er zu einem Roman ausgearbeitet und mir, dem Schriftsteller, vor einem Jahr anvertraut hatte. Wir hoben die Gläser und prosteten uns zu.

„Nun, ich habe einen kleinen, aber feinen Verlag in Lohmar gefunden, und der hat Ihr Werk veröffentlicht.“

„Aha!“

„Große Reichtümer dürfen Sie freilich nicht erwarten, aber immerhin, Ihr Buch ist auf dem Markt.“

„Welchen Titel hat es denn bekommen?“

„Die Agenten-Affäre!“

„Klingt interessant, so nach James Bond, oder?“

Ich nickte. „Der Verleger fand es jedenfalls interessant, wir müssen abwarten, ob …“

„Ich hab’ es wieder getan“, murmelte Diefenstein und senkte verlegen den Kopf. Ich sah ihn irritiert an und winkte die Wirtin mit einer kurzen Handbewegung weg, die die Speisekarte bringen wollte. Lächelnd legte sie die Karten auf den Tisch und verzog sich.

„Wie jetzt …?“

„Ich habe meine letzten Erlebnisse wieder aufgezeichnet und in eine Romanform gebracht!“

Zunächst war ich sprachlos, dann brach ich in ein lautes Lachen aus, das die Gäste der umliegenden Tische zu uns herüberblicken ließ.

„Das … das ist ja großartig. Das wird ja ein Fortsetzungsroman.“

„Sie meinen …?“

„Wir werden abwarten müssen, wie sich der erste Titel macht. Aber warum soll es nicht einen zweiten geben?“

„Zugleich habe ich mich bemüht, einer lieben Freundin, die vor kurzem gestorben ist, ein äh … kleines literarisches Denkmal zu setzen?“

Ich sah ihn neugierig an.

„Doris Bassler, die Frau meines besten Freundes. Sie starb überraschend schnell an Krebs.“

„Das ist Ihr protestantischer Kollege, nicht wahr? Ein Freund aus Studienzeiten?“

Diefenstein nickte bekümmert und leerte hastig sein Glas.

„Dann lassen Sie mal sehen, lieber Monsignore.“

Diefenstein holte die Aktentasche hervor und kramte eine Sammlung von Schriftstücken hervor, die nachlässig zusammengebunden waren. Ein kurzer Blick genügte mir, um zu zeigen, dass auch wieder der Lektor genügend Arbeit haben würde.

„Ich werde es mir ansehen und dann gerne weitergeben, wenn es so gut ist wie der erste Band. Aber jetzt sollten wir erst einmal etwas essen, oder?“

Diefenstein nickte nur und griff nach der Speisekarte.

Aus den Aufzeichnungen von Monsignore

Dr. Peter Diefenstein,

Pfarrer der Basilica St. Pantaleon – Band II

1. Kapitel
Köln/Domplatte

Dickes, bitteres Bier, schmutzige Gasthäuser, schmutzige, dicke Frauen und viel Speck. (aus dem Kölnbericht eines unbekannten englischen Reisenden, 17. Jahrhundert)

Aber das war vor mehr als zweihundert Jahren! Heute … Ein Schuss! Panisch flattern Tauben davon und suchen ihr Heil auf den nahen Dächern. Menschen schreien auf, blicken sich irritiert um. Der Mann, dem der Schuss gegolten hat, fällt wie vom Blitz getroffen um, sein Schädel explodiert. Blut und Gehirnfetzen verleihen dem Pflaster auf der Domplatte ein neues, bizarres Muster.

Aber wie konnte es dazu kommen?

Ein nahezu tropischer Sommer hatte die Domstadt an diesem frühen Augustabend fest im Griff. Karibik am Dom! Klimaerwärmung am Rhein! Globale Krise. Kennt jeder – fast jeder, wenn man von gewissen amerikanischen Amtsträgern absieht!

Schwüle, heiße Luft hatte sich wie ein Panzer über die Stadt gelegt, erschwerte die meisten sommerlichen Aktivitäten und machte das Atmen schwer. Die meisten Menschen trotteten in übler Laune dahin und warteten auf die Kühle des Abends, wenn sie dann käme.

Allerdings kündeten dunkle Wolken im Westen von einem aufziehenden Gewitter, das tatsächlich etwas Abkühlung bringen mochte und mancher Blick richtete sich zum Himmel, hoffnungsvoll oder furchtsam, je nach Stimmungslage. Wer konnte, verzog sich in die überfüllten Schwimmbäder, suchte die Kühle des umliegenden Grüngürtels auf oder lag zu Hause, die Füße in einen Eimer mit kaltem Wasser getaucht, in der Hand ein kühles Getränk, sorgsam darauf bedacht, im Einflussbereich des Ventilators zu bleiben.

Aber das waren naturgemäß nur wenige. Die, die das nicht konnten, und das waren die meisten, schleppten sich träge dahin, gingen in den Büros und Werkstätten lustlos ihrer Tätigkeit nach und sehnten sich nach dem Feierabend. Nur die meisten Schüler, die jauchzend in den Bädern rumtobten, teilten diese Sehnsucht nicht – sie hatten hitzefrei.

Die Gegend um den Kölner Dom dagegen war wie immer mit Touristen aus aller Welt überfüllt. Die Kölner überließen das Zentrum der Stadt zu dieser Zeit gerne kampflos den ausländischen Besuchern, die keine Wahl hatten. Sie waren an ihrem heutigen Ziel angekommen, und Wetter hin und Hitze her, jetzt galt es, das touristische Pflichtprogramm abzuwickeln, denn morgen war man schon auf der Kö in Düsseldorf, oder am Brandenburger Tor oder in einem der Märchenschlösser in Bayern oder …

Und so standen sie schnatternd vor der imposanten Kathedrale, machten mit langen Sticks ihre Selfies, tranken in den anliegenden Brauhäusern ungewohntes Bier aus seltsamen Gläsern und beobachteten mit verzückten Blicken die Ober in ihren blauen Schürzen, die für ihren rheinischen Charme gleichermaßen bekannt waren wie für ihre barsche Art.

Dä Köbes!

Und die, die nicht nur drei Stunden durch die Stadt hetzten, sondern sie mit aufmerksamem Blick durchstreiften, nahmen eine Menge Dinge wahr. Sie nahmen mit Erstaunen wahr, dass schwule Pärchen hier völlig unbehelligt durch die Menge flanierten, dass neben wunderschönen Altbauten Neubauten von erschreckender Hässlichkeit standen, dass die Straßen vielfach recht schmutzig waren, dass Kölsch offenbar nicht nur ein Getränk, sondern auch eine Sprache war, dass die wenigen Einheimischen, mit denen sie manchmal in Kontakt kamen, eben komisch, aber mit liebenswürdigem Akzent sprachen und von überbordender, leider aber auch meist oberflächlicher Freundlichkeit waren, dass es so viele Einheimische aber auch gar nicht mehr gab, weil ein hoher Anteil der Menschen hier einen Migrationshintergrund zu haben schien. Dass es viele wunderschöne Kirchen gab, aber die meisten leer waren, dass die Kölner auch auf Beerdigungen schon mal Karnevalslieder sangen und Trauer deshalb hier auch schon mal schnell in Frohsinn überging.

Dass das Verkleiden und Absingen seltsamer Lieder zu einer bestimmten winterlichen Jahreszeit, neuerdings sogar im Sommer üblich war und die Straßen zu dieser Zeit voller feiernder Menschen waren, von denen allerdings viele total betrunken waren und sich auch nicht scheuten, an Kirchen und Denkmäler zu urinieren.

Und dass es zu dieser Zeit nur hier eine Jungfrau gab, die eindeutig männliche Geschlechtsmerkmale hatte, dass es auch einen bekannten Fußballverein gab, der aber schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte und dass das alles in einer Stadt möglich war, wofür eigentlich mehrere Städte nötig gewesen wären.

Das alles nahmen Touristen in Köln wahr, wenn sie nur lange genug da blieben.

Aber es waren ja nicht alle Touristen auf der Domplatte.

Der Mann, der mit eiligem Schritt über die Domplatte ging, jene Domplatte, die Silvester vor zwei Jahren Schauplatz unsäglicher Ausschreitungen gewesen war und im Bewusstsein der aufnahmewilligen Bevölkerung so vieles verändert hatte, gehörte zweifellos nicht zur Gattung der Touristen.

Er hatte keinen Stadtplan unter dem Arm, keine Wasserflasche in der Hand und keinen Rucksack auf dem Rücken. Er machte keine Selfies und fragte niemanden nach irgendwelchen Wegen. Ihn interessierten nicht die Pflastermaler und nicht die Bettler, die mit gekrümmten Händen und Mitleid heischendem Gesicht um den Dom herum saßen.

Er war etwa Mitte Dreißig, von durchschnittlicher Größe, mit vollem schwarzem Haar, einem markanten Gesicht und kräftiger Figur. Sein beigefarbiger Anzug passte genau und verhüllte diskret die Pistole P226 X-Six Classic, die er in einem Schulterhalfter trug. Er war nur wenige Schritte vom Domhotel entfernt, dem ältesten und prächtigsten Grandhotel Kölns aus dem Jahr 1893, das nach den Zerstörungen im Krieg vereinfacht wieder aufgebaut worden war, aber wegen erheblicher Baumängel, die bei einem Sanierungsversuch vor einigen Jahren aufgetaucht waren, nun schon seit Jahren geschlossen war. Hier in Köln dauert so etwas eben länger als geplant und übersteigt die veranschlagten Kosten gerne um das Dreifache. Aber das stört den Kölner an sich nicht, er lebt nach der Devise:

Et hätt noch immer jot jejange!

Aber dann passierte es.

Ein Schuss, laut hörbar, offenbar aus geringer Entfernung abgegeben. Er traf den Mann in den Hinterkopf, ließ seinen Schädel förmlich explodieren und verteilte Blut und Gehirnmasse in bizarren Mustern auf dem Pflaster. Ohne einen Laut sank der Mann zusammen, während die Menschen in seiner Nähe in Panik schreiend auseinander stoben und die beiden japanischen Touristinnen, die gerade das Hotel fotografieren wollten, in namenlosem Entsetzen die Hände vor den Mund schlugen.

Nur wenige Minuten später eilten die Beamten von der nahen Wache der Bundespolizei am Bahnhof herbei. Wenige Minuten später rasten drei Streifenwagen der Kölner Polizei auf die Domplatte, ihr zuckendes Blaulicht spiegelte sich in den zahllosen Fenstern des verlassenen Hotels, schien ihnen für kurze Zeit ein geisterhaftes Leben zu verleihen.

Die neuen Beamten lösten die Kollegen der Bundespolizei ab, die nur für den Bahnhofsbereich, nicht aber für die davor liegende Domplatte zuständig waren und kurze Zeit später hatte sich die Szene in einen veritablen Tatort verwandelt, wie ihn die Gaffer aus dem Fernsehen zu kennen schienen.

„Dat is ja wie im Fernsehen“, rief ein Taxifahrer seinem Kollegen zu und biss genussvoll in sein Salamibrötchen.

Mit rot-weißen Bändern, mit grimmigen Beamten, die den Tatort großräumig absperrten, mit zwei Stellwänden um das Opfer und einem Notarztwagen der Kölner Feuerwehr, deren Besatzung freilich schnell einsah, dass hier weniger ein Arzt als vielmehr ein Bestatter zum Zuge kommen würde.

Hinter der Stellwand kniete ein schmaler Mann um die vierzig, schlank und hoch gewachsen, mit kurzem schwarzem Bart, grauen stechenden Augen und einem schlecht sitzenden, karierten Jackett, das er schon in den Tagen der Polizeischule getragen haben muss. Hauptkommissar Leo Breuer musterte den Toten aufmerksam.

Mit Handschuhen fischte er vorsichtig die Brieftasche des Mannes aus der Jacke und blickte überrascht auf das Siegel mit dem Adler, das auf dem Ausweis des Mannes prangte: Gordon Rush, Central Intelligence Agency C18 Field Agent Er pfiff leise durch die zusammengepressten Lippen. CIA!

Was macht ein Agent dieses ausländischen Dienstes hier bei uns? Und weshalb wurde er umgebracht? Da wartet eine Menge Arbeit auf uns! Oder auch nicht? Vermutlich wird das LKA die Sache an sich reißen. Oder der BND. Egal, erst mal weitermachen!

Ohne weiter etwas zu berühren, wandte er sich an seinen uniformierten Kollegen: Spurensicherung und Rechtsmedizin verständigt?“

„Sind in fünf Minuten da?“

Breuer nickte. Jetzt galt es, die Kollegen abzuwarten und darauf zu achten, dass der Tatort nicht kontaminiert wurde, aber wie sein Blick zeigte, hatten die Kollegen ganze Arbeit geleistet.

Fünfzehn Minuten später bog ein grauer Mazda auf die Domplatte, die sich inzwischen mit Gaffern und neugierigen Touristen gefüllt hatte. Ein Polizist winkte sie durch. Eine Frau in einem grauen Hosenanzug stieg aus, die langen grauen Haare zu einem Zopf gebunden, in der Hand trug sie einen schwarzen Ärztekoffer. Mit festem Schritt bahnte sie sich ihren Weg durch die Gaffer und eilte auf die Stellwände zu.

 

„Ah, Frau Dr. Wendler. Schön, dass Sie so schnell hier sein konnten.“

„Herr Breuer.“

Die angesprochene Rechtsmedizinerin, eine resolute Endvierzigerin in einem altmodischen, grauen Kostüm, nickte knapp, zog ihre Handschuhe an und machte sich an die Arbeit.

Sie drehte den Kopf des Opfers, betrachtete die grässliche Wunde am Hinterkopf und unterzog den restlichen Körper einer kurzen Untersuchung. Dann machte sie einige Fotos vom Kopf des Toten. Dachte einen Augenblick nach.

„Tod durch Gewehrschuss. Projektil ausgetreten, sollte hier in der Nähe zu finden sein. Nach der Größe der Wunde vermute ich, dass es sich um ein großes Kaliber gehandelt hat, vielleicht 12 mm. Der Schütze war kaum mehr als hundert Meter entfernt. Tod trat unmittelbar ein. Alles Weitere nach der Obduktion.“

Sie vermaß den Schusswinkel und blickte auf das Domhotel. „Schuss kam wahrscheinlich von dort“, sie deutete auf das Hotel. „Vielleicht zweiter oder dritter Stock.“

Dr. Wendler war nicht gerade für übermäßige Geschwätzigkeit bekannt, ihre Analysen waren knapp aber zutreffend, weshalb sie bei der Polizei sehr geschätzt wurde.

Breuer nickte und schickte sofort einige Beamten zum Domhotel, auch wenn er ahnte, dass der Täter dort wohl kaum auf die Beamten warten würde.

Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt, in einiger Entfernung durchzuckten erste Blitze das drohende Grau der Wolken.

„Danke, Dr. Wendler. Wir sehen uns bei der Obduktion. Sie geben meinem Büro den Termin?“

„Morgen früh, zehn Uhr!“, lautete die knappe Antwort, bevor die Ärztin so unauffällig verschwand, wie sie gekommen war. Sofort machte sich die Spurensicherung an die Arbeit und die Blitze der Fotoapparate hellten die zunehmende Dunkelheit auf.

Kurz darauf leitete ein Donnerschlag einen heftigen Regenguss ein, der Gaffer und Touristen vertrieb und Spuren zunehmend verwischte. Nur Breuer und seine Kollegen standen im Regen und machten ihre Arbeit, während ihnen das Wasser über die grauen Wangen lief.

2. Kapitel
Warschau (eine Woche vorher)

Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist. (Paracelsus)

Die polnische Hauptstadt lag friedlich in der Abendsonne, froh, einen weiteren Tag kaum erträglicher Hitze überstanden zu haben.

Unweit vom Kulturpalast, dem Warschauer Wahrzeichen, das die Sowjetunion im Jahre 1952 dem polnischen Volk zum Geschenk gemacht hat (die Alternative wäre der Bau einer U-Bahn gewesen, was weniger prestigeträchtig, aber praktischer gewesen wäre), der im Baustil des sozialistischen Klassizismus immer noch alle anderen Bauwerke Warschaus wie auch Polens überragt, liegt die Ul.Grzybowska. Sie verbindet das Geschäfts -und Bankenviertel Wola mit der Innenstadt und der Zlote Tarasy, dem modernen, großen Einkaufszentrum, ist Tag und Nacht belebt und von zahllosen Geschäften, Bars und Restaurants aller Ausrichtungen gesäumt.

Viele der Bars und Diners verfügen über eine Außengastronomie und die Menschen gönnen sich nach einem heißen Arbeitstag gerne einen kühlen Drink an den kleinen, mit bunten Decken gedeckten Tischen. Hier trifft man den Banker ebenso wie den Handwerker, die Studentin sitzt neben dem Touristen, der Busfahrer neben dem Versicherungsangestellten. Die Hausfrau hat ihre Einkäufe abgestellt und schlürft Hugo, der Arzt, der bemüht ist, Abstand von seiner Praxis zu bekommen, trinkt genüsslich seinen Weißwein.

Dazwischen Jugendliche, die neben ihren Eltern sitzen und unbekümmert auf ihre Smartphones hämmern, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie haben der Welt ihre Belanglosigkeiten mitzuteilen oder spielen ihre Spiele, immer in dem Bemühen, ein Leben mehr zu erreichen. Andere checken ihren Account bei Facebook und kontrollieren die Zahl ihrer Follower. Schon wieder fünf neue! Wieder andere, die unvermeidlichen Kopfhörer in den Ohren, nippen gedankenverloren an ihrer Cola und wippen im Takt berauschender Töne mit, von ihrer Umwelt nehmen sie kaum noch etwas wahr.

An einem der Tische saß eine attraktive junge Frau, die die vierzig noch nicht erreicht hatte. Ihr langes blondes Haar fiel in Locken weit über die Schulter. Sie trug einen engen, schwarzen Rock, der ihre sportliche Figur vorteilhaft betonte und eine weiße Bluse, die einen dezenten Blick auf ihre schmalen Brüste zuließ. Ihr Gesicht war ebenmäßig, aber herb, weil sich an den Mundwinkeln Falten eingegraben hatten, die von vielen, wohl auch leidvollen Erfahrungen zeugten.

Die hochhackigen Pumps hatte sie ausgezogen und neben den Tisch gestellt.

Sie zog an ihrer Zigarette, nippte an einem Cocktail, blätterte durch ein englisches Modejournal und ignorierte völlig die interessierten Blicke, die die Männer ihr zuwarfen. Ein Bild völliger Entspannung, wie es nur jemand bieten kann, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Eher keine gestresste Touristin, vielleicht eine entspannte, einheimische Urlauberin? Oder eine erfolgreiche Geschäftsfrau?

Von der Straße näherte sich ein Mann von mittlerer Größe und untersetzter Figur.

Sein beigefarbener Anzug war ein wenig zu groß und verdeckte die sehnige Gestalt.

Die stechenden grauen Augen waren unter einem gleichfarbigen, breitkrempigen Sommerhut und einer schmalen Sonnenbrille verborgen. Er schien einen Tisch zu suchen und steuerte den Tisch neben der Frau an.

„Autsch! Can’t you be careful?“

„Oh, I am so sorry, Madam!“ Englisch mit deutlichem Akzent. Der Mann hatte die Frau angerempelt und die Frau hatte einen kurzen, stechenden Schmerz in der Seite gespürt, der sie zu dieser unwirschen Bemerkung veranlasst hatte.

Der Mann murmelte einige weitere Worte der Entschuldigung, entfernte sich aber dann wieder, ohne an einem der Tische Platz zu nehmen. Irritiert blickte die Frau ihm nach, griff nach ihrer juckenden Hüfte, maß dem Vorfall aber keine Bedeutung bei. Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre.

Minuten später, der Mann war längst aus dem Blickfeld verschwunden, griff die Frau plötzlich an ihren Hals. Die Zigarette glitt aus ihren Fingern, Schaum trat aus ihrem Mund und sie begann zu röcheln. Ihr Gesicht wurde weiß wie ein Tischtuch, verkrampfte sich zu einer grauenhaften Fratze.

Die Kellnerin ließ vor Schreck einen Cappuccino auf das Bein eines russischen Touristen fallen, der empört aufschrie und fluchend mit seiner Zeitung nach der Kellnerin schlug.

Ein kleines Mädchen starrte entsetzt auf die Frau und fing in Panik an zu schreien.

An den Nebentischen sprangen Männer auf und eilten zur Hilfe.

Aber jede Hilfe kam zu spät!

Die Frau verdrehte ihre Augen, die Hände verkrampften sich und das Modejournal fiel auf den Boden. Sie schrie vor Schmerzen auf und sank auf den Boden.

„Tut doch was!“

„Holt die Ambulanz“

„Die Polizei! Alarmiert die Polizei!“

„Lockert den Kragen!“

Die Männer überschlugen sich in blindem Aktionismus und dem vergeblichen Versuch Hilfe zu holen.

Und während die Frau ihre letzten Atemzüge tat, stand der Mann mit den stechenden Augen und dem breitkrempigen Sommerhut keine zweihundert Meter entfernt im Eingang eines Wohnhauses und betrachtete die Szenerie mit unverhohlener Befriedigung.

Zufrieden verließ er den Tatort.