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Die Flüchtigkeit des Wissens

Dass man die modernen Gesellschaften gerne als Wissensgesellschaften bezeichnet, bedeutet keineswegs, dass Einigkeit darüber bestünde, was dieses Wissen sei und wie sich die Gehalte des Wissens über die Jahre verändert hätten und veränderten. Wissen begegnet uns als äußere Maßgabe und auch Zumutung. Es tritt uns gegenüber. In ihm bündelt sich die Fülle der Einsichten und Lesarten zu den Sachverhalten, mit denen wir es als Menschen zu tun haben. Diese Beschreibungen haben eine Diskursgeschichte. Sie wurden geprüft, erprobt, abgewandelt und verfeinert oder verworfen – auf alle Fälle kommen sie mit einer Kraft des Faktischen daher, die kaum noch zur Diskussion steht. Diese »sicheren« Wissensbestände markieren das, was wir überliefern und mit den Nachwachsenden und Novizinnen und Novizen teilen.

Kulturen und Gesellschaften unterscheiden sich darin, wie sie die Sicherheit ihrer Wissensbasis legitimieren und in welcher Weise sie den Streit um die Gültigkeit von Erkenntnissen und Argumenten regeln. Letztlich sind Wissensgesellschaften »offene Gesellschaften« im Sinne Karl Poppers. Sie sind getragen von einer Diskurspraxis,

»die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden« (Popper 1957, S. 267).

Dieser Anspruch fordert äußere und innere Offenheit. Er ist im Kern demokratisch, setzt aber auch auf die innere Offenheit der Akteurinnen und Akteure gegenüber Infragestellungen und neuen Erklärungen. An die Stelle totalitärer Geltungsregeln und Unterordnung treten das wissenschaftliche Denken und die Institutionalisierung der Kritik. Ohne die äußere – staatlich garantierte – Offenheit hat es die innere Offenheit schwer, sich zu entwickeln und sich an den Gegebenheiten zu orientieren. Wo Gewohnheiten, Meinungen oder gar fundamentalistische Glaubenssätze bestimmen wollen, was gilt, bleibt nicht nur der wissenschaftliche Fortschritt, sondern auch der gesellschaftliche und individuelle Fortschritt auf der Strecke.

Das in einer Gesellschaft jeweils als sicher angesehene Wissen stiftet ihren Schulen, Hochschulen und Berufsbildungs- sowie Weiterbildungseinrichtungen die mehr oder weniger verbindlichen »Bildungsinhalte« (Hof 2016, S. 205). Diese werden ausgewählt, begründet, curricularisiert und didaktisiert – nicht immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit, aber – von Ausnahmen abgesehen – in den Schattenbereichen von Ministerien, Lehrplankommissionen und Schulaufsicht. Vornehmes Ziel dieser gesellschaftlichen Konstruktion der Inhalte liegt in der Absicht, den Nachwachsenden sowie den lernenden Erwachsenen die Teilhabe am Diskurs zu ermöglichen und so letztlich auch Gesellschaft als Öffentlichkeit überhaupt erst zu gewährleisten. Denn beide »leben« von anerkannten Inhalten und Formen des Austauschs, der Geltungsbegründung und der Schlussfolgerung. Der hierbei zum Tragen kommende Wissensbegriff ist ein gesellschaftstheoretischer. Er fokussiert auf die Notwendigkeiten und die Vorzüge, die darin liegen, dass die Mitglieder einer Gesellschaft auf einen gemeinsamen Bestand von Lesarten, Formen des Umgangs mit Wissen sowie Argumentationsstile bezogen sind, die sie zur »mündigen« Teilhabe an der Gesellschaft befähigen.

Die Funktionen des Wissens sind damit aber noch keineswegs erschöpfend beschrieben. Zu fragen ist nämlich: Woher kommt dieses Wissen? Wie werden Erkenntnisse und Informationen zu Wissen? Und: Um welche Art von Wissen handelt es sich?

Wissen ist das – jeweils vorläufige – »Insgesamt« der sozial anerkannten Bemühungen um Erkenntnis von Zusammenhängen sowie um die Verbesserung der Wirksamkeit der menschlichen Praxis.

Dieses Wissen tritt uns als Erklärungszusammenhang gegenüber. Es erscheint dabei weniger als Detailwissen, vielmehr bettet es die Details selbst erst in Strukturen, Begriffsklärungen, Regelhaftigkeiten usw. ein. »Die Welt, die gelernt wird« (Göhlich/Wulf/Zirfas 2014, S. 7), begegnet uns deshalb auch nicht als solche, sondern stets im Lichte der jeweils als zeitgemäß angesehenen Erklärungszusammenhänge. Diese verändern und vertiefen sich beständig, denn wir verstehen über die Jahrhunderte und Jahrzehnte viele Zusammenhänge genauer und gewinnen über sie auch oft eine wirksamere Gestaltungsmacht. Dies gilt insbesondere für die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge, aber auch die eigentümlichen Wechselwirkungen der sozialen Praxis können wir heute genauer verstehen als noch vor fünfzig Jahren. In diesem Zusammenhang von Wissen zu sprechen, verweist darauf, dass der Wissensbegriff auch eine Steigerung ausdrückt, indem er sich vom Nicht-Wissen oder Halbwissen unterscheidet und dadurch auch eine Stufenfolge der Weltbildentwicklungen markiert, die zu einer zunehmenden Kohärenz und Konsistenz des Wissens zu führen vermag. Ihre Stufen sind »Beschreibung«, »Erklärungswert«, »innere Widerspruchsfreiheit«, »äußere Widerspruchsfreiheit« sowie »Prüfbarkeit« (Vollmer 1991, S. 765).

Bildung durch Evidenz

Der an solchen Evidenzen gebildete Mensch ist ein Wissensträger der besonderen Art: Seine Fähigkeiten erschöpfen sich nicht in der Kenntnis von Sachverhalten bzw. in deklarativem Wissen (knowing that); vielmehr verfügt er auch über Fähigkeiten zur Handhabung und eigenen Konstruktion von Wissen (knowing how) bzw. über prozedurales Wissen, wie dies bereits Anderson (1976) definierte. Christiane Hof verleiht diesem Ansatz neue Aktualität:

»Mit Bezug auf pädagogische Fragen bezieht sich das deklarative Wissen auf das Lernen domänenbezogenen Sachverhaltswissens und das prozedurale Wissen auf die Aneignung der Fähigkeit, bestimmte Dinge zu tun. Es geht hier also um ein Können bzw. um bestimmte Fertigkeiten und Strategien (Skills), die einen bei der Durchführung von Tätigkeiten unterstützen. Während das deklarative Wissen als bewusst und explizit zu benennen ist, zeichnet sich das prozedurale Handlungswissen dadurch aus, dass es nur teilweise übersetzbar ist und auch implizite Anteile hat.« (Hof 2016, S. 207)

Diese Unterscheidung lässt die Frage entstehen, welches Wissen eigentlich gemeint ist, wenn wir von der Wissensgesellschaft oder der Wissensveralterung sprechen. Veraltern beide Arten von Wissen gleichermaßen? Oder haben wir es letztlich bloß mit einer Wissensverschiebung zu tun, die durch eine wachsende Bedeutung des prozeduralen gegenüber dem deklarativen Wissen gekennzeichnet ist? Eine vertiefte Untersuchung der beobachtbaren Wissensverschiebungen würde schließlich die Frage »Auf welches evidente Wissen kann ich mein Denken und Handeln gründen?« durch die Frage ablösen »Wie kann ich mich selbst in dem, was ich denke und tue, an Evidenzen orientieren?« Die ständige Bemühung um Evidenz würde sich so als prozedurales Wissen darstellen. Es könnte den Eindruck des Deklarativen, dem ja immer auch der Geruch von etwas Endgültigem anhaftet, spürbar hinter sich lassen und die Akteurinnen und Akteure innerlich gegenüber dem Neuen öffnen. Wäre dies nicht die eigentliche Aufgabe einer Bildung in der Wissensgesellschaft?

Auch Evidenzen gibt es bloß vorübergehend. Und nicht jede als evidenzbasiert ausgegebene Einschätzung hält der Überprüfung auch Jahre später noch stand, wie die Beispiele von Samuel Arbesman (2012) zeigen. Aber anderes als die Mechanismen einer sozialen Konstruktion der Evidenz haben die Menschen nicht. Evidenzbasiertes Denken und Handeln geht somit von bewährten, nicht von wahren Erkenntnissen aus – eine Differenzierung, die bisweilen vergessen wird. Die Begründung von Evidenzen folgt sozialen Regeln, wie etwa denen, dass

•Interessen in Beurteilungs- und Entscheidungskontexten über das, was gilt bzw. gelten soll, ausgeklammert bleiben müssen,

•die Prüfung der Gültigkeit einer Einschätzung stets vorläufig, d. h. ohne Ansehen der Person dessen, von dem diese Einschätzung stammt, zu geschehen habe und

•dass anerkannte Expertinnen und Experten darüber wachen, welche neuen Einsichten den fachlichen und methodischen Standards eines Faches entsprächen und welche nicht – eine durchaus ambivalente »Sicherung«, da sie das Neue am Leisten des Alten misst und vielleicht genau dadurch Innovationen ausschließt.

Insbesondere in den Naturwissenschaften haben sich dabei Formen einer sozialen Kontrolle entwickelt, mit denen die Scientific Community einer Disziplin darüber wacht, wer welche Ergebnisse ihrer Forschung in den anerkannten Fachzeitschriften veröffentlichen darf und wer nicht. Zugleich weisen diese Zeitschriften unterschiedliche »Impact-Faktoren« auf – mit der Folge, dass nur deren Chancen auf Berufung und Forschungsmittel steigen, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact-Faktor veröffentlichen. Dass diese Praxis auch der Willkür, Manipulation und Macht Tür und Tor öffnet und die Verfasserinnen und Verfasser z. B. bisweilen zu »erzwungenen Zitationen« (aus der jeweiligen Zeitschrift selbst, um deren Impact-Faktor zu erhöhen) gedrängt werden, haben zahlreiche Studien der letzten Jahre aufgedeckt (vgl. Kaube 2008). Eine soziologische Kritik gelangt deshalb zu der eher vernichtenden Bewertung, dass

»der Peer-Review kein wissenschaftliches Messverfahren für die Güte von Publikationen [ist], sondern eine soziale Einrichtung zur Kalibrierung der Lesezeiten einer Disziplin« (Hirschauer 2004, S. 62).

Mittlerweile lässt sich die Kritik an der eigentlichen Qualität der Peer-Review-Praxis nicht mehr übersehen. Bereits 1982 wurden in zwölf psychologischen Fachzeitschriften Aufsätze, die schon eineinhalb Jahre zuvor erfolgreich publiziert worden waren, nochmals (bei denselben Zeitschriften) eingereicht, was bloß drei von 38 Referees überhaupt auffiel. Von diesen Aufsätzen wurden acht von neun wegen »schwerwiegender methodologischer Mängel« abgelehnt – wohlgemeint: Aufsätze, die einige Monate davor das Reviewverfahren erfolgreich passiert hatten (Peters/Ceci 1982). Solche Ergebnisse stärken die Zweifel an der qualitätssichernden Wirkung dieser Art von Publikationskontrolle. Diese ist nicht bloß durch die erwähnten beschämenden Widersprüchlichkeiten – um nicht zu sagen: Willkürlichkeiten – bei erneuter Begutachtung diskreditiert, sondern auch durch ihre Unfähigkeit, Übertreibungen oder Irrtümer in berichteten Forschungsergebnissen sicher auszuschließen, wie John P. A. Ioannidis im Jahre 2005 bei mindestens einem Drittel der in Peer-reviewed Journals veröffentlichten medizinischen Arbeiten herausfand (Ioannidis 2005). Ist es vor dem Hintergrund solcher Widersprüchlichkeiten abwegig, der evidenzsichernden Wirkung von Peer-Review-Verfahren und sogenannten Impact-Faktoren gründlich zu misstrauen? Und auch die Frage nicht außer Acht zu lassen, wie es um die Kreativität und Innovativität von wissenschaftlichen Disziplinen bestellt sein kann, deren Nachwuchs sich bei der Publikation seiner Ergebnisse gültigkeitssichernden Verfahren unterziehen muss, deren Gültigkeit selbst in Zweifel steht, und die darüber hinaus dazu neigen, das Neue an den Maßstäben des etablierten Mainstreams zu messen?

 

Man kann es deshalb nicht deutlich genug hervorheben: Auch die durch Peer-Reviews, Impact-Faktoren und Rankings geregelten Evidenzbelege sind das Ergebnis einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit. Auch in ihr teilt sich uns Wirklichkeit lediglich zu unseren Bedingungen und Verfahren bzw. denen der jeweiligen Zunft mit, d. h. in der Form, wie sie auf uns zu wirken vermag. Was nicht zur Veröffentlichung gelangt, ist nicht per se ungeeignet, es wird aber kaum wahrgenommen und entfaltet deshalb auch weniger Wirkung. Wo Studien hingegen zugänglich sind, eine breite Zustimmung auslösen, Überprüfungen standhalten und sinnvolleres Handeln begründen, kann – zumindest vorläufig – davon ausgegangen werden, dass das gezeichnete Bild mehr oder weniger zutrifft – nicht im Sinne des Abbilds einer externen Wirklichkeit, wohl aber als vorübergehende gemeinsame Basis eines funktionierenden bzw. sozial akzeptierten Handelns. Als wie fragil diese Basis sich erweisen kann, zeigen u. a. die Debatten um den 2006 vom ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore produzierten Film »Eine unbequeme Wahrheit«. Letztlich kann auch Al Gore nur scientometrisch bzw. bibliometrisch argumentieren, indem er z. B. nüchtern darauf verweist, dass die menschengemachte Erderwärmung über die Jahre von zunehmend weniger Studien in Zweifel gezogen wird (vgl. Beck 2010). Die unmittelbare Evidenz seiner eigenen Belege reicht nicht aus, er muss diese noch durch mittelbare Evidenzbelege unterfüttern. Die Klimaerwärmung mag zwar evident sein, ihre Evidenz wird aber erst zu einer Tatsache, wenn sie auch sozial geteilt wird – ein Unterschied, der oft gerne übersehen und gegen die konstruktivistischen Erkenntnistheorien in Stellung gebracht wird. So übersehen z. B. die nicht enden wollenden Polemiken gegen das systemisch-konstruktivistische Weltbild in der Pädagogik: Evidenz ist Wahrheitsähnlichkeit, d. h. die – augenblicklich – am besten begründete Form der Schlussfolgerung, aber eben nicht die Wahrheit selbst, wie ein Blick in die Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer zeigt (vgl. Zankl 2004). Zur – vorübergehenden – Wahrheit wird sie erst, wenn soziale Akzeptanz hinzutritt.

Exkurs: Wie wirklich ist die Evidenz?

Evident ist das, was uns und signifikanten Anderen begründet der Fall zu sein scheint. Dass auch andere einen Sachverhalt so beurteilen, wie wir dies tun, lässt uns sicherer werden – allerdings nicht immer zu Recht, wie wir aus den zahlreichen Paradigmenwechseln in der Geschichte der Wissenschaft wissen. Manche Wissenschaftler machen es sich deshalb zu leicht, wenn sie Evidenz mit Wahrheit verwechseln und alle diejenigen der Unvernunft schmähen, die sich in dieser Frage behutsamer und voller Zweifel bewegen. So melden sich Materialisten und sogenannte »neue Realisten« mit ähnlichen Argumentationen zu Wort. Dabei halten beide unisono an der Illusion der sicheren Erkennbarkeit der Welt fest – wie anders könnten sie behaupten, was sie behaupten? Und dass es sich um Behauptungen, genauer gesagt: um trotzige Behauptungen, handelt, wird bei einem der Wortführer des Neuen Realismus, dem Bonner Philosophen Markus Gabriel, deutlich, wenn er es anstelle eines Arguments einfach bei der Feststellung belässt: »Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen« (Gabriel 2013, S. 13).

Auch in den pädagogischen Debatten tummeln sich Realisten oder – noch extremer – Materialisten. Für die materialistischen Bildungstheorien stand am Anfang die Gamm’sche Rehabilitierung des realistischen Denkens als ein »radikaler Rationalismus«, d. h. eine Erkenntnisform, »die unbeirrbar an der vollen Diesseitigkeit der Welt festhält« und auch dem Anspruch verpflichtet bleibt, »zum Emanzipationsprozess der Gattung anzuleiten« (Gamm 1983, S. 21 und 69). Diese Haltung setzt eine Unerschütterlichkeit im Wissen voraus, die nach den neueren Denk- und Wahrnehmungstheorien eigentlich nicht zu haben ist. Vielmehr stärken diese in uns den Eindruck, dass auch unser eigenes Nachdenken nur zu denken vermag, was in uns als Möglichkeit angebahnt ist – und es somit keinen Weg gibt, um tatsächlich zu gewährleisten, was materialistische Bildungstheorien beständig versprechen, nämlich »dass ein Nervensystem Informationen aufnimmt und daraus Repräsentationen (also: interne Abbilder) seiner jeweiligen Umwelt erstellt« (Pongratz 2010, S. 284), wobei so getan wird, als seien diese Abbilder irgendwie exakte Wiedergaben einer im Außen so und nicht anders gegebenen Wirklichkeit. Unnötig zu betonen, dass dieser naive Realismus selbst in den Naturwissenschaften wenig Freunde hat, wie bereits die erkenntnistheoretischen Arbeiten aus dem Umkreis der Physik zeigten. So befasste sich der theoretische Physiker David Bohm in seinem auf Deutsch unter dem Titel »Der Dialog« erschienenen Werk auch mit dem unauflösbaren Wechselverhältnis zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten und stellte fest:

»Normalerweise erkennen wir nicht, dass unsere Annahmen die Natur unserer Beobachtungen beeinflussen. Aber die Annahmen beeinflussen die Art, wie wir die Dinge sehen, wie wir sie erfahren und infolgedessen das, was wir tun wollen. In gewisser Weise sehen wir durch unsere Annahmen. […] [D]er Beobachter ist das Beobachtete. Wenn wir die beiden nicht zusammensehen, den Beobachter und das Beobachtete bzw. die Annahmen und die Emotionen, erhalten wir ein völlig falsches Bild. Wenn ich sage, ich will sehen, was in meinem Geist vorgeht, aber meine Annahmen nicht mitbedenke, bekomme ich ein falsches Bild, weil die Annahmen es sind, die beobachten.« (Bohm 2011, S. 134 und 135 f.)

Deshalb müsste die erkenntnistheoretische Auseinandersetzung sich auch viel stärker von der Sache selbst weg und zum Beobachter und seinen Annahmen hin bewegen. Dann fällt einem zwar auf, dass die »Möglichkeit einer angemessenen Auffassung der Umwelt« (Pongratz 2010, S. 284) von Materialisten und Realisten lediglich behauptet, jedoch nicht belegt werden kann. Die Frage, um die es aber eigentlich geht, bleibt hingegen ausgeklammert: die Frage nach den Hintergrundannahmen eines vermeintlich einer objektiven Daseinslogik nachspürenden Denkens und des sich in diesem ausdrückenden Fundamentalismus. Nur dieser erklärt auch die destruktive und bisweilen polemisierende Kraft, mit der Einzelne sich in den Streit um die Wirklichkeit werfen. Es geht dabei um Rechthaben und Bewerten, weniger um Klärung. Eine selbsteinschließende Beobachtung des eigenen Gewissheitsaufbaus oder gar den tastenden Versuch, die dabei wirksamen Annahmen zu reflektieren oder womöglich zurückzunehmen und sich einer Pluralität der wissenschaftlichen Weltsichten zu öffnen, erwartet man vergebens. Materialisten wie Realisten meinen, über stringente und universal gültige Formen des Erkennens zu verfügen, sie klammern den bloßen Annahmecharakter ihrer eigenen Formen des Beobachtens, Wahrnehmens und Bewertens aus und zeihen andere der Unvernunft.

Nur so ist zu erklären, dass Ludwig Pongratz, einer ihrer eiferndsten Vertreter, in seinem nicht enden wollenden Kampf gegen systemisch-konstruktivistische Denkansätze sich immer und immer wieder auf die insgesamt eher belanglose Dissertation von Ralf Nüse bezieht, der glaubte, das erkenntnistheoretische Programm des Konstruktivismus (vgl. von Glasersfeld 1996) mit dem lapidaren Hinweis ad acta legen zu können, dass, »wenn man keinen Zugang zur Umgebung hat, man (dann) auch nicht feststellen (kann), dass man keinen hat« (Nüse 1995, S. 251). Dieser Hinweis ist nicht substanziell, er gilt auch umgekehrt: Wer annimmt, dass sein Gehirn ihm zutreffende Abbilder von der Wirklichkeit zu erzeugen vermag, der vermag auch nicht zu (be)denken, dass er gar keinen Bezug zu derselben aufzunehmen vermag. Er ist letztlich nicht zu einem selbstreflexiven Umgang mit Evidenzen in der Lage, ihm entgeht deren letztlich soziale Konstruktion ebenso wie ihre emotionale Verankerung im Set mitgebrachter und eingespurter Vorstellungen. Damit ist er dann auch nicht in der Lage, sich ein anderes Bild von der Wirklichkeit zu machen als das, welches er schon immer annahm. Materialisten und Neorealisten können sich ebenso wenig mit der Koevolution weitgehend mit sich selbst befasster Gehirne adäquat auseinandersetzen, da sie deren Verhältnis als zueinander geöffneter annehmen, als es – nach allem, was uns die sozial konstruierten Evidenzen zeigen – zu sein scheint. In ihrer fundamentalistischen Wende beraubt sich die materialistische Bildungstheorie zudem gerade eines wesentlichen Elements ihrer eigenen Ursprungsprogrammatik, nämlich der Möglichkeit zum Entwurf einer Wirklichkeit, die anderen als den angenommenen Mechanismen Ausdruck zu verschaffen mag.

Die Irrealität der Evidenz anzuerkennen, bedeutet keineswegs, der Beliebigkeit Tür und Tor zu öffnen. Evidenzen sind so lange anerkannt, als sie viable, d. h. gangbare, Wege eröffnen, wobei die Kriterien zur Bemessung der Gangbarkeit historisch variabler sind, als ursprünglich vermutet. Ein Blick in die Geschichte der wissenschaftlichen Irrtümer zeigt dies überdeutlich (vgl. Zankl 2003, 2004). Dies gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, sondern auch für Geistes- und Sozialwissenschaften, deren Gegenstände zudem einer mathematisierten Beobachtung unzugänglicher sind, weil sie sich durch Tradition und Deutung konstituieren – eine Logik, von der aber auch die exakten Wissenschaften nicht ganz frei sind. Dennoch gilt:

Mehr als eine vorübergehende Gewissheit und Viabilität ist in Anbetracht der wechselseitigen Vorausgesetztheit von Beobachter und Beobachtetem nicht zu haben (vgl. Arnold/Neuser 2017).

Und zu diesen Evidenzen zählt auch die Unmöglichkeit einer annahmefreien Beobachtung – eine Einschätzung, die auch für die gerade eben geäußerte Vorstellung gilt. Was an dieser konstruktivistischen Selbstwidersprüchlichkeit gravierender sein soll als an der bloßen Behauptung einer abbildstiftenden Beobachtung dessen, was ist, bleibt unerfindlich. Indem die Illusion der abbildstiftenden Beobachtbarkeit ihre sich bestätigenden Annahmen mit dem Nimbus der Evidenz ausstattet, wird sie ebenso zur Belehrungsinstanz wie die Bescheid wissenden Zwischenrufe von Materialisten und Realisten. Diese geben vor, zu wissen, was »unsinnig« ist, ohne zu sehen, dass bereits der simple Sachverhalt, dass sich ihnen unter der Hand die Art und Weise, wie sie seit drei Jahrzehnten über Bildung und Erziehung denken und schreiben, fast schon zu einer Art Marotte entwickelt hat, die unübersehbar der Logik eines »Ich-möchte-so-bleiben-wie-ich-bin« folgt und die gegenüber den Möglichkeiten einer sich verändernden Welt blind bleibt.

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