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Verbindungen und Nicht-Verbindungen

Die Reaktionen der Leserschaft fielen ganz unterschiedlich aus. Fast unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten großartigen Entdeckungen äußerten viele Medien auf unterschiedliche Weise ihren Unglauben. Manche wie etwa das Journal of Commerce zeigten sich in ihren Artikeln skeptisch, dass der Bericht der Wahrheit entsprechen könne, und vermuteten eine Fälschung. Der Transcript, ein mit der Sun konkurrierendes penny paper, begegnete den lunaren Entdeckungen auf satirische Weise und wartete mit zusätzlichen Informationen von einem eigenen Korrespondenten auf. Diese waren bewusst so abstrus, dass der eigentliche Bericht der Sun damit ins Lächerliche gezogen wurde.42 Niemand aber wandte sich so offensiv gegen die Artikel wie Bennetts New York Herald. Bereits am 31. August – dem Tag, an dem in der Sun die letzte Folge erschien – veröffentlichte Bennett auf der Titelseite des Herald einen bissigen Text mit dem Titel The Astronomical Hoax Explained. Darin sagte er deutlich und in der ihm eigenen Direktheit, dass es sich um einen Schwindel handeln musste. Zudem brachte er, wie bereits erwähnt, Richard Adams Locke als Autor der Geschichte ins Spiel, und verbreitete allerlei Halbwahrheiten über dessen Lebenslauf. Lockes erzählerisches Können aber schien Bennett zu bewundern: „Mr. Locke, however, deserves great credit for his ingenuity – his learning – and his irresistible drollery. He is an original genius [.]“43 Locke antwortete in einem offenen Brief auf Bennetts Enthüllungen und wollte seine Autorenschaft partout nicht einräumen. Spitzfindig behauptete Locke: „[…] I did not make those discoveries.“44 Lockes Weigerung, die Fälschung offen zuzugeben, verärgerte Bennett und ließ ihn in den nächsten Tagen viele weitere Angriffe gegen die Sun fahren, die aber von der New Yorker Öffentlichkeit kaum aufgenommen wurden. Selbst unter jenen, die an der Glaubhaftigkeit der Geschichte zweifelten, wollte sich kein Ärger breit machen. Laut Mario Castagnaro wären viele Leser und Journalisten dem Wahrheitsgehalt der Beobachtungen indifferent gegenübergestanden und der Meinung gewesen: „wonderful if true, entertaining if not.“45 Das mag auch erklären, warum eine große Anzahl von Zeitungen auf den Zug mitaufsprang und die Mondgeschichte ebenfalls abdruckte. Asa Greene, der damalige Redakteur des Transcript, veröffentlichte zwei Jahre später einen Reiseführer für die Stadt New York und sprach darin unter anderem auch über den Mondschwindel:

All New York rang with the wonderful discoveries of Sir John Herschell [sic]. Every body read the Sun, and every body commented on its surprising contents. There were, indeed, a few sceptics; but to venture to express a doubt of the genuineness of the great lunar discoveries, was considered almost as heinous a sin as to question the truth of revelation.

Nor was it only among the populace in general, that the moon story was believed. Certain of the sixpenny editors also gave into it, and copied the account, with flaming notices of the very wonderful and important discoveries of Sir John Herschell at the Cape of Good Hope. The papers in this city, which were thus caught, were the Daily Advertiser and the Mercantile Advertiser. The Daily Advertiser of Newark, and the Daily Gazette of Albany, were also among the ready believers of the great discoveries. How many papers, in other places, swallowed the hoax, we do not know. Most of the editors, we believe, prudently kept their minds suspended as to the truth or falsehood of the account; though most of them copied it, as a capital story, whether it should turn out true or false.46

Greene sah also zum einen ebenso die pragmatische Indifferenz gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Geschichte, wies aber durchaus auch auf die große Zahl jener hin, die die Entdeckungen für bare Münze nahmen. Edgar Allan Poe war in dieser Hinsicht in seinem bereits erwähnten Beitrag über Richard Adams Locke noch deutlicher. Er schrieb zurückblickend:

Not one person in ten discredited it, and (strangest point of all!) the doubters were chiefly those who doubted without being able to say why – the ignorant, those uninformed in astronomy, people who would not believe because the thing was so novel, so entirely „out of the usual way.“ A grave professor of mathematics in a Virginian college told me seriously that he had no doubt of the truth of the whole affair! The great effect wrought upon the public mind is referable, first, to the novelty of the idea; secondly, to the fancy-exciting and reason-repressing character of the alleged discoveries; thirdly, to the consummate tact with which the deception was brought forth; fourthly, to the exquisite vraisemblance of the narration.47

Beide beobachteten Reaktionen – also der Glaube an die Echtheit der Entdeckung ebenso wie die relative diesbezügliche Gleichgültigkeit – brauchten die Möglichkeit der Authentizität. Das heißt, der Bericht musste zumindest ein gewisses Maß an Glaubhaftigkeit besitzen, um Glauben einerseits und Unterhaltung andererseits zu speisen. Poe identifizierte in obigem Zitat vier hauptsächliche Faktoren, die seiner Meinung nach zur Glaubhaftigkeit des Mondschwindels beigetragen hatten. Neben ihrer Neuartigkeit und der Art und Weise, wie die Geschichte die Fantasie der Menschen beflügelte, nannte er unter anderem auch den „consummate tact“, also grob übersetzt die exzellente Dramaturgie hinter der Täuschung. Entscheidend war aber wohl Poes vierter Aspekt der vraisemblance der Erzählung. Anschließend an ein literarisches Konzept aus dem französischen Klassizismus konstatierte Poe dem Mondschwindel damit ein hohes Maß an Plausibilität und Wahrscheinlichkeit. Der Bericht fügte sich möglichst nahtlos in eine bereits bestehende Wissens- und Erwartungslandschaft ein. Das zeigen viele zeitgenössische Einschätzungen des Texts, so zum Beispiel auch ein anonymer Leserbrief an eine Stralsunder Zeitschrift, die zuvor Auszüge der Beobachtungen in Übersetzung abgedruckt hatte:

Was nämlich den allgemeinen Charakter der Berichte betrifft, von dem deutschen Uebersetzer an bis zu dem angeblichen Beobachter selbst, so können wir nicht anders urtheilen, als daß das, was einen Bericht aus der Wahrnehmung bekundet, in ihnen durchaus überwiegend sey, gegen das, was einen Bericht aus der Phantasie verräth.48

Es stellt sich nun die Frage, welcher Mittel sich Richard Adams Locke bediente, um seinem Fantasietext vraisemblance zu geben und ihn damit als „Bericht aus der Wahrnehmung“ erscheinen zu lassen. Es wird sich zeigen, dass neben seinem erzählerischen Können und seinen naturwissenschaftlichen Kenntnissen vor allem sein geschicktes Spiel mit globalen Verbindungen und Nicht-Verbindungen eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spielte.

Die jüngere Forschung zur Geschichte der Schifffahrt hat überzeugend dargelegt, dass Ozeane in der Menschheitsgeschichte nicht nur trennende, sondern immer auch verbindende Elemente waren.49 Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „atlantische Welt“, in der große Teile Europas, Nordamerikas und der Karibik zusammenkommen.50 Zwischen diesen Regionen herrschte seit der intensivierten kolonialen Erschließung Nordamerikas ein reger Austausch von Menschen, Waren und Informationen – unter anderem auch im Bereich der Wissenschaft. So war Sir John Herschel (ebenso wie sein Vater William) für den gebildeten New Yorker des frühen 19. Jahrhunderts kein Unbekannter. Der Engländer Herschel galt auch in Nordamerika als einer der bedeutendsten Wissenschaftler der Zeit. Man war über seine im November 1833 begonnene Reise nach Südafrika, wo er Beobachtungen des südlichen Himmels vornehmen wollte, gut im Bilde. Selbst im verhältnismäßig provinziellen Cincinnati berichtete ein einschlägiges Blatt im April 1834 (also mit ca. 5 Monaten Verzögerung) über Herschels Abfahrt zum Kap:

The long projected voyage of sir John Herschel to the southern hemisphere is at length proceeded in. […] To the learned of all countries, the voyage of our astronomer may be regarded as an event of unusual interest[.]51

Auch Herschels Werke waren in Amerika zumindest unter den gebildeten und einschlägig Interessierten bekannt. So hatte nicht nur Richard Adams Locke Herschels A Treatise on Astronomy kurz nach dessen Erscheinen in den USA im Jahr 1834 gelesen. Auch Edgar Allan Poe war bestens mit Herschels Einsichten vertraut – so vertraut, dass seine Geschichte Hans Phaall – A Tale in vielen Passagen ganz deutlich auf Herschels Text aufbaute.52 Ähnliches galt für die Person und das Werk David Brewsters, der im einleitenden Abschnitt des Mondschwindels als Kronzeuge für die Verbesserung von Herschels Teleskop herhalten musste. Brewster war ein berühmter schottischer Physiker, der sich vor allem auf dem Gebiet der Optik einen Namen gemacht hatte.53 Zu seinen bekanntesten Arbeiten gehörte die Wiederentdeckung des Kaleidoskops ebenso wie das sogenannte „Stereoskop“. Durch diese und andere Arbeiten galt Brewster im frühen 19. Jahrhundert als Autorität in Fragen der Optik. Darüber hinaus hatte er 1819 gemeinsam mit Robert Jameson das einflussreiche Edinburgh Philosophical Journal geründet und dieses bis 1824 wesentlich mitgestaltet. Danach rief er das Edinburgh Journal of Science ins Leben, das er bis 1832 herausgab. Durch diesen direkten Bezug zwischen David Brewster und der Zeitschrift, aus welcher die Sun die Mondbeobachtungen angeblich übernommen hatte, erhöhte sich nochmals die vraisemblance der Geschichte. Die am 21. August 1835 abgedruckte Kurzmeldung, die man vorgeblich vom Edinburgh Courant übernommen hatte, verwies als Quelle auf einen „eminent publisher in this city“54. Auch wenn Brewster seit 1832 nicht mehr für das Edinburgh Journal of Science verantwortlich war, so weckte ein solcher Satz auf der anderen Seite des Atlantiks nach wie vor entsprechende Assoziationen. Konnte Brewster selbst hier die Quelle sein?

 

Die einschlägigen britischen Wissenschaftsjournale – unter ihnen eben auch das Edinburgh Journal of Science und das Edinburgh Philosophical Journal – wurden von der nordamerikanischen Bildungselite intensiv rezipiert, wenn auch mit Verzögerung zum europäischen Publikum. Zum einen heißt das, dass Locke mit der Behauptung, man würde vom Edinburgh Journal of Science abdrucken, auch an das wissenschaftliche Prestige dieser Publikationen anschließen konnte. Dies wird unter anderem in den folgenden Zeilen deutlich, welche die britische Schriftstellerin Harriet Martineau über die Reaktionen auf Herschels angebliche Entdeckungen schrieb:

I happened to be going the round of several Massachusetts villages when the marvellous account of Sir John Herschel’s discoveries in the moon was sent abroad. The sensation it excited was wonderful. As it professed to be a republication from the Edinburgh Journal of Science, it was some time before many persons, except professors of natural philosophy, thought of doubting its truth.55

Neben einer Erhöhung der Glaubwürdigkeit des Berichts bedeutet die Zirkulation europäischer Wissenschaftszeitschriften in Nordamerika aber auch, dass die wissenschaftlichen Debatten, die in diesen Zeitschriften geführt wurden, auch den nordamerikanischen Lesern weitgehend bekannt waren. Eine populäre Auseinandersetzung wurde dort (aber nicht nur dort) seit Jahren über die Frage geführt, ob es Leben auf dem Mond gebe und welche Zeichen man dafür gefunden habe.56 Folgt man der Debatte, so zeigt sich, dass im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert unzählige Kirchenmänner und Wissenschaftler (manchmal auch in einer Person) glaubten, es müsse intelligentes extraterrestrisches (und insbesondere lunares) Leben geben. Unter anderem wurden die diesbezüglichen Erkenntnisse der deutschen Astronomen Franz von Paula Gruithuisen, Wilhelm Olbers und Carl Friedrich Gauss in einem Artikel über The Moon and its Inhabitants zusammengefasst, der 1826 in der ersten Ausgabe des Edinburgh New Philosophical Journal – der Nachfolgepublikation des Edinburgh Philosophical Journal – erschien. Erwähnt wurden darin Gruithuisens angebliche Sichtung von Spuren großer Bauwerke (unter anderem jene eines Tempels), Olbers Vermutungen über Vegetation auf dem Mond und Gauss’ Vorschlag der Kommunikation mit den Mondmenschen mittels der Vermittlung mathematischer Grundprinzipien.57 Mit diesem Artikel war nachweislich auch Richard Adams Locke vertraut.58

Zumindest im heute in der Universitätsbibliothek von Harvard aufbewahrten Exemplar ist „Thomas Dick, LL.D. of Dundee“ als Autor des kurzen Artikels im Edinburgh New Philosophical Journal handschriftlich hinzugefügt worden.59 Der Schotte Dick war Astronom und zugleich Priester. Er war ebenfalls überzeugt davon, dass es schon aus rein religiösen Gründen extraterrestrisches Leben geben müsse, und tat der Welt davon unter anderem in seinen Werken The Christian Philosopher (1823) oder Philosophy of Religion (1826) kund.60 Richard Adams Locke konnte Dicks Standpunkt und wohl die gesamte Debatte über Leben auf dem Mond nicht ernstnehmen. Fünfzehn Jahre nach Veröffentlichung des Mondschwindels schrieb er, die Geschichte sei eine Satire auf diese Kontroverse und vor allem auf Thomas Dick gewesen.61 Auch der Text selbst enthält durchaus Hinweise auf eine solche satirische Absicht, die allerdings von den meisten Zeitgenossen übersehen wurden. So kann man die Entdeckung einer Tempelanlage im fünften Teil auch als Spitze gegen Gruithuisens Mondbeobachtungen sehen.62 Locke ließ Dr. Grant zur Entdeckung des Tempels außerdem wörtlich sagen: „It was a temple – a fane of devotion, or of science, which, when consecrated to the Creator is devotion of the loftiest order[.]“63 Das kann man als klare Anspielung Lockes auf Thomas Dicks Vermischung von Religion und Wissenschaft sehen. Aber nicht nur für Dick hatte die Frage nach außerirdischem Leben eine klare religiöse Dimension, wie zum Beispiel in den weiteren Zeilen von Harriet Martineau sichtbar wird:

A story is going, told by some friends of Sir John Herschel (but whether in earnest or in the spirit of the moon story I cannot tell), that the astronomer has received at the Cape a letter from a large number of Baptist clergymen of the United States, congratulating him on his discovery, informing him that it had been the occasion of much edifying preaching and of prayer-meetings for the benefit of brethren in the newly-explored regions; and beseeching him to inform his correspondents whether science affords any prospects of a method of conveying the Gospel to residents in the moon.64

Die Geschichte, dass sich Kirchenmänner bereits über die Missionierung der Mondbewohner Gedanken machten, kursierte auch noch in anderen Versionen.65 Auch das macht nochmals die Ubiquität der Debatte über außerirdisches Leben – ebenso wie die verbreitete Praxis des Vermischens wissenschaftlicher und religiöser Elemente – deutlich.

Es gibt demnach eine ganze Reihe von globalen – im konkreten Fall meist transatlantischen – Verbindungen und Austauschprozessen, an die Richard Adams Locke mit seiner Geschichte bewusst oder unbewusst anschloss. Zeitungs- und Zeitschriftenberichte aus Europa überquerten im frühen 19. Jahrhundert ebenso regelmäßig den Atlantik wie dies wichtige wissenschaftliche Werke taten. Mit einigen Wochen Verzögerung war die nordamerikanische Öffentlichkeit über die aktuelle Arbeit John Herschels, seine Reise zum Kap und sein neues Teleskop ebenso gut informiert wie der europäische Zeitungsleser. Die wissenschaftlich interessierten Amerikaner hatten Zugang zu den einschlägigen europäischen Publikationen, kannten deren Herausgeber und verfolgten die wichtigsten aktuellen Debatten. Kurz, nordamerikanische und europäische (und allen voran natürlich britische) Akteure waren über den Atlantik eng miteinander verbunden. Neben Menschen und Waren bewegte sich auch Wissen über den großen Teich.66 Richard Adams Locke spielte in seinem Text äußert geschickt mit diesen existierenden globalen Verbindungen und schloss mit seinen Ausführungen direkt an einen Erfahrungsrahmen seiner Leserschaft an. Er schuf auf diese Weise neue, nicht weniger wirkungsmächtige Verbindungsformen: Erwartungen, Hoffnungen, Möglichkeiten globaler Natur.

Ebenso wie von den beschriebenen transregionalen Verbindungen lebte der Mondschwindel aber auch von Verbindungsunterbrechungen bzw. -verzögerungen. Auch dies wird beispielhaft an der Person Herschels und an der Zirkulation der erwähnten Wissenschaftsjournale deutlich. Frank O’Brien recherchierte Anfang des 20. Jahrhunderts die Geschichte der Sun und schrieb unter anderem auch über den Mondschwindel. Er berichtete, wie sich kurz nach der Veröffentlichung der angeblichen Entdeckung zwei Professoren aus Yale auf den Weg nach New York machten. Dort besuchten sie die Redaktion der Sun und verlangten, das Original des Edinburgh Journal of Science zu sehen, aus dem der Bericht angeblich übernommen worden war. Benjamin Day zeigte sich indigniert, dass die Professoren an der Authentizität des Berichts Zweifel hegten, schickte sie aber weiter zu Locke. Dieser gab sich hilfsbereit und sagte, dass sich das fragliche Heft bei einem Drucker in der William Street befände, wo es natürlich eingesehen werde könne.

As the Yale men disappeared in the direction of the printery, Locke started for the same goal, and more rapidly. When the Yalensians arrived, the printer, primed by Locke, told them that the precious pamphlet had just been sent to another shop, where certain proof-reading was to be done. And so they went from post to pillar until the hour came for their return to New Haven.67

Ob sich diese Episode tatsächlich so zugetragen hat, mag man zumindest in Zweifel ziehen. Sie illustriert allerdings, dass die Bezugnahme auf die schottische Zeitschrift nicht nur die Glaubwürdigkeit der Beobachtungen erhöhte, sondern auch dazu führte, dass viele Leser das Original auf Echtheit prüfen wollten. Das aber hatte Locke – absichtlich oder unabsichtlich – unmöglich gemacht. Das Edinburgh Journal of Science war 1832 in einer anderen Zeitschrift, dem London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science, aufgegangen. Man kann vermuten, dass Locke, der England 1831 verlassen hatte, darüber nicht im Bilde war,68 oder dass er eigentlich das Edinburgh New Philosophical Journal gemeint hatte, in dem 1826 auch der Artikel von Thomas Dick erschienen war.69 In jedem Fall aber wurde so eine unmittelbare Überprüfung der Behauptungen der Sun unmöglich. Da die fragliche Zeitschrift im Jahr 1835 nicht mehr erschien, konnte auch niemand an der amerikanischen Ostküste über aktuelle Exemplare verfügen. Noch dazu gab die Sun an, der ursprüngliche Bericht wäre nicht in einem regulären Heft, sondern in einem Supplement zur Zeitschrift erschienen, was die Überprüfung der Angaben weiter erschwerte. Durch den Bezug auf ein kürzlich eingestelltes Journal, die Anspielungen auf bestehende Zeitschriften mit ähnlichen Titeln und den Verweis auf das Beiheft schloss Locke einerseits an bestehendes Wissen an, schuf gleichzeitig aber Unsicherheit und Verwirrung über die Herkunft des Artikels. Dadurch entstand ein Fenster der Möglichkeiten, das nur durch eine viele Wochen dauernde Rückfrage in Großbritannien endgültig geschlossen werden konnte.

Eine ähnliche Nicht-Verbindung lag auch hinsichtlich der Verfügbarkeit von John Herschel selbst vor. Dieser befand sich zur fraglichen Zeit für mehrere Jahre am Kap der Guten Hoffnung, um dort im eigenen Observatorium astronomische Untersuchungen durchzuführen. Zum einen waren dadurch unmittelbare Rückfragen über seine Entdeckungen noch schwieriger und langwieriger, als wenn er sich in England aufgehalten hätte. Noch wichtiger aber war wohl, dass nur eine sehr beschränkte Anzahl von Menschen vor Ort über die Ergebnisse seiner Arbeiten im Bilde war. Damit gab es niemanden, der direkt Zeugnis über die Echtheit der fraglichen Berichte hätte ablegen können – niemand, außer dem von Locke erfundenen Dr. Grant oder unfreiwillig in den Zeugenstand genommenen David Brewster. Auch hier entstand durch die fehlende Verfügbarkeit von Herschel und seinen Mitarbeitern ein Möglichkeitsfenster, das zur zumindest temporären Glaubhaftigkeit der Geschichte erheblich beitrug. Locke knüpfte an bestehendes Wissen an, verhinderte aber, dass dieses aktualisiert werden konnte.

Erst Ende des Jahres 1835 erfuhr John Herschel schließlich selbst von seinen großartigen Entdeckungen. Caleb Weeks, Besitzer einer Tierschau aus Long Island, schiffte sich kurz nach der Veröffentlichung der Sun nach Südafrika ein, um dort exotische Tiere für seine Menagerie zu suchen. Er nutzte diese Chance, um Herschel über die moon hoax zu informieren. Dieser zeigte sich zunächst erstaunt und amüsiert.70 Nach einiger Zeit aber erreichten ihn viele briefliche Anfragen aus aller Welt, in denen sich die Absender nach der Echtheit der Entdeckungen erkundigten oder einfach seine Meinung zu der Geschichte hören wollten. Das irritierte Herschel dann doch und er schrieb in einem Brief an seine Tante Caroline: „I have been pestered from all quarters with that ridiculous hoax about the Moon – in English French Italian & German!!“71 Schließlich wandte Herschel sich in einem offenen Brief direkt an die Londoner Zeitschrift Athenaeum und bedankte sich für die Richtigstellung, die dort im April 1836 abgedruckt worden war. Scheinbar nahm er die ganze Sache immer noch nicht besonders schwer: „Since there are people silly enough to believe every extravagant tale which is set before them, we ought to hope that these tales may be as harmless as that now in question[.]“72

Hinsichtlich der Wirkung von Lockes fiktionalem Bericht war also nicht nur das Anschließen an bestehende Wissensbilder und Erwartungshorizonte in der eng verflochtenen transatlantischen Welt wichtig. Genauso entscheidend war es, dem Publikum keine unmittelbare Möglichkeit zur Verifikation oder Falsifikation der Schilderungen zu geben. Es war diese geschickte Einbettung in ein Netz von transregionalen Verbindungen und Nicht-Verbindungen, durch die ein verhältnismäßig großer Spielraum für Interpretation und Imagination geschaffen werden konnte.

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