Entlehrt euch!

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Der Abschied von der Vollständigkeitsillusion

Für eine solche Subjektdidaktik ist Vollständigkeit kein Thema. Sicherlich sollen der in seiner Kompetenz zertifizierte Absolvent oder die ebensolche Absolventin über Zugänge zu dem notwendigen Fachwissen verfügen, um auf dessen Basis in ihrer Domäne handeln, intervenieren oder gestalten zu können. Dafür benötigen sie jedoch nicht das ganze Wissen gleichzeitig, und in der Regel konservieren Absolventinnen und Absolventen auch in den Bereichen eine vertiefte Fachkompetenz, in denen sie sich bereits erproben konnten, während andere – notwendige – Kenntnisse verblassen und in den Hintergrund treten. Man beherrscht sie für die Prüfungen, aber nicht für die Praxis. An die Stelle eines verbindlichen Horizontes an Lesarten, Argumentationsformen, traditionalen Gewissheiten und eines ethisch-moralischen Deutungsrahmens tritt die bloß formal zu beschreibende »Kraft« des Subjektes, mit wechselnden Lagen der Vereinsamung, Diskontinuität und Unsicherheit umgehen zu können. Die englische Wortschöpfung »reflexible« soll verdeutlichen, worum es bei dieser kompetenzorientierten Wende im Kern geht: Es ist nicht bloß der »flexible Mensch« (Sennett 1998), sondern auch der »reflexive Mensch« – kurz, der bereits erwähnte »reflexible Mensch« –, der hier Gestalt zu gewinnen scheint. Er muss in seiner Subjektivität letztlich zahlreiche Gegensätze gleichzeitig balancieren und situationsangemessen ausdrücken können: den Umgang mit den Anforderungen des Außen sowie die Stärkung der eigenen Kräfte im Innen, die Wahrung der Kontinuität sowie den Mut zu Neuem und die professionelle Distanz gegenüber der gestaltenden Nähe.

Um in der sich rasant verändernden Welt überhaupt bestehen zu können, muss der reflexible Mensch sich selbst aus dem Vollständigkeitswahn befreien. Diente bereits die didaktische Analyse von Klafki keineswegs der Vollständigkeit inhaltlicher Anforderungen, sondern vielmehr ihrer Repräsentativität, d. h. der begründeten Auswahl der Lehrinhalte aus der Fülle des möglichen Wissens, so wird diese gewollte Unvollständigkeit von der Subjektdidaktik geradezu bewusst weiter zugespitzt. Sie meidet die Debatten um die Vollständigkeit dessen, was z. B. Schülerinnen und Schüler lernen sollen, und beteiligt sich stärker an den Klärungen der Formen, in denen eigene Erfahrungen gesammelt und Autonomie erlebt werden können. Außerdem schmiegt die Subjektdidaktik sich an die anstehenden Entwicklungsaufgaben der Lernenden an und ordnet diesen alles unter. Indem sie die Lernautonomie grundsätzlich beim Lernenden belässt und ihm zutraut, sich selbst Zugänge zu den notwendigen Themen zu erarbeiten, diese im Dialog zu vertiefen und mögliche Anwendungen zu üben, nimmt die Subjektdidaktik vorweg, was eine kompetenztheoretisch vertiefte Debatte letztlich auch bestätigen würde:

Der Anspruch der Vollständigkeit ist Ausdruck eines veralteten Lehrverständnisses; ihm entgeht die händeringende Suche der fortgeschrittenen Bereiche unserer Gesellschaft nach selbstorganisierten Formen des Lernens und Gestaltens, wie sie in den Kontexten der Digitalisierung und der Arbeitswelt 4.0 ihren augenfälligsten Ausdruck finden (vgl. Kucklick 2015, S. 19).

Deshalb plädiert auch die Vodafone Stiftung bei ihrer »Suche nach der richtigen Bildung für das digitale Zeitalter« (Vodafone Stiftung 2016) für mehr Aktivierung statt für Vollständigkeit. Dabei kommt u. a. Stephen Spurr zu Wort, der sich für den »umgedrehten Unterricht« (flipped classroom) mit dem Argument einsetzt, dass dieser das personalisierte Lernen stärke und den »Weg zu einer liberalisierten Welt eigenständiger Recherchemöglichkeiten« ebne (Spurr 2016, S. 47):

»Die wertvolle Präsenzzeit im Klassenzimmer kann dadurch besser genutzt werden – und wird nicht durch Wiederholungen, durch das Abschreiben von Tafelnotizen oder langatmige Vorträge der Lehrkraft vergeudet. Die Schüler kommen vorbereitet in jede Unterrichtsstunde und werden sofort in Diskussionen oder schriftliche Einzel- oder Gruppenprüfungen eingebunden, die das Lernen fördern sollen. Auch hier müssen sich die Lehrkräfte sorgfältig Gedanken darüber machen, wie ein solches tiefer gehendes Lernen ermöglicht wird. Es erfordert eine hervorragende Planung. Dabei geht es nicht nur um das Unterrichtstempo. Vielmehr geht es um Tempo und Qualität des Lernens sowie die Entwicklung analytischer, kreativer Denkfähigkeiten.« (Ebd.)

Die Vollständigkeit oder Repräsentativität des zu Lernenden tritt in einem solchen Konzept digitaler Bildung hinter den Fähigkeiten zur selbstständigen Erschließung, Aneignung sowie Konstruktion von Wissen deutlich zurück. Es geht dabei um die Ermöglichung von weiten Denkräumen, nicht um deren tendenzielle Vermessung und Reglementierung.

2 Der Mensch ist lernfähig, aber unbelehrbar


Indem man das Lernen als Lebensbewegung in den Blick rückt, tritt das Lehren zurück (vgl. Siebert 2015). Der lernende Mensch setzt sich zwar neugierig mit seiner Umgebung auseinander und sammelt Erfahrungen, doch folgt er Vorgaben, Anweisungen und Belehrungen häufig nur, um Nachteile zu vermeiden. Diese Bewegung ist Anpassung, nicht Aneignung. Sicherlich kann er auf diesem Weg Beachtliches zustande bringen: Er zeigt dann in der Tat nach einiger Zeit das, was man von ihm erwartet, er ist sogar in der Lage, Einsichten zu memorieren und wiederzugeben, doch versickern diese Fähigkeiten in der Regel rasch wieder, wenn der Erwartungsdruck seiner Umgebung nachlässt und er keinen Anlass finden kann, den erworbenen Inhalt auch in einer eigenen Lernbewegung aus seinen Erfahrungen heraus zu konstruieren. Nur im glücklichen Fall wird das lernende Individuum von dem, was ihm da aufgenötigt wird, gepackt, weil es selbst einen Zugang – seinen Zugang! – zu neuen Perspektiven erarbeiten konnte – nicht weil, sondern obwohl die ganze Inszenierung mit seinen Fragen und seinen Lernbewegungen zunächst eigentlich nichts zu tun hat.

Dieses breite Versickern ist Ausdruck der »Uneigentlichkeit« zahlreicher Inhalte sowie ganzer Fächer des Schulcurriculums: Sie werden beherrscht, weil und solange der an sie geknüpfte Erwartungsdruck des gesellschaftlichen Überlebens andauert, sie verblassen mehr und mehr im Leben selbst. Wie viele Schuljahre reduzieren sich auf diesem Wege bei nüchterner Betrachtung nach Jahren auf ein lächerlich geringes Können? Vielfach erinnert man sich bloß noch daran, was man einmal wusste und konnte, und man nimmt die so vergeudete Zeit als unvermeidbares Schicksal an – nicht ahnend, dass man mit ihr auch den Kontakt zur eigenen Lernfähigkeit verloren hat.

»Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir!« ist der Slogan dieser Art von Institutionalisierung unseres Lernens. Diese präsentiert sich uns in ambivalenter Weise: Einerseits öffnete die Institutionalisierung des Lernens einen sozial breiteren Zugang zur Bildung und zeigt sich uns rückblickend als notwendiges Element einer wahrhaften Demokratisierung der menschlichen Formen des Zusammenlebens, andererseits wurde dieser Vorteil mit einer Abwertung der informellen Formen des Lernens und der Persönlichkeitsentwicklung »erkauft«, deren tragende Relevanz erst seit Ende des letzten Jahrhunderts wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein tritt (vgl. Rohs 2016). Die »Recognition of prior learning«, wie sie die EU-Bildungspolitik fordert, ist der entschlossene Versuch einer Berücksichtigung der Tatsache, dass nicht (nur) die Schule, sondern auch das Leben bildet, wie Pestalozzi bereits wusste (vgl. Bittner 2011).

In der Didaktik selbst, d. h. in der Art und Weise, wie Bildungsprozesse arrangiert und inszeniert werden, hat diese Hinwendung zum informellen Lernen erst ansatzweise seinen Niederschlag gefunden. Noch immer dominieren wissensorientierte Didaktiken, die dem Inhalt und damit der Belehrung einen Primat zusprechen – unbeschadet vom Zweifel an der Möglichkeit einer Vermittlung von Inhalten, wie sie die Hirn- und Lernforschung der letzten Jahre nähren. Erst vereinzelt wird dieses Vorgehen radikal hinterfragt und z. B. ein »Ende der Didaktik« ausgerufen, der Mainstream hingegen verfolgt weiterhin den Weg einer uneigentlichen Bildung: Den Lernenden werden Dinge »gezeigt«, Zusammenhänge »erklärt« und »Standards« vorgesetzt, deren wahrhaft kompetenzbildende Relevanz oft fraglich ist. Begründet wird dieses expositorische Vorgehen mit dem Hinweis, dass schließlich die Standards selbst nicht zur Disposition stehen könnten, weshalb es unabdingbar sei, diese darzustellen, zu begründen und zu fordern, so, als würde die Hinterfragung der Belehrung diese Standards selbst wirklich infrage stellen. Um nicht missverstanden zu werden: Ja, die menschliche Zivilisation wird auch von geteilten Weltsichten und der Übernahme erreichter Standards der Aufgabengestaltung getragen. Diese müssen jedoch nachhaltig angeeignet, anverwandelt und zu Subjekteigenschaften verdichtet werden können, um wirklich halten zu können, was man sich von ihnen verspricht.

Nicht übersehen werden darf in diesem Zusammenhang der »heimliche Lehrplan« dieser Art belehrender Bildung. Die Frage ist: Was lernen Menschen wirklich dauerhaft, wenn sie Anpassung lernen, statt Aneignung zu üben? Die wohl folgenschwerste Lektion ist in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Erfahrung des Versickerns von einmal erworbenem Wissen und Können. Hier lernen die Belehrten, dass man sich Lernanforderungen unterwerfen muss, die nichts mit ihnen und ihren eigenen Lernbewegungen zu tun haben und die auch nicht zu dauerhaften Resultaten führen. Nicht das, was wir wissen und können, sondern das, was wir einmal wussten und konnten, bestimmt unsere Lebenschancen – so die Quintessenz dieser Bildung. Menschen lernen dabei auch, dieses Versickern als eine unvermeidbare Begleiterscheinung des Lernens hinzunehmen. Und nicht selten drohen sie dabei auch den Glauben daran zu verlieren, dass ihr Lernen sie zu einem bleibenden subjektiven Vermögen zu führen vermag, das sie in die Lage versetzt, ihr Leben anders und in zuvor ungekannter Vielfalt und Tiefe zu gestalten. Es ist dieser Verlust des Vertrauens in die eigenen Lernkräfte, der die Menschen auszehrt, wenn nicht gar zerbricht, wie nicht nur die zahlreichen Beispiele der schwarzen Pädagogik zeigen.

 

War dieser Effekt in autoritären Gesellschaften genau das, worum es den Autoritäten (Obrigkeit, Kirche und Besitzenden) nachweislich meist zu tun war, so erweist er sich in modernen und sich dynamisch entwickelnden Gesellschaften vielfach als hinderlich, um nicht zu sagen kontraproduktiv. Solche Gesellschaften benötigen auf ihrem Weg in unbekannte Zukünfte zunehmend Menschen, die ihr Vertrauen in die eigenen Lernkräfte haben entwickeln und stärken können und deshalb in der Lage sind, sich selbstorganisiert mit den gesellschaftlichen Aufgaben auseinanderzusetzen. Es spricht einiges dafür, dass wir uns heute mitten in einer gesellschaftlichen Entwicklung befinden, in der die Bedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft erstmalig in der Geschichte mit den Anforderungen an die breite Entwicklung der Subjekte koinzidieren.

Denn offene Zukünfte benötigen passende und nicht bloß überlieferte Formen der Problemlösung, die es – vielfach »auf Augenhöhe« – zu entwickeln und zu gestalten gilt. Diese Problemlösungen wiederum setzen persönliche, fachliche und soziale Kompetenzen auf der Seite der Akteurinnen und Akteure voraus, die diese nur aus sich heraus und nicht in Kontexten der Anpassung und Belehrung oder gar der Disziplinierung entwickeln können. Es ist deshalb an der Zeit, auch die didaktischen Schlussfolgerungen zu ziehen, die uns Lern- und Hirnforschung unisono nahelegen. Wir sollten endlich der Tatsache Rechnung tragen, dass Menschen lernfähig, aber unbelehrbar sind. Hierfür benötigen wir vertieften Einblick in das, was Lernen eigentlich ist, um auch die überlieferten Formen einer Institutionalisierung von Lehr-Lern-Prozessen allmählich hinter uns lassen zu können, die einer Belehrungslogik Ausdruck verleihen, für die wenig spricht außer der Macht der – schlechten – Angewohnheit.

Von der Didaktik erster Ordnung zur Didaktik dritter Ordnung

Es wurde bereits hinlänglich deutlich: Der neue Blick auf das Lernen und die Wissensaneignung folgt einer subjektorientierten Perspektive (vgl. Abb. 1). Auch das Fachliche bzw. die Anforderungen an die Expertise beim Problemlösen werden mittlerweile stärker als in der Vergangenheit aus einem Verständnis der Such- bzw. Aneigungsbewegungen des Subjektes heraus fokussiert. Die Anforderungen, auf die wir uns beziehen, sind nicht so und nicht anders unabhängig vom Subjekt – die Konstruktivisten sagen: vom Beobachter – existent. Sie werden vielmehr von jedem lernenden Individuum neu und in seiner besonderen Weise, d. h. vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und Gewohnheiten (Annäherungsroutinen, Paradigmen usw.) in seiner Kognition geschaffen. Dabei bezeichnet dieses Schaffen ein subjektiv-emergentes Geschehen, das äußere Anregungen unterstützen und begleiten, aber nicht wirkungssicher gestalten können. Die didaktisch-methodische Frage »Wie sollen Lerner lernen?« tritt neben die curriculare Frage »Was sollen Lerner lernen?« (Arnold/Gómez Tutor 2007, S. 40). Dabei ergeben sich besondere Spezifizierungsaufgaben für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Wissen und Lernen.

In der folgenden Übersicht werden die einschlägigen didaktischen Debatten zu der Frage nach den Kriterien einer gelungenen Bildung verdichtet. Dadurch wird ein Weg zur Gestaltung der sich wandelnden Bedeutung des Fachlichen markiert, der auf Integration und weniger auf Ablösung der bisherigen – vornehmlich inhaltsorientierten Didaktikmodelle – gerichtet ist. Die Didaktik »dritter Ordnung« umfasst die Dimensionen des Inhalts und des Prozesses in einer stärker outcome- bzw. kompetenzorientierten Ausrichtung. Repräsentativität, Strukturrelevanz oder gar Vollständigkeit des Inhaltlichen sind für sie nicht die allein maßgeblichen Kriterien einer gelungenen Bildung. Sie erweitert vielmehr den Blick auf die Fachkompetenz um die Dimensionen, welche die Identitäts- und Kompetenzentwicklung einer Person auf der Subjektebene beschreiben und in den methodischen und sozialen, aber auch in den emotionalen und spirituellen Formen ihres Umgangs mit der Wirklichkeit ihren Ausdruck finden. Insbesondere die letzte Kompetenzdimension wird in den Debatten noch gerne übersehen und unterliegt einem Esoterikverdacht – eine Zurückhaltung, der entgeht, von welch grundlegender Bedeutung die eigene Wertbasis für die autonome Gestaltung des eigenen Lebens sowie den Umgang mit den wechselnden Lebenslagen ist. Man spricht zwar gerne von der Bedeutung der Haltung, vermeidet aber die Präzisierung der inneren Kompetenzen, welche die wertbasierte Haltung zu dem machen können, was sie als zentrales Element gelungener Bildung sein sollte. Astin, Astin und Lindholm sprechen deshalb zu Recht von einem »potentially very important topic« und beklagen: »The development of self-awareness receives very little attention in our colleges and universities« (Astin/Astin/Lindholm 2011, S. 2).


Abb. 2: Von der Didaktik erster Ordnung zur Didaktik dritter Ordnung

In fast allen Bereichen unseres Bildungswesens wird den Inhalten und dem Lehren de facto vorrangig Rechnung getragen. Diese Konzepte sind inputorientiert und verfügen erst ansatzweise über Zugänge zu einer outcomeorientierten Begründung der Kompetenzentwicklung. Dieser Zustand wird sich auch und gerade angesichts der Wandlungen des Wissens in den postmodernen Gesellschaften und der Zunahme der (bildungs-)technologischen Speicher-, Abruf- und Darstellungs- sowie Umgangsmöglichkeiten (vgl. Nowotny/Scott/Gibbson 2001) grundlegend verändern (müssen), wollen wir nicht mit den inhaltsbasierten Lernkonzepten der Vergangenheit die inhaltsfluide Zukunft zu gestalten versuchen – was ebenso abwegig anmuten muss wie der Versuch, in einer Kutsche globalen Handel zu betreiben.

Unsere Bildungseinrichtungen sind von diesem Ideal einer kompetenzbildenden Kultur des selbstorganisierten Lernens noch weit entfernt. In ihrer neuesten Veröffentlichung »Stoppt die Kompetenzkatastrophe« stellen John Erpenbeck und Werner Sauter im Blick auf die universitäre Tradition des Zeigens und Belehrens pointiert fest:

»Guten Hochschullehrern, verantwortungsvollen Wissenschaftlern ist allemal klar, dass ihre Vorlesungen, vor 200, 300 Studenten gehalten, zwar neuestes für den Fachmann brisantes Wissen darbieten können, dass aber nur Bruchteile davon behalten werden und noch viel weniger handlungswirksam wird. Vorlesungen sind in der Regel sinnlos, weil sie nur Wissen an sich, aber kaum Wissen für uns liefern.« (Erpenbeck/Sauter 2016, S. 12)

Nun mag diese Einschätzung zugespitzt und im Einzelfall unzutreffend sein, aber ist sie falsch? Tun wir wirklich genug, um

•die Lernenden in ihren Lebenswelten und biografischen Lernprojekten anzusprechen,

•Inside-out-Prozesse der Selbstbildung zu ermöglichen,

•die Selbstlern- und Selbstführungskompetenzen der Lernenden gezielt zu fördern und

•ihnen in geeigneten Lernarrangements Angebote eines angeleiteten Selbstlernens zu offerieren, wie es für die Fernuniversitäten, die E-Learning-Formen oder die erfahrungsorientierten Ansätze der Erwachsenendidaktik seit Jahren gang und gäbe ist?

Zwar hat sich die Prophezeiung von Bill Gates aus dem Jahre 2010, der zufolge man in fünf Jahren »die besten Vorlesungen der Welt kostenlos im Netz finden« werde und dies »besser als jede einzelne Hochschule sei«[2] – noch? – nicht bewahrheitet. Doch kann man daraus automatisch einen Bestandsschutz des Bisherigen folgern? Stephan Weichert, Professor für Journalismus in Hamburg, tut dies in pauschalisierender Argumentation:

»Weder sind die besten Vorlesungen der Welt kostenlos im Netz zu finden, noch sind die meisten Angebote nachhaltig. Unsere ungeliebten Unis aus Waschbeton und Linoleum gibt es nach wie vor in der Welt der Dinge. Auch die Präsenzlehre ist nicht verschwunden, vielleicht weil die Sache mit dem betreuenden Professor, der an der Atlantikküste Wein trinkt, einfach zu schön ist, um wahr zu sein.« (Weichert 2016)[3]

Wenn es stimmt, dass Wissen und Kompetenzen nicht vermittelt, sondern von jeder oder jedem Lernenden bloß selbstständig angeeignet und entwickelt werden können – sämtliche namhaften Hirnforscher rufen dies mittlerweile der Pädagogik nachdrücklich, aber ohne Resonanz ins Gedächtnis (u. a. Roth/Lück 2010) –, dann können wir auch in den Schulen, Hochschulen und Universitäten nicht so weitermachen wie bisher. Dringend muss das lernende Individuum wieder in das Zentrum seiner Kompetenzentwicklung gerückt werden, wo es z. B. die Erwachsenenpädagogik seit jeher verortet hat. Seit den 1980er-Jahren folgt die Erwachsenendidaktik dieser Linie, indem sie das Lernen im Modus der Auslegung, als Suchbewegung auf dem Weg zur Identität und Kompetenz und als Transformation von Alltagswissen sowie einer Expansion bzw. Stärkung von Ich-Kräften systematisch erforscht, begleitet und theoriebildend beschreibt. Dabei folgt sie einer intransitiven Pädagogik, wie sie von den allermeisten, die sich bildungspolitisch artikulieren und z. B. Mut, Durchgreifen und Konsequenz im Klassenraum fordern, noch nicht einmal im Ansatz verstanden worden ist. Dies verwundert auch nicht, sind wir doch durch unseren transitiven Sprachgebrauch zu einem Begreifen genötigt, das nur das zu fassen vermag, was unsere Begriffe hergeben:

»Betrachten wir den Bildungsbegriff selbst nun genauer. Das dazugehörige Verb heißt bilden und ist ein transitives Verb. Es bezieht sich also auf ein Akkusativobjekt. Verbum transitivum heißt: ›Verb, das (in ein Objekt) übergeht‹ (Kluge). Bildend ist eine Person, deren Tätigkeit, das Bilden, ›übergeht‹ in ein Objekt, die also eine andere Person bildet. Das entspricht gängigem pädagogischem Denken. Wenn von Jugendbildung, Erwachsenenbildung, Lehrerbildung usw. gesprochen wird, dann sind damit normalerweise die Tätigkeiten von Personen gemeint, die als Bildner andere Personen (Jugendliche, Erwachsene, angehende Lehrer/innen) bilden. Dieser Bildungsbegriff ist in seiner konsequenten Fassung ein technischer, ein Bearbeitungsbegriff. Als solcher wird er im 18. Jahrhundert zunächst in der Aufklärungspädagogik gebraucht, die sich die Formung des Menschen zum (möglichst vollkommenen) Menschen und zum (möglichst brauchbaren) Bürger zur Aufgabe machte.« (Sesink 2006, S. 17)

Demgegenüber wird in den letzten Jahren durch die Ergebnisse der systemischen sowie der Hirn- und Lernforschung ein intransitives Verständnis der Lern- und Bildungsprozesse angebahnt, das die Autonomie des lernenden Individuums, d. h. die prinzipielle Selbstorganisation seiner Auseinandersetzung mit neuen Anforderungen und bei der Entwicklung seiner Kompetenzen stärkt. Dieses Verständnis folgt keiner Vermittlungs- oder Belehrungslogik, sondern den individuell jeweils spezifischen Mustern der Aneignung. Bei diesem Versuch, Lernen und Kompetenzentwicklung stärker orientiert an den Lernenden zu begründen und zu gestalten, ist ein präziserer Wissensbegriff erforderlich, als ihn die pauschale Rede vom Zeigen oder Eröffnen des Wissens gegenüber den Nachwachsenden nahelegt (vgl. Türcke 2016). Nicht alles, was es gibt, ist für diese von kompetenzbildender Relevanz für ihre Zukunft in den unterschiedlichen Domänen und Ausbildungsgängen! Und:

Man kann viel wissen und nichts können (vgl. Arnold/Erpenbeck 2014), und der Mensch – das lernfähige Tier – kann auch mit den Jahren lernen, nicht mehr lernen zu können. Dann erlahmt sein ursprüngliches Neugierverhalten, und seine Fähigkeiten, sich selbst und die Welt aktiv zu erforschen, kreativ Neues zu erproben und über Bisheriges hinauszuwachsen, werden verschüttet.