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Der Mond …

Am Freitag, 21. August 1835, druckte die New Yorker Tageszeitung Sun auf Seite 2 ein Sammelsurium von insgesamt 27 verschiedenen Kurznachrichten oder Informationen in eigener Sache.10 In diesen Meldungen versteckt und direkt nach dem Hinweis, dass die Redaktionsräume der Sun kürzlich umgezogen wären, geschaltet, fand sich dort folgende Nachricht:

Celestial Discoveries. – The Edinburgh Courant says – „We have just learnt from an eminent publisher in this city that Sir John Herschel, at the Cape of Good Hope, has made some astronomical discoveries of the most wonderful description, by means of an immense telescope of an entirely new principle.“11

Einer damaligen gängigen Praxis folgend zitierte das New Yorker Blatt im Wortlaut aus einer schottischen Zeitung – oder gab zumindest vor, das zu tun. Man verwies auf den Edinburgh Courant, welcher von einem Verleger gehört hätte, dass der berühmte britische Astronom John Herschel (Abb. 1) mit Hilfe eines riesigen Teleskops bahnbrechende astronomische Entdeckungen gemacht hätte. Auf die Natur dieser Entdeckungen oder deren genauere Umstände ging man nicht ein. Es folgte auch kein Hinweis darauf, dass zu diesem Sachverhalt weitere Ausführungen zu erwarten seien. Diese wenigen Zeilen waren alles, was die Sun an diesem Freitag zu der Angelegenheit zu sagen hatte.


Abbildung 1: Sir John Herschel, fotografiert von Julia Margaret Cameron April 1867.

Es ist anzunehmen, dass die Leserschaft der Freitagsausgabe den Zeilen erst einmal wenig Bedeutung beigemessen hat – vorausgesetzt, dass sie überhaupt von einem größeren Leserkreis wahrgenommen wurden. Die Sun war das erste penny paper in den Vereinigten Staaten und wurde vor allem von Zeitungsjungen auf der Straße verkauft. Ihre Leser waren üblicherweise mehr am illustren Tagesgeschehen in und um New York interessiert als an den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen. Daher war der kurze Hinweis auf celestial discoveries wohl nur zum Teil als freitäglicher Teaser gedacht, der Spannung erzeugen und die Neugierde der Leserschaft wecken sollte. Vielmehr war er Teil eines durchdachten Täuschungsmanövers, das den später folgenden Artikeln in der Retrospektive zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen sollte. Mit der unscheinbaren Nachricht startete die Sun am 21. August 1835 die Great Moon Hoax, den sogenannten „großen Mondschwindel“, der nicht nur in der New Yorker Öffentlichkeit auf riesiges Interesse stieß, sondern auch weit in den amerikanischen Westen und sogar nach Europa weitergetragen wurde.

Vier Tage später am Dienstag, 25. August, druckte die Sun den ersten von sechs langen Artikeln zum Thema.12 Der Text selbst wurde direkt auf der ersten Seite platziert und füllte diese aufgrund seiner beträchtlichen Länge auch zum Großteil. Erst auf der zweiten Seite folgte eine kurze Erklärung der Redaktion:

We this morning commence the publication of a series of extracts from the new Supplement to the Edinburgh Journal of Science, which have been very politely furnished us by a medical gentleman immediately from Scotland, in consequence of a paragraph which appeared on Friday last from the Edinburgh Courant. The portion which we publish to day is introductory to celestial discoveries of higher and more universal interest than any, in any science yet known to the human race.13

Die Erklärung verwies auf die kurze Notiz vom 21. August und brachte nun neben dem Edinburgh Courant vor allem das Edinburgh Journal of Science ins Spiel, aus dessen Beiheft die Serie von Artikeln stamme. Der Titel des Haupttexts auf der Frontseite wies ebenfalls deutlich auf die Provenienz des folgenden Textes hin: GREAT ASTRONOMICAL DISCOVERIES, LATELY MADE BY SIR JOHN HERSCHEL, L. L. D. F. R. S. &c. At the Cape of Good Hope [From Supplement to the Edinburgh Journal of Science.]14 Darauf folgte der eigentliche Text, welcher der üblichen Praxis folgend nicht paraphrasierte, sondern den angeblichen Inhalt des Edinburgh Journal of Science im Originalwortlaut wiedergab:

In this unusual addition to our Journal, we have the happiness of making known to the British publick, and thence to the whole civilized world, recent discoveries in Astronomy which will build an imperishable monument to the age in which we live[.]15

Allerdings verrieten die zahlreichen verbleibenden Zeilen dieses ersten Berichtsteils noch sehr wenig von den bahnbrechenden Entdeckungen selbst. Vielmehr diente der Text als vielschichtige Vorbereitung der späteren Folgen, die einerseits einen Spannungsbogen aufbaute, vor allem aber ein breites Fundament für die Glaubwürdigkeit der kommenden Ausführungen legte. Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielte ein technisch völlig neuartiges, riesiges Teleskop, das John Herschel entwickelt haben sollte, und das die angedeuteten Entdeckungen überhaupt erst möglich gemacht habe. In einem chronologischen Vorgriff hieß es schon früh im Text, Herschel hätte, nachdem er das Teleskop schließlich aufgebaut und eingestellt hatte, für einige Stunden feierlich innegehalten, bevor er seine Himmelsbeobachtungen begann, um sich geistig auf seine großartigen Entdeckungen vorzubereiten.16 Der Autor des Artikels nahm dieses Innehalten stilistisch immer wieder auf – „And well might he pause!“ –, um die überwältigende Natur von Herschels angeblichen Erkenntnissen zu unterstreichen, ohne schon zu viel darüber zu verraten. Erst im folgenden Absatz gab es schließlich einen ersten konkreten Hinweis auf die Sensation:

[T]he younger Herschel, at his observatory in the Southern Hemisphere, has already made the most extraordinary discoveries in every planet of our solar system; has discovered planets in other solar systems; has obtained a distinct view of objects in the moon, fully equal to that which the naked eye commands of terrestrial objects at the distance of hundred yards; has affirmatively settled the question whether this satellite be inhabited, and by what order of things; has firmly established a new theory of cometary phenomena; and has solved or corrected nearly every leading problem of mathematical astronomy.17

Versteckt zwischen vielen Punkten von astronomischem Fachinteresse, fand sich hier die eigentliche Sensation angedeutet. Herschel hätte die Frage nach Leben auf dem Mond – eine Frage, die im Rahmen der damals wogenden Debatte um extraterrestrisches Leben18 gerade sehr aktuell war – definitiv beantwortet. Darüber, wie seine Antwort aussah, konnten die Leser zu diesem Zeitpunkt aber nur spekulieren, denn der lange Rest des Textes beschäftigte sich praktisch ausschließlich mit den technischen Voraussetzungen für Herschels Forschungsergebnisse und deren Vermittlung. Zuerst wurde ein gewisser Dr. Andrew Grant vorgestellt, eine, wie sich später herausstellen sollte, frei erfundene Figur – ein Astronom, der beim Vater William Herschel gelernt habe und nun die rechte Hand des Sohnes John Herschel sei. Auf Grants Informationen aus erster Hand, die er mit der ausdrücklichen Erlaubnis Herschels weitergegeben habe, würde dieser Bericht beruhen. Der gesamte Rest des ersten Artikels widmete sich dann ausschließlich der Erfindung und Entwicklung von Herschels neuartigem Teleskop, das in exzessiver technischer Detailliertheit beschrieben wurde. Der tatsächliche Autor des Artikels verstand offensichtlich genügend von Optik und Astronomie, um hier an den Stand von Technik und Wissenschaften anschließen zu können und die Entwicklung eines Teleskops mit einer sieben Tonnen schweren Linse und 42.000facher Vergrößerungskraft halbwegs plausibel zu schildern. Der Text endete damit anzumerken, dass Herschel schon während der Konstruktion des Teleskops so überzeugt von dessen Kapazität war, „that he expressed confidence in his ultimate ability to study even the entomology of the moon, in case she contained insects upon her surface.“ Der Artikel schloss mit dem Versprechen: „To be continued.“19

Schon einen Tag später am 26. August wurde dieses Versprechen eingelöst. Nach längeren Abschnitten, die die Hintergründe von Herschels Aufenthalt am Kap der Guten Hoffnung darlegten und die dortige Installation des Teleskops beschrieben, kam man schließlich zur Schilderung der ersten lunaren Entdeckungen. Bis zum 10. Januar hätte Herschel hauptsächlich den südlichen Sternenhimmel untersucht, bevor er sein Teleskop schließlich auf den Mond richtete – und dort als erstes ein Feld dunkelroter Blumen ausgemacht habe, das Dr. Grant an den heimischen Klatschmohn erinnerte. „[A]nd this was the first organic production of nature, in a foreign world, ever revealed to the eyes of men.“20 Im folgenden Absatz stießen die Astronomen sodann auf Wälder, deren Bäume an Eiben und Tannen erinnerten. Man entdeckte einen See und riesige Quartzformationen, die Grant zuerst für künstlich angelegt (und damit für den Beweis intelligenten Lebens auf dem Mond) hielt, bis Herschel ihn diesbezüglich korrigiert habe. Erst nach weiterer intensiver Suche sei Herschel schließlich auf tierisches Leben gestoßen.

In the shade of the woods on the south-eastern side, we beheld continuous herds of brown quadrupeds, having all the external characteristics of the bison, but more diminutive than any species of the bos genus in our natural history.21

Zudem hätten die Astronomen noch bläuliche Einhörner und pelikanartige Vögel, die nach Fischen tauchten, gesichtet. Schließlich hätte man angesichts dieser großartigen Entdeckungen noch mit dem besten „East India Particular“ – einer Madeira-Marke – angestoßen. Der Artikel endete mit dem Hinweis, dass am 13. und 14. Januar noch viele weitere Tiere beobachtet worden wären, die im Folgenden „in the graphic language of our accomplished correspondent“ wiedergegeben werden sollten. An dieser Stelle brach der Text mit einem klassischen Cliffhanger und dem üblichen Versprechen einer Fortsetzung ab.22

 

Diese erschien bereits am folgenden Tag und fiel bedeutend kürzer aus als die vorhergehenden Abschnitte. Herschel entdeckte darin weitere Tierarten, insbesondere eine spezielle, lunare Art des Bibers, den Zweibeiner-Biber. Dieser sehe praktisch genauso aus wie seine terrestrischen Verwandten, mit der Ausnahme, dass er keinen Schwanz habe und auf zwei Beinen gehe. Auch ansonsten legte der Biber sehr menschliches Verhalten an den Tag:

It carries its young in its arms like a human being, and moves with an easy gliding motion. Its huts are constructed better and higher than those of many tribes of human savages, and from the appearance of smoke in nearly all of them, there is no doubt of its being acquainted with the use of fire.23

Der Artikel beschrieb dann noch einige weitere geologische, botanische und zoologische Entdeckungen Herschels, die sich in ihrem Neuigkeitswert aber kaum mit dem Biber messen konnten. Der Text schloss mit dem Hinweis, dass Herschel für seine nächsten Beobachtungen einzigartige Erwartungen hätte. Genau da setzte der vierte Abschnitt an, den die Sun am darauffolgenden Tag, Freitag, 28. August, abdruckte. Er war sogar noch etwas kürzer als der Vortagestext und damit schnell und leicht zu lesen. Nach den – mit Ausnahme des Bibers – verhältnismäßig wenig aufregenden Textpassagen des Vortages, folgte nun die Klimax. Herschel sei auf menschenähnliche, mit Flügeln ausgestattete Wesen gestoßen (eine zeitgenössische künstlerische Interpretation findet sich in Abb. 2 und 3). Der fiktive Erzähler Dr. Grant hielt fest:

[W]e were thrilled with astonishment to perceive four successive flocks of large winged creatures, wholly unlike any kind of birds, descend with a slow even motion from the cliffs on the western side, and alight upon the plain. They were first noted by Dr. Herschel, who exclaimed, „Now, gentlemen, my theories against your proofs, which you have often found a pretty even bet, we have here something worth looking at[“.]24

Erzählerisch war dieser Abschnitt eindrucksvoll gestrickt. Ohne lange Umschweife und mit nur wenigen technischen Ausführungen wurde dem Leser die Sensation serviert: menschenähnliches Leben auf dem Mond! Gezielt fügte man direkt anschließend noch ein paar Sätze ein, die die Vorstellungskraft der Leserschaft beflügeln sollten. Dr. Grant beschrieb die Fledermausmenschen zuerst in einigem Detail, hielt dann aber inne:

Our further observation of the habits of these creatures, who were of both sexes, led to results so very remarkable, that I prefer they should first be laid before the public in Dr. Herschel’s own work, where I have reason to know they are fully and faithfully stated, however incredulously they may be received. […] We scientifically denominated them as Vespertilio-homo, or man-bat; and they are doubtless innocent and happy creatures, notwithstanding that some of their amusements would but ill comport with our terrestrial notions of decorum.25



Abbildungen 2 und 3: Illustrationen aus der italienischen Übersetzung des Mondschwindels.

Dr. Grant wollte zum Verhalten der Fledermausmenschen an dieser Stelle also nicht mehr sagen und verwies auf Herschel. Damit ließ man der Fantasie der Leser den größtmöglichen Spielraum. Die Anspielungen auf ein ungezwungenes Sexualverhalten der Mondbewohner waren überdeutlich. Es müssten wohl geradezu unglaubliche Dinge sein, die sich da abspielten, wenn selbst Grant nicht darüber sprechen wollte. Zudem sicherten sich die Erfinder der Geschichte gegen Kritik und Unglauben ab, indem man die Detailbeschreibungen aufschob und an Herschel delegierte. Im folgenden Absatz fand sich zudem noch ein Hinweis darauf, dass Herschels eigene Ausführungen gemeinsam mit zertifizierten Berichten von Augenzeugen veröffentlicht würden. Unter diesen Augenzeugen würden sich neben namhaften zivilen und militärischen Persönlichkeiten der Kapkolonie auch „several Episcopal, Wesleyan, and other ministers“26 befinden.

Was sollte auf die Entdeckung menschenähnlichen Lebens auf dem Mond nun noch folgen? Der fünfte, ebenfalls wieder kurze Abschnitt am 29. August begann verhältnismäßig unspektakulär. Die Oberfläche des Mondes wurde weiter beschrieben – schließlich sei man auf vulkanische Aktivität gestoßen. Herschel habe eine weitere grandiose Theorie entwickelt und gemeint, dass die Umgebung eines Vulkans sicherlich bewohnt sei, da der „flaming mountain“27 die Anwohner in den langen Nächten mit Licht versorge. Bei eingehenderer Suche sei man zwar nicht auf weitere Lebewesen, aber dafür auf eine architektonisch hochinteressante Tempelanlage gestoßen, die Herschel und seinen Mitarbeitern Rätsel aufgeben würde. Die Mondmenschen waren also offensichtlich religiös. Aber ansonsten stand man vor vielen ungelösten Fragen. Um den Spannungsbogen nochmals über das Wochenende zu halten, ließ man Dr. Grant schließen:

I by no means despair of ultimately solving not only these but a thousand other questions which present themselves respecting the objects of this planet; for not the millionth part of her surface has yet been explored, and we have been more desirous of collecting the greatest possible number of new facts, than of indulging in speculative theories, however seductive for the imagination.28

Der letzte Teil des Berichts erschien schließlich am Montag, dem 31. August. Man bemühte sich, die zuvor geweckten Erwartungen auch zu erfüllen, und griff auch dieses Mal wieder zu einigen erzählerischen Kniffen. Schon zu Beginn berichtete Dr. Grant, dass Herschel in der Nähe des Tempels bald weitere Fledermausmenschen entdeckt hätte – „of larger stature than the former specimens, less dark in color, and in every respect an improved variety of the race.“29 Es gab demnach offensichtlich biologische und damit auch soziokulturelle Unterschiede unter den Mondbewohnern. Auch die nun folgenden Schilderungen Grants thematisierten Einblicke in das Sozialverhalten und damit das gesellschaftliche Gefüge. Dann nahm der Bericht eine weitere dramaturgische Wendung. Erschöpft von all den aufregenden Beobachtungen, hätte man schließlich vergessen, nach getaner Arbeit die Teleskoplinse so zu drehen, dass sie tagsüber kein Sonnenlicht einfangen kann. Die konzentrierten Sonnenstrahlen hätten morgens dann das Gebäude in Brand gesetzt und erheblichen Schaden angerichtet. Nach einwöchigen Reparaturen wäre der Mond erst einmal nicht mehr zu sehen gewesen, weshalb Herschel seine Untersuchungen mit dem Saturn fortgesetzt hätte. Der Text schilderte seine diesbezüglichen Beobachtungen und verwies auch auf die Leistungen von William Herschel, der 1759 immerhin zwei der sieben Saturnmonde entdeckt hätte. Erst als nach bereits recht detaillierten Ausführungen zur Saturnforschung das Edinburgh Journal of Science scheinbar ansetzte, noch wissenschaftlicher zu werden, gab die Sun vor, einzuschreiten:

Having ascertained the mean density of the rings, as compared with the density of the planet, Sir John Herschel has been enabled to effect the following beautiful demonstration. [Which we omit, as too mathematical for popular comprehension. — Ed. Sun.]30

Das schottische Wissenschaftsjournal, aus dem die Sun ja scheinbar immer noch wörtlich zitierte, setzte dann nochmals an über die Ringe und Gürtel des Saturn zu dozieren – aber auch hier schritt die Redaktion des penny paper ein:

[[…] But the portion of the work which is devoted to this subject, and to the other planets, as also that which describes the astronomer’s discoveries among the stars, is comparatively uninteresting to general readers, however highly it might interest others of scientific taste and mathematical acquirements. — Ed. Sun.]31

Entsprechend schloss der sechste und letzte Teil der Artikelserie damit zu sagen, dass Herschel mit dem Neumond im März endlich seine Mondbeobachtungen hätte fortsetzen können. Der Text endete mit Dr. Grants Bericht über die Entdeckung weiterer Fledermausmenschen und dem abermaligen Verweis auf Herschels eigene Veröffentlichung:

[W]e found the very superior species of the Vespertiliohomo. In stature they did not exceed those last described, but they were of infinitely greater personal beauty, and appeared in our eyes scarcely less lovely than the general representations of angels by the more imaginative schools of painters. […] I shall, therefore, let the first detailed account of them appear in Dr. Herschel’s authenticated natural history of this planet.32

Die Redaktion der Sun fügte noch an, dass an dieser Stelle das Beiheft des Edinburgh Journal of Science enden würde – ausgenommen natürlich die vierzig Seiten „illustrative and mathematical notes“33, die man den Lesern der Sun ersparen würde.

… und die Sonne

In der kurzen Zusammenfassung des sechsteiligen Berichts im vorigen Kapitel wird nicht nur der Inhalt des sogenannten „großen Mondschwindels“ deutlich, sondern auch dessen beindruckende, mit großer Liebe zum Detail vorgenommene Inszenierung. Die Sun überfiel ihre Leser nicht mit großartigen Enthüllungen über Leben auf dem Mond, sondern machte lange Tage nur vage Andeutungen. Stattdessen ergingen sich die Autoren der angeblich zitierten schottischen Zeitschrift in ausführlichsten technischen Beschreibungen. Diese bauten sprachlich wie inhaltlich auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik auf. Damit überforderten sie weite Teile der Leserschaft, machten aber wohl gerade deshalb einen glaubwürdigen Eindruck. Zudem rief der Bericht viele weithin bekannte wissenschaftliche Autoritäten an. Neben dem Protagonisten John Herschel wurde dessen berühmter Vater William mehrfach erwähnt. Der schottische Physiker David Brewster wurde namentlich genannt und damit auch indirekt ein Bezug zum Edinburgh Journal of Science hergestellt, dessen Herausgeber Brewster bis 1832 gewesen war. Zudem liefen die sechs Teile zwar klar und deutlich auf eine Klimax zu, dennoch aber wurde der Erzählfluss immer wieder von für den Laien wohl eher weniger interessanten Einlassungen zur Topografie des Mondes oder technischen Details der Mondbeobachtung unterbrochen.34 Dies sollte wohl zum einen – ebenso wie die beschriebenen Cliffhanger – die Spannung beim Leser nochmals erhöhen, trug aber sicherlich auch nochmals zur Glaubwürdigkeit des Texts bei. Dazu kamen schließlich die vagen Andeutungen auf Nichtbeschriebenes (vielleicht sogar Unsägliches?), das wenn dann nur von Herschel selbst offenbart werden dürfe.

Der Inhalt des Berichts mochte unglaublich sein, seine Verpackung aber war es nicht. Geschickt baute der Text auf den globalen (im konkreten Beispiel hauptsächlich transatlantischen) Verbindungen der Zeit auf und nutze sie, um glaubhaft zu erscheinen. Viel Zeit und Mühe muss in diesen Text geflossen sein, ebenso wie breite astronomische und physikalische Kenntnisse und ein ausgeprägtes schriftstellerisches Talent, um eine derart überzeugende Inszenierung zu erreichen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war der Journalist und damalige Chefredakteur der Sun Richard Adams Locke der Verfasser des Texts. Locke hatte seine Autorenschaft nach der Aufdeckung des Schwindels zwar nur indirekt zugegeben, in der Retrospektive spricht aber fast alles für ihn als Verfasser. Auch von vielen Zeitgenossen wurde er schon relativ früh nach der Veröffentlichung des Berichts als dessen Autor identifiziert – allen voran von James Gordon Bennett, dem Besitzer des New York Herald, der Lockes Autorenschaft auch sofort in seiner Zeitung öffentlich machte.35

Richard Adams Locke war in der schreibenden Zunft New Yorks kein Unbekannter und wurde unter anderem für seinen scharfen Verstand geschätzt. Edgar Allan Poe hat im sechsten Band der Literati of New York City über ihn geschrieben:

He is about five feet seven inches in height, symmetrically formed; there is an air of distinction about his whole person — the air noble of genius. His face is strongly pitted by the small-pox, and, perhaps from the same cause, there is a marked obliquity in the eyes; a certain calm, clear luminousness, however, about these latter, amply compensates for the defect, and the forehead is truly beautiful in its intellectuality. I am acquainted with no person possessing so fine a forehead as Mr. Locke. He is married, and about forty-five years of age, although no one would suppose him to be more than thirty-eight. He is a lineal descendant from the immortal author of the „Essay on the Human Understanding.“36

 

Richard Adams Locke wurde im Jahr 1800 im County Somerset in England geboren (auch wenn er später New York als seinen Geburtsort angab). Die Familie Locke war verhältnismäßig gut situiert und umtriebig. Neben vielen anderen einflussreichen Personen entstammte ihr unter anderem auch der Philosoph John Locke (1632-1704) – allerdings war Richard Adams Locke im Gegensatz zu seinen eigenen später von Poe übernommenen Angaben kein direkter Nachkomme Johns. Richard war ein guter Schüler und wurde von einem Privatlehrer unterrichtet. Er gab später an, in Cambridge studiert zu haben – allerdings gibt es in den dortigen Immatrikulationslisten keinen Hinweis darauf, dass er auch nur einen Kurs besucht hätte. Anstatt sich auf dem Familienanwesen zu engagieren, wurde Locke Journalist. Er schrieb zuerst für mehrere Zeitungen in London und wurde später Redakteur eines neugegründeten Blattes in Somerset. Seine republikanischen Ansichten erwiesen sich aber als unpopulär. Er verlor seine Stelle, sah in England wenig Perspektive und wanderte Ende 1831 mit seiner kleinen Familie nach New York aus.37 Dort machte sich Locke schnell journalistisch einen Namen. Der junge Benjamin Day, Gründer und Besitzer der Sun, wurde auf ihn aufmerksam. So wurde Locke im Mai 1835 neuer Redakteur des Blattes.38

Day hatte die Sun zwei Jahre zuvor als erstes penny paper der Stadt (abgesehen von einem anderen, sehr kurzlebigen Unterfangen) gegründet. Anders als die bereits existierenden Tageszeitungen, die auf ein wohlhabenderes, besser gebildetes Publikum zielten, wurde die Sun nicht zum Preis von sechs Cent, sondern für lediglich einen Cent pro Ausgabe verkauft. Benjamin Day wollte damit ein breites Publikum und eine hohe Auflage erreichen. Er war mit diesem Plan auch einigermaßen erfolgreich. Die Sun erzielte Mitte 1835 eine tägliche Auflage von etwa 15000 Stück.39 Bald folgten andere, ähnlich konzipierte Zeitungen – zum Beispiel der bereits erwähnte New York Herald unter Bennett – und die sogenannte penny press begann sich zu formieren. Diese unterschied sich allerdings nicht nur in Preis und einem kleineren Format von den etablierten Blättern – sie schlug auch einen anderen Ton an. Sie langweilte ihre Leser kaum mit differenzierten politischen Analysen oder der in den hochklassigeren Blättern üblichen internationalen Berichterstattung. Stattdessen widmete sie sich gefälligeren und oft auch regionaleren Themen. Häufig tendierten ihre Artikel zum Sensationalismus und versuchten mit aller Macht, die Aufmerksamkeit einer breiten Leserschaft zu gewinnen.40

Lockes elaborierter Mondschwindel lässt sich insofern gut in der üblichen Berichterstattung der penny press verorten, als es sich um eine sensationelle Geschichte handelte, die ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt allein mit der Auflagenzahl im Auge lanciert wurde – auch wenn Locke die Great Astronomical Discoveries wohl als Satire gemeint hatte, wie er selbst beteuerte.41