Mobilität und Kommunikation in der Moderne

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1.2 Dampfkraft

Bis zur Erfindung der Dampfmaschine musste der Mensch zur Verrichtung von Arbeit entweder auf (eigene oder tierische) Muskelkraft vertrauen oder natürliche Kräfte wie etwa jene des Wassers oder des Windes nutzbar machen. So wichtig diese Kraftquellen auch waren und so geschickt sich die Menschen hinsichtlich ihrer Nutzung anstellten, so kannten sie dennoch einige Einschränkungen bezüglich ihrer Einsatzfähigkeit. Die Verfügbarkeit natürlicher Kraftressourcen war nicht immer gegeben und hing stark von Standort oder Jahreszeit ab. Muskeln wiederum ermüdeten. Das machte für beide Kraftquellen eine gleichmäßige, verlässliche Nutzung mitunter schwierig. Zudem war in vielen Fällen die Leistungsfähigkeit begrenzt. Natürlich wurde seit der Nutzbarmachung des Feuers auch Biomasse und zum Teil fossile Ressourcen (wie zum Beispiel Torf) zur Energiegewinnung genutzt. Aber die Umwandlung in mechanische Arbeit – der Grundlage für Bewegung und Transport – erwies sich lange als schwierig. Dieses Problem konnte schließlich mit der Entwicklung der Dampfmaschine gelöst werden, die nichts anders tat, als Wärmeenergie aus der Verbrennung von Biomasse oder fossilen Brennstoffen in mechanische Arbeit umzuwandeln. Eine effiziente, gut gewartete Dampfmaschine stellte dadurch eine Kraftquelle zur Verfügung, die viele der bisherigen Einschränkungen aufbrach. Ihre Leistung war jederzeit zu berechenbaren und reproduzierbaren Bedingungen und in Gleichmäßigkeit abrufbar. Sie war unermüdbar, leistungsstark und weitestgehend unabhängig vom Standort.

Zumeist wird die Erfindung der Dampfmaschine dem Schotten James Watt (1736–1819) zugeschrieben und auf das Jahr 1769 datiert, in welchem Watt ein Patent auf einige wichtige Verbesserungen der Technologie erhielt. Tatsächlich aber war die Entwicklung der Dampfmaschine ein langsamer Prozess. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts lernte man, die Möglichkeiten der neuen Kraftquelle wirklich auszuschöpfen. Dabei gehen die wissenschaftlichen und praktischen Vorarbeiten für den Bau einer Dampfmaschine bis in das 17. Jahrhundert zurück. Thomas Newcomen (1663–1729) arbeitete in den frühen Jahren des 18. Jahrhunderts an einer so genannten Atmosphärischen Dampfmaschine. Er nutzte die noch junge Erkenntnis, dass die Atmosphäre ein Gewicht hat. Ein Zylinderraum unter einem Kolben wurde mit heißem Dampf gefüllt und dieser dann durch eingespritztes Wasser schnell abgekühlt. Dadurch entstand ein Unterdruck im Zylinder, und der Kolben wurde durch das Gewicht der Atmosphäre in den Zylinder gedrückt. Mechanische Arbeit wurde verrichtet. Ein Gegengewicht zog den Kolben dann wieder heraus. Die erzeugte Bewegung beschränkte sich auf ein ruckartiges Rauf-und-runter. Die Maschine war nicht besonders leistungsstark und verbrauchte vor allem noch große Mengen an Brennstoff. Daher wurde dieser so genannte Newcomen engine erstmals 1712 in einem englischen Kohlebergwerk, wo günstiger Brennstoff in großen Mengen zur Verfügung stand, zum Antrieb einer Bergwerkspumpe eingesetzt. Die Dampfmaschine in dieser Form entwickelte noch keine große Kraft und produzierte auch keine gleichmäßige, runde Bewegung, die aber zum Antrieb vieler Gerätschaften notwendig war.[15] Zudem war sie hinsichtlich des Standorts an Brennstoffvorkommen gebunden. Der Wirtschaftshistoriker Robert C. Allen argumentiert daher, dass die Entwicklung des Newcomen engine zu Beginn des 18. Jahrhunderts überhaupt nur in Großbritannien möglich gewesen wäre, da sich ihr Einsatz aufgrund der großen Kohlevorkommen nur dort gelohnt hätte.[16]

Der Newcomen engine entfaltete noch nicht die Hauptvorteile späterer Dampfmaschinen, nahm aber deren grundlegendes Prinzip vorweg.[17] Neben vielen anderen Ingenieuren und Wissenschaftlern entwickelte auch James Watt Newcomens Erfindung weiter. Einer seiner wesentlichsten Beiträge war der Einbau eines so genannten separaten Kondensators. Die Abkühlung des Dampfes erfolgte nun in einer separaten Kammer und somit musste der Zylinder selbst nicht ständig wieder erwärmt werden. Das sparte Energie. Außerdem arbeitete Watt erstmals mit der Expansionskraft des Dampfes selbst. Der Zylinderraum wurde nun nicht gänzlich mit Dampf gefüllt, sondern die Expansionskraft des Dampfes verrichtete in dieser Niederdruckdampfmaschine ebenfalls Arbeit. Watt meldete den separaten Kondensator 1769 zum Patent an. Seine Dampfmaschine war bei weitem effizienter als frühere Modelle, wurde aber vor allem aufgrund der unregelmäßigen Bewegung weiterhin hauptsächlich zum Betreiben von Bergwerkspumpen eingesetzt. Watt konnte dieses Problem durch das so genannte „double acting“, also den doppelten Einsatz der Dampfkraft zum Drücken und Heben des Kolbens, und durch eine verbesserte Umwandlung der Kolbenbewegung in eine Drehbewegung lösen. Ab den 1780er-Jahren wurde die Dampfmaschine so auch erstmals zum Antrieb von Maschinen nutzbar. Gleichzeitig blockierte Watt durch sein Patent aber die Weiterentwicklung der Dampfmaschine durch andere Ingenieure. Erst nach Auslaufen des Patents im Jahr 1800 kam es zu einer signifikanten Weiterentwicklung der Technologie. Entscheidend war in diesem Zusammenhang die Konstruktion einer Hochdruckdampfmaschine, die mit höheren Temperaturen und entsprechend größerem Druck arbeitete.

Durch diese und andere Verbesserungen wie etwa der Koppelung mehrerer Kolbeneinheiten wurde die Dampfmaschine im frühen 19. Jahrhundert stetig effizienter und stärker. Sie produzierte eine gleichmäßigere Bewegung und wurde zudem kompakter und damit portabel. Richard Trevithick (1771–1833) entwarf einen kleineren und stärkeren Dampfkessel, den er schließlich auf Räder montierte. Im Jahr 1801 stellte er in Camborne, Cornwall, seinen funktionsfähigen Dampfwagen vor, der sich aber in der Praxis nicht durchsetzen konnte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurden Dampfmaschinen trotz dieser Weiterentwicklungen weiterhin hauptsächlich zum Betrieb von Bergwerkspumpen eingesetzt.[18] Vor allem in der Leichtindustrie – also zum Beispiel in Textilfabriken – blieb die Wasserkraft bis etwa Mitte des Jahrhunderts die entscheidende Kraftquelle. Erst im zweiten Drittel des Jahrhunderts fand die Dampfmaschine – zuerst in Großbritannien und mit etwas Verzögerung auch auf dem europäischen Kontinent und in Nordamerika – ihre wichtigsten Anwendungsbereiche, in denen ihre technologischen Vorzüge vollständig zum Tragen kamen: in der entstehenden Schwerindustrie, die zur Verarbeitung von Eisen und Stahl eine verlässliche und starke Kraftquelle benötigte, und zum Antrieb von Eisenbahnen und Dampfschiffen.

1.3 Eisenbahnverkehr

Als verkehrstechnische Neuerung des frühen 19. Jahrhunderts zeichnete sich die Eisenbahn vor allem durch die Kombination zweier Elemente aus: Sie fuhr auf Schienenwegen und wurde durch Dampfkraft angetrieben. Erst im Zusammenspiel dieser beiden Komponenten konnte die neue Transporttechnologie ihre Vorzüge entfalten. Der Einsatz von Schienen reduzierte den Rollwiderstand und erlaubte gemeinsam mit der Dampfmaschine einen gleichmäßigen Lauf und die effiziente Bewegung einer großen Masse. Rudimentäre Schienensysteme wurden bereits in der Antike eingesetzt. In der Form verlegter Holzgleise waren sie seit Beginn der Frühen Neuzeit vor allem im Bergbau bekannt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden vermehrt eisenbeschlagene und schließlich gusseiserne Schienen verwendet. Der Schienentransport begann sich gegen Ende des Jahrhunderts auch außerhalb der Bergwerke zu etablieren. Bekanntestes Beispiel dafür ist die 1795 eröffnete Derby Canal Railway in Nordengland, deren pferdegezogene Wagen auf gusseisernen Schienen die Kohlegruben von Little Eaton über eine Strecke von acht Kilometern mit dem Derby Canal verbanden. Richard Trevithick entwickelte nach seinem Dampfwagen für die Straße auch einen selbigen für ein Bergwerksschienensystem, der 1804 in einem walisischen Bergwerk erfolgreich getestet, danach aber nicht weiter eingesetzt wurde. Diese und andere Innovationen nahmen zwar die Prinzipien der Eisenbahn bereits vorweg, waren aber noch nicht praktisch, verlässlich oder wirtschaftlich genug.

In den Folgejahren arbeiteten viele Ingenieure an Verbesserungen der Technologie. Zur selben Zeit verschoben sich die Wirtschaftlichkeitskriterien im Transportwesen, da während der Koalitionskriege[19] und ab 1815 durch die protektionistischen Corn Laws in Großbritannien die Futterpreise für Zugtiere stark anstiegen. Die Dampfmaschine als potentielle Kraftquelle für Transportmittel wurde nun zunächst in den Bergbaurevieren und später auch darüber hinaus wirtschaftlich attraktiv.[20] Der Autodidakt George Stephenson (1781–1848) baute 1814 seine erste Bergwerkslokomotive, die er nach dem preußischen General „Blücher“ nannte. Nach weiteren technischen Verbesserungen konnte Stephenson die Verantwortlichen einer eigentlich als Pferdeschienenbahn geplanten Strecke zwischen Stockton und Darlington in Nordengland überzeugen, auf der vierzig Kilometer langen Route Dampflokomotiven zur Traktion einzusetzen. Ein Teilabschnitt der Bahn wurde im September des Jahres 1825 eröffnet und damit die erste öffentliche Dampfeisenbahn inauguriert. Im Rahmen der Eröffnungsfeier wurde erstmals auch ein Personenwagen von Stephensons Locomotion gezogen. Es gab in den folgenden Jahren aber auch einige Rückschläge in der Weiterentwicklung der Technologie. Es kam immer wieder zu Unfällen mit den Lokomotiven. So wurde 1828 der Maschinist John Cree durch die Explosion des Dampfkessels der Locomotion getötet. Zudem wurden weiterhin auch Pferde zum Ziehen der Wagone eingesetzt. Insgesamt aber zeigte sich in der Stockton and Darlington Railway die Brauchbarkeit und Wirtschaftlichkeit der Idee einer Eisenbahn, so dass bald weitere ähnliche Unternehmungen folgten. Im Jahr 1830 wurde eine Eisenbahnlinie zwischen der Industriestadt Manchester und dem wichtigen Hafen Liverpool für den Güter- und Personenverkehr eröffnet. Die Liverpool and Manchester Railway war sehr schnell erfolgreich. Ihre Betreiber waren insbesondere von der großen Nachfrage im Personenverkehr überrascht und konzentrierten sich zunächst darauf, da man hier auch die Konkurrenz der Binnenkanäle nicht zu fürchten hatte. Die Eisenbahn war verhältnismäßig günstig und benötigte im Regelverkehr für die 56 Kilometer knapp unter zwei Stunden, während die teurere Kutsche etwa drei Stunden brauchte. Ab 1840 fuhren die Züge auf dieser Strecke nach einem regelmäßigen Fahrplan. Die Liverpool and Manchester Railway war zwar nicht die erste dampfbetriebene Personeneisenbahn, hatte aufgrund einer gewissen technischen Reife und der Wichtigkeit ihrer Route aber große symbolische Bedeutung. Die technisch anspruchsvolle Konstruktion der Strecke war eine beachtliche Ingenieursleistung, welche die hohe, nur durch Aktienverkäufe überhaupt aufzutreibende Summe von 800.000 Pfund verschlang. Daher bemängelten zeitgenössische Kritiker, dass sich nur eine reiche Industrienation wie Großbritannien den Aufbau eines Eisenbahnnetzes überhaupt würde leisten können.[21] Vor allem aber in Anbetracht der zu erwartenden Zeit- und Kostenersparnis im Güterverkehr fanden solche Bedenken insgesamt wenig Gehör. Der Erfolg der Liverpool and Manchester Railway war ein wesentlicher Anstoß für das so genannte Eisenbahnfieber („railway mania“) der folgenden Jahrzehnte, im Zuge dessen große und dichte Eisenbahnnetzwerke in Großbritannien, aber auch darüber hinaus in Nordamerika und Kontinentaleuropa aufgebaut werden sollten.

 

Die Eisenbahnlinien der 1830er-Jahre waren zumeist noch relativ kurze, für industrielle Bedürfnisse gebaute Einzelstrecken. Gegen Ende des Jahrzehnts änderte sich das. Im Jahr 1837 wurde die 132 Kilometer lange Grand Junction Railway eröffnet, die Birmingham am Kreuzungspunkt Newton Junction mit der Liverpool and Manchester Railway verband. Ein Jahr später folgte eine Linie von London nach Birmingham. Schon in dieser frühen Phase wird der Netzwerkcharakter[22] des Verkehrssystems Eisenbahn deutlich. In den 1840er-Jahren beschleunigte sich der Ausbau des britischen Eisenbahnnetzwerkes erheblich. Gab es zu Beginn des Jahrzehnts in Großbritannien ca. 2.400 Kilometer Eisenbahnschiene so hatte sich das bis 1850 aus ca. 10.500 Kilometer mehr als vervierfacht. Durch den Railway Regulation Act brachte sich der britische Staat als regulierende Instanz ab 1840 in den Bau und Betrieb von Eisenbahnen ein. Der allergrößte Teil des benötigten Kapitals wurde allerdings durch die Gründung von Aktiengesellschaften gestellt. Das Wachstum des Netzwerks hielt auch über die 1840er-Jahre hinaus an. So gab es im Jahr 1885 in Großbritannien ca. 30.000 Schienenkilometer.

Das „Eisenbahnfieber“ erfasste nach den frühen Erfolgsprojekten in Großbritannien bald auch die Vereinigten Staaten von Amerika und Teile Kontinentaleuropas. In den USA wurde schon ein paar Monate vor der Eröffnung der Liverpool and Manchester Railway der erste Abschnitt der Strecke von Baltimore nach Ohio fertiggestellt. Bis zur Jahrhundertmitte entwickelte sich vor allem an der Ostküste ein dichtes Streckennetz, das im Jahr 1850 bereits etwa 14.000 Kilometer maß. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Netzwerk rasant ausgeweitet, so dass 1890 über 200.000 Kilometer Schiene in Betrieb waren. In den 1860er-Jahren begann man mit dem Bau einer transkontinentalen Linie, die ab 1869 die Ostküste mit Kalifornien verband. Die Eisenbahn trug in den Jahrzehnten nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg erheblich zur wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Integration der Vereinigten Staaten bei. In seiner „take off“-These behauptete der Wirtschaftswissenschaftler Walt W. Rostow, dass nur dank der Eisenbahn die Industrialisierung in den USA begann.[23] Dagegen meinte der Wirtschaftshistoriker Robert W. Fogel in einer berühmt gewordenen kontrafaktischen Studie, dass die Bedeutung der Eisenbahn in diesem Zusammenhang zwar groß, aber nicht entscheidend gewesen sei.[24]

In Kontinentaleuropa – insbesondere, aber nicht nur in den deutschen Ländern – stießen die erfolgreichen Eisenbahnprojekte in Großbritannien und den Vereinigten Staaten auf großes Interesse. Im Jahr 1835 ging die Strecke zwischen Nürnberg und Fürth, die als erste deutsche Eisenbahn gilt, in Betrieb. Eine erste Fernstrecke über ca. 120 Kilometer zwischen Leipzig und Dresden folgte zwei Jahre später. Ab den 1840er-Jahren wuchs die Länge des deutschen Eisenbahnnetzwerks sehr schnell an. Mitte des Jahrhunderts waren knapp 6.000 Bahnkilometer in Betrieb, 1885 waren es bereits etwa 40.000. Das Deutsche Reich hatte Großbritannien zu diesem Zeitpunkt in dieser Hinsicht bereits überholt. Neben der wirtschaftlichen Rolle kam dem Eisenbahnausbau in Deutschland seit jeher eine große politische Bedeutung zu, wurde die Eisenbahn doch von vielen Menschen als Mittel zur engeren Integration der deutschen Einzelstaaten gesehen. Das spiegelt sich beispielsweise in § 28 der Paulskirchenverfassung von 1849, in welchem die Eisenbahnen der Oberaufsicht der Reichsgewalt unterstellt wurden. Da die größten deutschen Staaten die Verfassung aber nicht anerkannten, wurde die verschiedenen Eisenbahnen erst 1920 zu einer Staatsbahn vereint.

Auch in Frankreich (1885: knapp 30.000 km), in der Habsburgermonarchie (1885: knapp 22.000 km) oder in Russland (1885: ca. 25.000 km, vor allem im westlichen Landesteil) entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts nennenswerte Schienennetze. In West- und Mitteleuropa war die Entwicklung der grundlegenden Netzstruktur bis etwa 1880 abgeschlossen. Für Süd- und Osteuropa, die insgesamt weniger dichte Schienennetzwerke entwickelten, kann das für etwa die Jahrhundertwende konstatiert werden.[25] Seit den 1850er-Jahren wurden auch außerhalb Europas und Nordamerikas Eisenbahnlinien nennenswerter Länge und Bedeutung gebaut. Insbesondere in den britischen Kolonien – allen voran in Britisch-Indien – wurden erhebliche Summen in den Eisenbahnbau investiert. Angesichts der schieren Größe des indischen Subkontinents spielte die Eisenbahn dort bald eine wichtige Rolle für Verwaltung und Wirtschaft. Ihre gesamtgesellschaftliche Bedeutung blieb aber deutlich hinter dem europäischen und nordamerikanischen Beispiel zurück. In China konnte sich die neue Technologie lange nicht durchsetzen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden dort erste Strecken eröffnet. Von einem Netzwerk im eigentlichen Wortsinn konnte lange nicht gesprochen werden. Auch in Lateinamerika blieb das Schienennetz im gesamten 19. Jahrhundert grobmaschig und voller Lücken. In Afrika investierten die europäischen Kolonialmächte im Zuge ihres „Wettlaufs“ um den Kontinent zum Teil erhebliche Summen in den Eisenbahnbau. Diese orientierte sich aber rein an kolonialpolitischen und -ökonomischen Interessen und blieb ebenfalls überaus lückenhaft. Dieser weltweit ungleiche Netzaufbau lässt sich auch in Zahlen veranschaulichen. Im Jahr 1880 befanden sich 38 Prozent der verlegten Schienenkilometer in Europa (ohne Russland), fünf Prozent im europäischen Teil des Zarenreichs, 45 Prozent in Nordamerika und lediglich zwölf Prozent im gesamten Rest der Welt. Bis 1913 hatte sich der außereuropäische Anteil hauptsächlich aufgrund des Schienenausbaus in Indien und Argentinien zumindest auf ca. 28 Prozent erhöht.[26]

Die Eisenbahn war im Europa und Nordamerika des 19. Jahrhunderts eine Leittechnologie, deren wirtschaftliche und soziokulturelle Auswirkungen auf ihre Trägergesellschaften erheblich waren. Die Eisenbahn wurde dort zum wichtigsten und damit auch taktgebenden Transportmittel sowohl im Personen- wie auch im Güterverkehr. Wichtig war in diesem Zusammenhang die kontinuierliche Steigerung von Transportkapazität und -geschwindigkeit bei gleichzeitigem Sinken der Transportkosten. Dies leistete im Güterverkehr unter anderem einer höheren Arbeitsteiligkeit Vorschub und machte Züge im Personenverkehr zu einem erschwinglichen Transportmittel. Darüber hinaus wurde aber vor allem die auf Planbarkeit und Abstimmung abzielende Funktionslogik der Eisenbahn gesellschaftlich prägend. Züge verkehrten schon früh nach strikten, aufeinander abgestimmten Fahrplänen, die im Personen- und Warenverkehr eine klare Taktung vorgaben und gleichzeitig die Herausbildung von richtiggehenden Transportnetzwerken möglich machten. Auch wenn dieses Prinzip bereits in der Ordinari-Post der Frühen Neuzeit vorweggenommen worden war, so setzte es sich erst mit der Eisenbahn in einem breiteren soziokulturellen Rahmen durch.

Der Eisenbahntransport konnte verlässlich und eng abstimmt in die industriellen Produktionsabläufe der Zeit eingeplant werden.[27] Immer mehr Menschen begannen nun täglich mit dem Zug zwischen Wohn- und Arbeitsort zu pendeln, zum Beispiel aus den Vororten großer Städte ins Stadtzentrum und retour (und entwickelten dabei schnell auch eine gewisse Ungeduld angesichts von verspäteten Zügen, wie der Historiker Oliver Zimmer kürzlich herausgearbeitet hat[28]). Die Post wurde über längere Landstrecken praktisch ausschließlich per Eisenbahn transportiert und konnte damit schnell und vor allem vorhersehbar zugestellt werden. Die Eisenbahn gab (gemeinsam mit anderen Institutionen der Zeit wie zum Beispiel der Fabrik) somit den Takt der Moderne vor, nachdem sich Gesellschaften und Individuen zunehmend zu richten hatten. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür findet sich in der Rolle des Eisenbahnverkehrs hinsichtlich der Herausbildung einer vereinheitlichten Zeitmessung, die gesondert in Kapitel III.4 über Standardisierungsprozesse besprochen wird. Wie bereits das Eingangsbeispiel um Henry W. Tyler und den Mont Cenis illustriert, hatten Fragen der Planbarkeit und Gleichmäßigkeit in diesem Kontext oft eine größere Bedeutung als solche der Kommunikationsgeschwindigkeit. Es ging hier vor allem um die Abstimmung einzelner Netzwerkteile und um Planungssicherheit für die involvierten Akteure. In diesem Zusammenhang ist auch der Bau so mancher infrastruktureller Großprojekte wie etwa der des Mont Cenis Tunnels in den Jahren 1857 bis 1871 zu sehen. Der ca. zwölf Kilometer lange Tunnel vereinfachte und verkürzte die Eisenbahnreise zwischen den westeuropäischen Metropolen und den italienischen Mittelmeerhäfen erheblich – vor allem aber machte er sie so vorhersehbar, dass die verschiedenen Eisenbahnen, aber auch der Umstieg auf das Dampfschiff im Hafen eng koordiniert werden konnten.

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