Mobilität und Kommunikation in der Moderne

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[5] Heßler, S. 18.

[6] Ebd., S. 17.

[7] Edgerton, From Innovation to Use.

[8] Ebd., S. 116; ders., Shock of the Old, S. 45‒47.

[9] Ders., From Innovation to Use, S. 120f.

[10] Gleitsmann, Kunze u. Oetzel, S. 36.

[11] Heßler.

[12] Bijker, S. 19‒100.

[13] Osterhammel, Verwandlung, S. 1012.

[14] Hughes, S. 54f.

3. Wirtschaftsgeschichtliche Perspektiven

Welche Bedeutung hatte die Telegrafie für die Geschichte internationaler Finanzmärkte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts? Welche Rolle spielte der Ausbau von grenzübergreifenden Transportinfrastrukturen für den globalen Handel? In welchem Ausmaß werden Transport- und Kommunikationsmittel wie beispielsweise das Automobil oder das Mobiltelefon selbst zu wichtigen globalen Handelsgütern? Die Geschichte von Mobilität und Kommunikation ist kaum losgelöst von wirtschaftshistorischen Fragestellungen zu denken.

Menschen haben verschiedenste Bedürfnisse, manche grundlegender als andere, mit deren Befriedigung sie einen Gutteil ihres Lebens beschäftigt sind. Unter dem Begriff Wirtschaft versteht man die Gesamtheit aller Einrichtungen und Aktivitäten, die in einer Gemeinschaft auf die Herstellung und Verteilung von Ressourcen zur Bedürfnisbefriedigung (üblicherweise Waren oder Dienstleistungen) zielen. Diese Begriffsdefinition mag seltsam trocken und etwas artifiziell klingen. Sie hat aber den Vorteil, ganz unmittelbar klarzumachen, dass Wirtschaft nicht nur mit Fabriken und Hochfinanz, mit Banken und globalem Handel zu tun hat, sondern der Mensch als soziales Wesen immer wirtschaftet. Ähnlich wie dies auch im vorherigen Abschnitt zur Technik deutlich wurde, ist menschliches Denken und Handeln ohne ein Grundverständnis für die jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht zu verstehen. Die Wirtschaftsgeschichte ist dementsprechend ein wichtiger, seit langem fest etablierter Bereich der Geschichtswissenschaft (wie im Übrigen auch der Wirtschaftswissenschaft), dessen Ziel es ist, die Geschichte des menschlichen Wirtschaftens zu beleuchten. Sie will in diesem Zusammenhang Entwicklungslinien, Organisationsformen und Handlungslogiken verstehen und erklären und tut dies auf ganz unterschiedlichen Ebenen: zum Beispiel mit einem Fokus auf einzelne Menschen oder kleine Gruppen von Menschen, auf der Ebene von Haushalten bzw. Erwerbsgemeinschaften, auf Unternehmensebene oder auch mit Blick auf ganze Volkswirtschaften oder sogar globale Wirtschaftszusammenhänge.

In der Geschichtswissenschaft sind wirtschaftshistorische Fragestellungen seit etwa Ende des 19. Jahrhunderts wichtig geworden. Die entscheidenden Impulse kamen vor allem aus der Volkswirtschaftslehre. Insbesondere im Deutschen Bund beschäftigte sich seit Mitte des Jahrhunderts die Historische Schule der Nationalökonomie mit der Wirtschaftsgeschichte. Ihre Anhänger um Wilhelm G. Roscher (1817–1894) oder in späteren Jahren Gustav von Schmoller (1838–1917) waren davon überzeugt, dass zur Lösung aktueller wirtschaftlicher Probleme – wie zum Beispiel der so genannten „sozialen Frage“ – ein Studium der Geschichte der Wirtschaft wichtige Parameter liefern würde. Erklärtes Ziel war es, aus empirisch erhobenen historischen Daten induktiv ökonomische Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, denen man zwar nicht universelle Gültigkeit zusprach, aber an denen man sich in ähnlichen aktuellen Lagen zumindest orientieren konnte. Je mehr sich die Geschichtswissenschaft zur Jahrhundertwende und in den Folgejahrzehnten weg von einer reinen politischen Geschichte hin zu einer breiteren Gesellschaftsgeschichte entwickelte, desto gefragter wurde solche ökonomisch-historischen Ansätze auch im Fach selbst.[15] Im Deutschen Reich erfolgten in dieser Zeit die ersten Zeitschriftengründungen, die explizit die Wirtschaftsgeschichte im Namen trugen. Der wohl wesentlichste Impuls für den Ansatz kam aber nach dem Ersten Weltkrieg aus Frankreich. Marc Bloch (1886–1944) und Lucien Febvre (1878–1956) legten dort in den 1920er-Jahren die wissenschaftlichen Fundamente für die so genannte Schule der Annales . Diese wandte sich ganz explizit der Untersuchung sozialer und ökonomischer Fragestellungen in der Geschichte zu, erschloss dazu neues, quantitatives Quellenmaterial und entwickelte neue Methoden zu dessen Auswertung. Die Annales legten in diesem Zusammenhang besonderes Augenmerk auf langfristige Entwicklungen und die Herausbildung langlebiger Strukturen. Ihre Fragestellungen und Gewichtungen spielen in der Geschichtswissenschaft bis heute eine große Rolle.

In den 1950er- und 1960er-Jahren entstand zunächst in den Vereinigten Staaten von Amerika die so genannte New Economic History , die in der deutschsprachigen Wissenschaft vor allem als Kliometrie bekannt wurde. Zentrales Merkmal dieses neuen wirtschaftshistorischen Zugangs war es, ökonomische Theorien und Methoden auch auf historisches Material anzuwenden. Dazu musste das erhobene historische Datenmaterial besonders dicht sein. Bekannte Vertreter dieser Forschungsrichtung, die sich ab ca. den 1970er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum etablierte, waren etwa die US-amerikanischen Ökonomen Robert W. Fogel (1926–2013) und Douglass C. North (1920–2015), die für ihre einschlägigen Arbeiten im Jahr 1993 gemeinsam mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurden. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Wirtschaftsgeschichte zunehmend Impulse aus der so genannten Neuen Institutionenökonomik – einer volkswirtschaftlichen Theorie, die vor allem die Rolle institutioneller Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln betont und untersucht – und aus der Kulturgeschichte aufgenommen. Fragen der kulturellen Prägung wirtschaftlichen Handelns spielen nun zunehmend eine Rolle. Mit dieser Aufnahme kulturhistorischer Ansätze, die auch in der Neuen Institutionenökonomik mit angelegt ist, hat sich auch der traditionell starke Fokus der Wirtschaftsgeschichte auf die Entstehung moderner Wirtschaftssysteme geweitet. Während das Fach lange einen Schwerpunkt auf die Untersuchung der wirtschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen beispielsweise der Industriellen Revolution gelegt hat, erfahren mittlerweile verschiedenste Formen des Wirtschaftens in den unterschiedlichsten Zeiten und Räumen analytische Aufmerksamkeit.

Wirtschaftsgeschichte wird oft in Kombination mit Sozialgeschichte genannt, zum Beispiel in der Benennung von Lehrstühlen oder Fachbereichen. Sozialgeschichte im ursprünglichen Sinn bezeichnet die historiografische Untersuchung ganzer Gesellschaften und ihrer Organisation oft mit einem speziellen Fokus auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und ihr Verhältnis zueinander. In den 1950er-Jahren entstand in Deutschland um die Historiker Otto Brunner (1898–1982) und Werner Conze (1910–1986) eine neue Ausprägung der Sozialgeschichte, der es hauptsächlich um die Analyse langlebiger Strukturen gesellschaftlicher Organisation ging, wie das in weniger expliziter Form auch in den Annales angelegt war. Die Analyse wirtschaftlicher Strukturen spielte dabei eine zentrale Rolle.

Über dieses Interesse an gesellschaftlichen Strukturen, das sowohl der Wirtschafts- wie auch der Sozialgeschichte zu eigen ist, wird bereits einer von mehreren direkten Bezügen zur Mobilitätsgeschichte deutlich. Mobilität und Kommunikation sind Aktivitäten, die – wenn sie in einem größeren Zusammenhang stattfinden – im Normalfall auf eine stützende Infrastruktur angewiesen sind, etwa auf ein Straßennetz, auf Telegrafenkabel oder Schienenwege, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Infrastrukturen sind für die Strukturgeschichte von großem Interesse, da sie ganz eigene Funktions- und Entwicklungslogiken an den Tag legen.[16] Als üblicherweise große und teure Gebilde wohnt ihnen eine gewisse Trägheit und Persistenz inne, da die Amortisation der Investitionskosten häufig einen langfristigen Einsatz nötig macht und Dynamik behindert. Ein Beispiel dafür ist das in Frankreich mit ca. einem Jahrzehnt Verzögerung einsetzende Aufkommen der elektrischen Telegrafie. Frankreich verfügte als einziges europäisches Land über ein optisches Telegrafennetzwerk nennenswerter Größe, dessen hohe Baukosten einen Anreiz zur langfristigen Nutzung boten und den Einsatz neuere Kommunikationstechnologien verzögerten. Das Studium von Transport- und Kommunikationsnetzwerken ist daher für strukturgeschichtliche Ansätze wie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte überaus ertragreich.

Aber auch über diese spezifischen strukturellen Interessen hinaus hat die Wirtschaftsgeschichte einen stark ausgeprägten Bezug zu Fragen der Mobilität und der Kommunikation. Volkswirtschaften können ohne den Transport von Waren, der Bewegung erwerbstätiger Menschen oder der Kommunikation von Preisen oder anderen ökonomisch relevanten Informationen nicht funktionieren und ohne deren Untersuchung nicht adäquat interpretiert werden. Das wurde schon in den Arbeiten vieler Vertreter der erwähnten Historischen Schule der Nationalökonomie deutlich. Einer ihrer frühen Adepten war der deutsche Ökonom Karl Knies (1821–1898), der sich in seinen Schriften bereits in den 1850er-Jahren mit der Eisenbahn und dem Telegrafen auseinandersetzte.[17] Auch Werner Sombart (1863–1941), der zumindest in einigen Punkten der jüngeren Historischen Schule nahestand, legte Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem dreibändigen Werk über den Kapitalismus großen Wert auf die wirtschaftliche Bedeutung neuer Transport- und Kommunikationstechnologien.[18]

 

Dieses grundlegende Interesse an der Bewegung von Waren, Menschen und Information blieb der Wirtschaftsgeschichte bis in die Gegenwart erhalten. Es gibt dabei eine Vielzahl untersuchter Fragestellungen. So fragen viele Studien ob „Transportinnovationen Antriebskräfte der Industrialisierung [sind] oder deren Folge“.[19] Welche ökonomischen Auswirkungen entfaltete der Einsatz neuer Transport- und Kommunikationstechnologien? Eine konkrete Problemstellung kann in dieser Hinsicht sein, wie sich sinkende Transportkosten auf Prozesse der Arbeitsteilung in der Warenherstellung niedergeschlagen haben. Umgekehrt wird aber zum Beispiel auch danach gefragt, welche sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen besonders innovationsfreundlich sind, oder danach, welche Rollen private und staatliche Akteure in der Unterhaltung von Verkehrs- und Kommunikationsinfrastrukturen als öffentliches Gut gespielt haben. Diese Liste produktiver Fragestellungen und Zugänge lässt sich beliebig erweitern.

Ein wichtiges Werk zur Mobilitätsgeschichte stammt aus der Feder des britischen Historikers Philip Bagwell. Schon der Titel seines erstmals 1974 erschienenen Buches „The Transport Revolution from 1770“ verrät, dass Bagwell in den verkehrs- und kommunikationstechnischen Entwicklungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert große soziale und wirtschaftliche Umwälzungen angelegt gesehen hat. Seine umfassende Studie konzentriert sich auf die Entwicklungen in Großbritannien und betont neben den üblichen Untersuchungsgegenständen des Straßen- und Kanalbaus, der Eisenbahn und des motorisierten Straßenverkehrs vor allem auch die Rolle der Küstenschifffahrt. Bagwell betrachtete die einzelnen Verkehrsmittel in ihrem Zusammenspiel und fragte vor allem nach ihren Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum Großbritanniens. Interessanterweise wandte er sich in Einleitung und Schluss seines Buches an die Verkehrsplaner seiner Zeit. Bagwell ermahnte diese, dass Fortschritte im Transportwesen nur dann der Öffentlichkeit zugutekämen (zum Beispiel in der Form wirtschaftlichen Wachstums), wenn in der Verkehrsplanung ein praktischer Erfindergeist mit staatsmännischer Klugheit zusammengeführt werde.[20]

Ebenfalls in einem nationalen Rahmen führte der bereits erwähnte Robert Fogel seine zehn Jahre ältere Studie zur wirtschaftlichen Bedeutung des amerikanischen Eisenbahnsystems durch. Während Bagwell einen integrierten Blick auf das britische Transportsystem und dessen wirtschaftliche Bedeutung warf, kehrte Fogel in seiner vieldiskutierten Untersuchung „Railroads and American Economic Growth“ die Blickrichtung um. Bisher hatte kaum ein Wirtschaftshistoriker Zweifel an der grundlegenden ökonomischen Bedeutung der Eisenbahnen in den Vereinigten Staaten des späten 19. Jahrhunderts geäußert. Fogel stellte in zwei von vier Abschnitten seines Buches nun eine kontrafaktische Überlegung an: Wie hätte sich die Wirtschaft entwickelt, hätte es keine Eisenbahn gegeben? Er kam in seiner kliometrischen Untersuchung unter Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Theorien zu dem Schluss, dass die Eisenbahn natürlich sehr wichtig für die amerikanische Wirtschaft war, aber nicht unersetzlich. Seinen Berechnungen zufolge hätten andere Verkehrsformen wie zum Beispiel der Kanaltransport die Lücke gefüllt und zu einem etwas verzögerten, aber vergleichbaren Wachstum geführt.[21] Fogels Studie erfuhr aufgrund ihrer neuen Methoden, dichten Datenbasis und radikalen Ergebnisse große Beachtung. Sie wurde aber auch mit dem Argument substantiell kritisiert, dass Fogel sein kontrafaktisches Gedankenexperiment auf falschen Grundannahmen aufgebaut hätte oder seine ökonometrischen Überlegungen der energetischen Leistungsfähigkeit der alternativen Transporttechnologien nicht gerecht würden.[22] In jedem Fall kann sie als anschauliches Beispiel für einsichtsreiche wirtschaftshistorische Fragestellungen im Bereich der Mobilität und Kommunikation dienen.

Schließlich lohnt der Blick in eine etwas jüngere Studie der Kanadier Dwayne Winseck und Robert Pike. Der Kommunikationswissenschaftler Winseck und der Soziologe Pike untersuchen darin die Entstehung und Bedeutung eines – in ihren Worten – „global media system“ seit den 1860er-Jahren. Mit diesem globalen Mediensystem ist das Zusammenspiel einer weltweiten telegrafischen Kommunikationsinfrastruktur mit neuen Mechanismen der Informationsbeschaffung und -verteilung, zum Beispiel durch Nachrichtenagenturen, gemeint. Die Autoren können dabei zeigen, dass Aufbau und Funktion dieses Systems weit weniger stark von den Interessen der Imperialmächte geprägt wurden als bisher angenommen. Vielmehr spielten die unternehmerischen Überlegungen großer Kommunikationskartelle eine wesentliche Rolle. In einem größeren Zusammenhang untersuchen Winseck und Pike in ihrer Studie zum einen, wie die weltweite Ausbreitung kapitalistischen Wirtschaftens sich auf die Entstehung dieses Mediensystems auswirkte und welche Bedeutung umgekehrt globale Informationsflüsse auf den Finanz- und Handelssektor hatten. Quantitatives Material spielt in dieser Studie insgesamt eine untergeordnete Rolle.[23]

Wirtschaftshistorische Erkenntnisinteressen spielen in vielen Betrachtungen der Geschichte der Mobilität nach wie vor eine wichtige Rolle – ob vorder- oder hintergründig. Angesichts der grundlegenden Bedeutung der Bewegung von Waren, Menschen und Informationen für die wirtschaftliche Entwicklung ist dies dem Gegenstand nur angemessen und sollte auch in Zeiten einer anhaltenden kulturwissenschaftlichen Konjunktur immer mitgedacht werden.

[15] Buchheim, S. 8.

[16] Van Laak.

[17] Knies, Eisenbahnen; ders., Telegraph.

[18] Sombart.

[19] Winiwarter u. Knoll, S. 230.

[20] Bagwell, S. 12.

[21] Fogel.

[22] Winiwarter u. Knoll, S. 231f.

[23] Winseck u. Pike.

4. Kulturgeschichtliche Perspektiven

Das Automobil bewegt nicht nur im räumlichen, sondern auch im emotionalen Sinn. Es ist Fortbewegungsmittel ebenso wie kulturelles Symbol, dessen Bedeutung zentral vom jeweiligen Interpretationskontext abhängt. Verspricht es den einen Status und Freiheit, so steht es für andere für Bequemlichkeit und Umweltzerstörung. Nicht weniger gegensätzlich ist der zeitgenössische Diskurs über das Mobiltelefon, das für manche eine vernetzungstechnische Verheißung, für andere eine schlichte Zumutung darstellt. Die Geschichte von Mobilität und Kommunikation ist geprägt von solchen Bedeutungszuweisungen und -veränderungen. Ihnen spürt die Kulturgeschichte nach.

Was Kulturgeschichte ist und wonach sie fragt, hängt zuallererst vom zugrunde liegenden Begriffsverständnis ab. In der Umgangssprache schwang im Begriff der Kultur lange Zeit fast automatisch die so genannte Hochkultur mit. Mit der Verwendung des Wortes verwies man zumeist auf künstlerische Erzeugnisse oder Aktivitäten, denen eine Gesellschaft hohe Qualität und damit große Bedeutung attestierte und die damit den Status eines Kulturgutes innehatten. Dieses enge Begriffsverständnis ist auch in der Umgangssprache mittlerweile weitgehend einem breiteren Gebrauch gewichen. Wie der britische Historiker Peter Burke festhält, sprechen wir heute in ganz alltäglichen Zusammenhängen von Kultur, etwa von „Jugendkultur“, einer „Kultur der Angst“ oder einer „Unternehmenskultur“, um nur einige seiner Beispiele zu nennen.[24] Der wissenschaftliche Gebrauch des Kulturbegriffs hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ebenfalls grundlegend erweitert. Allerdings geht hier im Zuge der so genannten „kulturellen Wende“ (cultural turn ) die Begriffserweiterung nicht in die Breite und versucht, mehr Gegenstände zu fassen. Vielmehr geht es hier um eine neue Beobachtungsweise, die sich prinzipiell auf jeden Gegenstand anwenden lässt.[25]

Die etymologischen Wurzeln des Wortes Kultur liegen im lateinischen colere bzw. im abgeleiteten Substantiv cultura. Ursprünglich bezeichnete das Verb colere das Bestellen und Bewirtschaften von Land. Diese Wortbedeutung lebt bis heute in der Rede von der Agrikultur fort. Der Begriff wurde aber bald erweitert und auch für pflegende Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft verwendet. Der Historiker Achim Landwehr nennt als Beispiele die Pflege der Wissenschaften und der Künste oder die Verehrung von Gottheiten. So entwickelte sich laut Landwehr ein engerer Kulturbegriff, der bestimmte Lebensbereiche wie etwa die Kunst, die Wissenschaft oder auch die Religion von anderen Bereichen wie der Politik, der Wirtschaft oder dem Recht abtrennte und als Kultur definierte.[26] Mit einem solchen natürlich immer wieder leicht veränderten und erweiterten Kulturbegriff hat sich auch die Geschichtswissenschaft schon früh auseinandergesetzt. Burke sieht die Anfänge einer solchen Kulturgeschichtsschreibung um 1800 und spricht zunächst von einer klassischen Phase der Kulturgeschichte, die bis weit ins 20. Jahrhundert gereicht habe und von Historikern wie Jacob Burckhardt (1818–1897) oder Johan Huizinga (1872–1945) geprägt gewesen sei. Das Ziel etwa der Arbeiten von Burckhardt oder Huizinga sei es gewesen, umfassende „Porträts einer Zeit“ zu erschaffen. Eine solche Kulturgeschichte habe verschiedenste künstlerische Ausdrucksformen in Verbindung gebracht und so den spezifischen Geist einer Epoche spürbar machen wollen. Burke sieht eine zweite Phase kulturgeschichtlichen Arbeitens in einer „Sozialgeschichte der Kunst“, die für ihn um 1930 beginnt. Hier sei es vor allem um das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft gegangen, also beispielsweise um die Frage, ob sich gesellschaftliche Entwicklungen in kulturellen Erzeugnissen spiegeln. In einer dritten Phase habe nach Burke eine Wendung hin zur populären Kultur stattgefunden. Die Kulturgeschichte habe nun vermehrt der Bedeutung der so genannten Volkskultur in historischen Entwicklungen nachgespürt. Burke nennt die britischen Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012), der unter einem Pseudonym im Jahr 1959 eine Studie zur Jazzmusik und ihrer soziopolitischen Bedeutung vorlegte,[27] und Edward P. Thompson (1924–1993) mit seinem berühmten Buch zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse[28] als wichtige Vertreter.[29] Während der Kulturbegriff in diesen drei groben Phasen immer wieder unterschiedlich interpretiert und erweitert wurde, blieb er aber immer auf bestimmte Lebensbereiche gerichtet.

Eine vierte Phase stellt für Peter Burke die so genannte Neue Kulturgeschichte dar, die hinsichtlich ihrer bevorzugten Gegenstände mitunter auf die genannten Vorarbeiten aufsetzt, deren Kern aber eigentlich in einer neuen Sichtweise auf ihren Forschungsgegenstand besteht. Diese Form der Kulturgeschichte, die viele heutige Forschungsansätze informiert, hat ihre wesentlichen Impulse aus der so genannten „linguistischen“ (linguistic turn ) und der darauffolgenden „kulturellen Wende“ (cultural turn ), die im Prinzip eine Erweiterung ersterer darstellt, erhalten. Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben sich Wissenschaftler in den verschiedensten Fachgebieten mit der Frage beschäftigt, wie Sprache unser Bild von der Welt bestimmt und letztlich den Menschen definiert. Solche vom Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951), dem Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913) und vielen anderen formulierten Gedanken verfestigten sich schließlich zur größeren These, dass eine Realität außerhalb der Sprache schlicht nicht vorstellbar und damit auch nicht zu erforschen ist. Im Zuge des cultural turn wurde diese These von der Sprache auf jede Art von Bedeutungszuschreibung ausgeweitet. Eine von solchen kulturellen Zuschreibungen losgelöste Realität, falls es sie überhaupt gäbe, wäre aus dieser Sicht weder für den Menschen im alltäglichen Leben noch für die Wissenschaft erschließbar. Sinnstiftung und damit auch Lebensrealitäten entstünden durch Bedeutungszuschreibung. Damit wandelte sich auch die Reichweite des Kulturbegriffs. So wie sich Ethnologie und Anthropologie zu Leitwissenschaften entwickelten, so wurde eine Definition des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz (1926–2006) für das neue Verständnis von Kultur prägend. Nach einem berühmt gewordenen Satz von Geertz sei Kultur ein Bedeutungsgewebe, das der Mensch selbst gesponnen habe.[30]

 

Aus diesen Einsichten, die heute in den Geisteswissenschaften zumindest in ihren Kernannahmen weitgehend konsensfähig sind, ergeben sich für die Kulturgeschichte weitreichende Konsequenzen. Achim Landwehr sieht nach der Erweiterung des landwirtschaftlichen Referenzrahmens auf andere Lebensbereiche eine „abermalige Übertragungsleistung“ und eine Weitung des Kulturbegriffs, der nun nicht mehr einen bestimmten Lebensbereich, sondern „das Ganze menschlichen Lebens“ umfasst. In Landwehrs Worten eröffnet Kultur „damit keine Sektoral-, sondern eine Totalperspektive, es ist kein Teil-, sondern ein Integrationsbegriff.“[31] Will die Geschichte menschliches Handeln in der Welt erklären und verstehen, so muss sie aus kulturgeschichtlicher Warte das vom Menschen selbst gesponnene Bedeutungsgewebe betrachten oder – in einer gemäßigteren Variante – zumindest mitbetrachten. Kultur ist aus dieser Sicht eben kein von Politik und Gesellschaft trennbarer Teilbereich menschlichen Tuns, sondern die Grundlage jeder Weltbeschreibung. Demnach ist die Kulturgeschichte auch keine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, sondern hat den Anspruch, die Historiografie insgesamt auf eine andere Grundlage zu stellen.[32]

Ute Daniel verzichtet in ihrem eloquenten „Kompendium Kulturgeschichte“ konsequent auf eine Definition von Kultur und Kulturgeschichte. Sie schreibt: „Kultur(geschichte) definieren zu wollen, ist Ausdruck des Anspruchs, trennen zu können zwischen dem, was Gegenstand von Kultur(geschichte) ist und was nicht. Ich kann mir jedoch keinen Gegenstand vorstellen, der nicht kulturgeschichtlich analysierbar wäre.“[33] Das schließt auch den Gegenstand der Mobilität (unter expliziter Einbeziehung der Kommunikation) ein, mit dem sich die Kulturgeschichte lange und intensiv beschäftigt hat. Dieses Interesse an der Bewegung von Menschen, Waren und Informationen ist auch deshalb nicht überraschend, da die Kulturgeschichte zumindest auf zwei unterschiedlichen Ebenen enge Bezüge zum Thema unterhält. Da ist einmal ihr oben skizziertes Interesse an der Bedeutung, die Menschen verschiedenen Elementen der Wirklichkeit, zu der auch die Mobilität und ihre Mittel gehören, geben. Aus dieser Sicht geht es in einer kulturhistorischen Betrachtung von Verkehr und Kommunikation zum Beispiel um die Wahrnehmung und Darstellung des Unterwegs-Seins oder von Transporttechnologien in einer Gesellschaft. Wie wurden mobile Menschen gesehen? Welche Attribute schrieb man ihnen zu? Wie wurden Technologien wie die Eisenbahn oder das Dampfschiff zu Symbolen von Fortschritt oder Völkerverständigung? Diese etwas vereinfachten Fragestellungen verweisen auf oft verfolgte kulturhistorische Erkenntnisinteressen im Bereich der Mobilität.

Darüber hinaus gibt es noch eine andere Ebene, auf der Mobilität aus kulturhistorischer Sicht hochrelevant ist. Gemeint ist die Frage, wie die Bewegung von Menschen, Waren und Informationen sich selbst auf Prozesse der Bedeutungszuschreibung und Sinnstiftung, die grundlegend auf Austausch und Kommunikation basieren, auswirkt. Wie also verändert die Tatsache, dass Menschen reisen, Waren ausgetauscht und Informationen übermittelt werden, die Bedeutungen, die bestimmte Erscheinungen in bestimmten Kulturen haben? Auch auf dieser Ebene kann man zumindest zwei unterschiedliche Fragenkomplexe erkennen. Einer dreht sich um Bedeutungsveränderungen, die im Wesentlichen aus Kulturkontakt resultieren, der wiederum durch Mobilität entsteht. Eine solche transkulturelle Perspektive will demnach wissen, wie sich unterschiedliche Bedeutungsgewebe im Kontakt miteinander verändern und neue Bedeutungen hervorbringen. Hier ist in vielerlei Hinsicht eine große Nähe zu globalgeschichtlichen Erkenntnisinteressen, die im nächsten Abschnitt vorgestellt werden, gegeben. Ein zweiter Fragenkomplex interessiert sich aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive dafür, wie die Bewegung bzw. die Kommunikation über bestimmte Mittel sich auf die Erzeugung von Bedeutung auswirkt, also wie bestimmte Eigenschaften eines Mediums sich kulturell niederschlagen. Ein Beispiel kann die Kommunikation per Telegraf sein, die aufgrund technosozialer Bedingungen kurze, prägnante Inhalte privilegierte und sich so natürlich auf die Wahrnehmungen der Korrespondenten auswirkte.

Die Kulturgeschichte blickt also mit vielen ganz unterschiedlichen Erkenntnisinteressen auf Mobilität und Kommunikation. Ein exzellentes Beispiel für den frischen Blick der Kulturgeschichte auf das Transportwesen findet sich in Wolfgang Schivelbuschs Studie zur „Geschichte der Eisenbahnreise“, die erstmal 1977 veröffentlich wurde. Es ist kein Zufall, dass Schivelbusch im Titel seines schnell berühmt gewordenen Buches nicht von der Eisenbahn, sondern von der Reise mit selbiger spricht. Er spürt in seiner Untersuchung der neuen Reiseerfahrung nach, den durch diese Art der Fortbewegung veränderten Wahrnehmungen von Raum und Zeit. Schivelbusch zeigt in eindrucksvollen Formulierungen, wie sich der Blick des Reisenden aus der Bahn heraus auf die Landschaft wandelte. Er nennt dies mit dem der Kulturgeschichte eigenen Hang zum Prägen neuer Begriffe „panoramatisches Reisen“. Er untersucht aber auch wie die Eisenbahn zum Symbol und Inbegriff schnellen, bequemen und sicheren Reisens wurde – und wie diese Bedeutungszuschreibung durch Unfälle und Katastrophen kontrastiert wurde. Die mittlerweile mehr als vierzig Jahre alte Studie ist hervorragend gealtert und zieht mit ihren grundlegenden Fragen und ihrer fesselnden Prosa bis heute Leser in ihren Bann.[34]

Die Eisenbahn als Transportmittel spielt auch in Hartmut Rosas „Beschleunigung“ eine indirekte Rolle – als Symbol, als Verkörperung der „großen Beschleunigung“[35] in der Moderne. Der Soziologe Rosa hat mit seiner 2005 erschienenen Habilitationsschrift eine auch geschichtswissenschaftlich hochrelevante Arbeit vorgelegt, die – wie der Untertitel besagt – den Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne nachspürt. Die neuen technischen Bedingungen von Transport und Kommunikation sowie die sich verändernden Mobilitätspraktiken bilden in ihrem Zusammenspiel die Grundlage für das von Rosa untersuchte Phänomen der sozialen Beschleunigung. Weder die Kulturgeschichte noch die Mobilität stehen begrifflich im Vordergrund und doch durchziehen sie wie ein roter Faden das eigentlich soziologische Gewebe dieser lesenswerten Studie.[36]

Bernhard Rieger und Dagmar Bellmann beschäftigen sich in ihren jeweiligen Arbeiten wiederum mit dem Dampfschiff als zentralem Symbol der Moderne und den verschiedenen Funktionen und Erwartungen, die mit ihm verbunden waren. Rieger thematisiert in „Technology and Culture of Modernity in Britain and Germany 1890–1945“ mehrere symbolträchtige Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, darunter eben auch die „schwimmenden Paläste“. Er fragt dabei vor allem danach, wie immer größere und prächtiger ausgestattete Dampfer zu „modernen Wundern“, zu Symbolen des Fortschritts, aber auch nationalen Stolzes wurden.[37] Bellmann nimmt den Topos der schwimmenden Paläste im Titel ihres Buches auf, fügt aber noch den Gegenbegriff des Höllengefährts hinzu. Sie konstatiert am Beispiel der Atlantiküberquerungen in ihrem Beobachtungszeitraum einen Wandel in der Wahrnehmung der Dampfschifffahrt von etwas Unbequemen und Gefährlichem zu etwas Luxuriösem, Sicherem.[38]

Schon anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, welche wertvollen neuen Sichtweisen und Blickwinkel die jüngere Kulturgeschichte einer traditionell eher technik- und wirtschaftshistorisch inspirierten Beschäftigung mit Mobilität eröffnet haben. Die Globalgeschichte wiederum baut auf vielen kulturgeschichtlichen Erkenntnissen, zum Beispiel im Bereich der transkulturellen Geschichte[39], auf und stellt entsprechend abgewandelte Fragen an den Gegenstand.