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Greifen die Anglizismen unsere Sprache an?

Es ist strittig, ob Anglizismen unsere Sprache im Kern angreifen, sie also in ihrer grammatikalisch-morphologischen und auch phonetisch-phonologischen Struktur verändern, oder ob sie flüchtige Phänome sind, die durch die Eingemeindungsfähigkeiten der deutschen Wortbildung problemlos in unsere Sprache eingepasst werden. Dieter E. Zimmer, der frühere Feuilletonchef der ZEIT, hat den Angriff auf die Konjugationsregeln des Deutschen zum Thema gemacht. Er fragt, wie wir es mit der Konjugation folgender Anglizismen halten:

– Sie sightseete? Sie sightsaw? Sie sightsah?

– Wir haben das Material recycled? Gerecycelt?

– Wer hat das gelayoutet? Outgelayed? Outlayed?

– Hast du das backuped? Gebackupt? Upgebackt? Aufgebacken?35

Wie lautet das Partizip von downloaden? Downgeloaded? Gedownloaded?36 Oder wie handhaben wir es mit dem Verb biken? Du bikest? Du bikst? Du beikst? Üblich ist die Form Du bikst. Woher aber soll man wissen, dass hier die englische Ausspracheregel gilt? Und welche Schreibregel gilt? Diese Fragen stellen sich bei vielen Wörtern, denn „orthographische Einbürgerungsakte“ finden, so Zimmer, kaum noch statt. Wenn aber einmal die deutsche und einmal die englische Aussprache- oder Schreibregel gilt, wird das Sprachgefühl verunsichert. Wie deklinieren wir easy oder sexy? Eine easye Klassenarbeit? Oder analog zu lila: eine easy Sache? Es bleibt unklar. Eigentlich kann man solche Entlehnungen nur prädikativ gebrauchen: Die Sache ist easy, wodurch die Satzbildung eingeschränkt wird. Wie ist es mit der Steigerungsform? Sagen wir eine sexyere Werbekampagne? Oder wie seit neustem mit der deutschen Endung -ig, also rockig, peacig, funnig und, eben, sexig?

Um bei den Adjektiven zu bleiben: Wie passt die Form trocken hardboiled Scheibe in unsere Sprache hinein? Was ist das grammatische Geschlecht von E-Mail, Event, Laptop?37 Wie lautet der Plural von Modem? Die Modems oder die Modeme? Auch Zusammensetzungen von Substantiven werden, so Zimmer, aus dem Englischen in einer Weise übertragen, die weder deutscher Wortbildung noch deutscher Schreibweise entspricht: der Geschicktes Entfernen Abschnitt oder die Alle Löschvorgänge bestätigen Checkbox.38

„Es gibt (…) nicht mehr die eine Folie sprachlicher Richtigkeit, sondern mehrere“, schreibt Zimmer weiter. Seine Schlussfolgerung: „Langsam wird zweifelhaft, welcher Tiefencode eigentlich gilt. Dann ist die Sprache tatsächlich irreparabel beschädigt.“39

Der Linguist Peter Eisenberg gibt hingegen in einer Kurzfassung des Berichts zur Lage der deutschen Sprache Entwarnung: „Die weitaus meisten Anglizismen sind nicht entlehnt, sondern im Deutschen gebildet.“, schreibt er und fährt fort: „Ihre interne Struktur ist zu einem guten Teil unabhängig vom Englischen und den Verhältnissen im Deutschen angepasst.“40 In diesem Sinne äußert sich auch Gisela Zifonun vom Institut für Deutsche Sprache.41 Und der Kölner Linguist Karl-Heinz Göttert verweist darauf, dass es sich bei 80 Prozent der Anglizismen in Wirklichkeit um „Eurolatein“ handele.42 Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass die vielen Beispiele von Zimmer in unsere Sprache nicht eingepasst sind. Sprachwissenschaft, Sprachkritik und Schule stehen hier in der Pflicht, die Aufmerksamkeit für solche Entwicklungen zu schärfen und gegebenenfalls Alternativen anzubieten.

Auch in früheren Zeiten hat es massiven Wortimport aus anderen Sprachen gegeben. Nicht umsonst haben Sprachschöpfer seit dem 17. Jahrhundert mit eigenen Vorschlägen, von denen sich eine ganze Reihe durchgesetzt hat, der massenhaften Übernahme von französischen Wörtern entgegengewirkt. Die Leidenschaft für Passion oder die Wehmut und die Sehnsucht für Nostalgie und Melancholie waren schon recht gelungen.

Deshalb ist es zu begrüßen, wenn die „Aktion lebendiges Deutsch“ des Vereins Deutsche Sprache sich um Vorschläge zur Eindeutschung bemüht. Es geht nicht um eine sprachliche „Säuberung“ – schon der Begriff ist grauenerregend und unsinnig, denn eine Sprache muss offen für Einflüsse von außen sein. Wohl aber geht es um die Fähigkeit einer Sprachgemeinschaft, für neue Sachen oder Begriffe sprachkonforme Bezeichnungen zu finden.

Wortschöpfungen

Gebräuchliche Neuprägungen wie Rechner, herunterladen, Schnittstelle oder Datenautobahn, die gerade von Profis verwendet werden, zeigen, dass es im Prinzip möglich ist. Sogar Bezahlfernsehen für das viel kürzere Pay-TV findet Eingang in den Sprachgebrauch. Populäre Neuprägungen sind allerdings selten. Sie müssen die Idee und den Ton des Ausgangsbegriffs treffen, und bei neuen Modeströmungen müssen sie das Lebensgefühl übersetzen, das mitschwingt. Am besten haben sie die Qualität eines Gassenhauers: in Klang und Schreibweise eingängig, in der Bedeutung genau, manchmal auch mit ironischem Unterton, wie die Untertreibung, die in Rechner steckt. Und gewiss in der Geschwindigkeit, in der sie sich verbreiten müssen: nämlich bevor der Importbegriff sich festgesetzt hat. Manchmal aber erobert sich ein deutsches Wort sogar den Platz wieder zurück, den es schon geräumt hatte. Während der Song gegenüber dem Lied bereits eine eigene Bedeutung als Musikstück aus der Rock-, Pop-, Rapp- und Hiphop-Szene angenommen hatte, ist derzeit bei Jugendlichen zu beobachten, dass sie ganz natürlich davon sprechen, sich „Lieder runterzuladen“. Damit meinen sie nicht Schubert-Lieder. – Eindeutschen ist heikel und immer strittig, dennoch ist es den Versuch wert. Es mögen ja nicht alle Anglizismen, die der „Verein Deutsche Sprache“ in seiner Wortliste als überflüssig bezeichnet, eins zu eins übersetzbar sein. Aber z. B. Anglizismen wie checken durch prüfen oder klären zu ersetzen oder auch durch verstehen, jugendsprachlich raffen und schnallen,43 neuerdings auch blicken, ist in der Sache richtig. Es geht nicht darum, Anglizismen zu verbieten, wohl aber darum, zu zeigen, dass man eigene Wörter erfinden kann oder dass es sogar Wörter dafür gibt. Warum Berater von Milestones sprechen anstatt von Meilensteinen oder Wegmarken, ist sachlich nicht zu begründen. Es fehlt ihnen schlicht der Reflex, es einmal in der eigenen Sprache zu versuchen.

Wenn wir die englischsprachigen Importe in den meisten Fällen in die deutsche Grammatik einpassen und sie mit deutschen Wörtern kombinieren können, so spricht das für die Integrationsfähigkeit und Elastizität der deutschen Wortbildung. Aber sprechen die Importe für die Sprecher? Sind sie nicht Zeichen für Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit und auch übertriebene Anpassung an alles Englischsprachige?

Sehr zurückhaltend formuliert der Linguist Wolfgang Klein im Kurzbericht zur Lage der deutschen Sprache den Unterschied zwischen Sprachsystem und dessen Nutzung durch die Sprecher: „Wenn uns bisweilen so scheint, als würde unsere Sprache verarmen, dann liegt das nicht an der deutschen Sprache der Gegenwart, deren Reichtum schier unerschöpflich ist. Es liegt an jenen, die diesen Reichtum nicht ausnutzen. Es reicht natürlich nicht, einen Bösendorfer in der Stube stehen zu haben; man muss ihn auch spielen können.“44 Ziemlich grantig kommentiert der Journalist Dankwart Guratzsch daher die Entwarnung der Autoren des Berichts zur Lage der deutschen Sprache: „Für den Sprachwissenschaftler ist ja das Faszinosum an seinem Orchideenfach gerade der Wandel, ein „Richtig“ oder „Falsch“, ein „Gut“ oder „Böse“, ein „Schön“ oder „Unschön“ gibt es für ihn nicht. Für den Normalbürger aber geht es um Fülle, Farbigkeit, Feinheit im Ausdruck. Sein Leiden am Sprachwandel ist ein Leiden am Verlust.“45 Aber leidet er denn wirklich?

Wortschrott

Zu den Anglizismen gehört ein sprachliches Phänomen, das man mit Wortschrott bezeichnen kann. Der Schriftsteller Eckhart Nickel hat Wortschrott in der Werbung und in Produktbezeichnungen der Schönheitsindustrie gesammelt. Was bedeutet Advanced Night Repair Synchrozed Recovery Complex Serum? Das Englische eignet sich nicht besonders zur Wortverknüpfung, weil es die Wörter nur nebeneinander stellt, ohne sie miteinander verfugen zu können. Trotzdem werden in unserem Beispiel sieben Wörter in eine Reihe gestellt. Dass es sich um ein Serum handelt (welches man eher in der Medizin vermuten würde), erfährt man erst am Ende. Die Wörter advanced und complex bergen keine Informationen. Es bleibt eine vage Idee davon, dass es bei dem Produkt um eine Art Nachtcreme geht, die vermutlich unserer Haut guttut. Aber welches Wort sich genau auf welches andere und welches sich auf die ganze Wortgruppe bezieht, ist nicht zu erkennen. Entweder wurde es nicht bedacht, oder diese Bezüge sollten im Ungefähren bleiben. Was kann der Grund für eine solche sprachliche Unschärfe sein? Wollen die Werbetexter nicht verstanden werden? Als Botschaft genügt ihnen offenbar die Suggestion von Weltläufigkeit und der pharmazeutisch-wissenschaftliche Eindruck.

 

Wortschrott missachtet das Informationsbedürfnis des Kunden. Wer versteht folgende Information eines Autoherstellers: „Das Blue&Me System wurde auf der Telematics Detroit mit dem Best Telematics Solution Award ausgezeichnet und ist damit die ideale Automotive-Plattform für In-Car-Kommunikations- und Infotainment-Lösungen.“46 Verständlichkeit war eines der Ziele des französischen Sprachgesetzes, die Loi Toubon aus dem Jahre 1994: Der Kunde sollte die Produktinformation in der Sprache seines Landes verstehen können.

Wortschrott lässt mangelndes Sprachgefühl erkennen. Sprachliche Regeln der Wortbildung spielen keine Rolle. Vorzüge der einzelnen Sprachen werden nicht genutzt. Sprache ist wertloses Material, das bedenkenlos verarbeitet wird. Der mehrfach zitierte Dieter E. Zimmer hat einen ganzen Wortschrottplatz gefunden.47 Einige Beispiele aus seiner Sammlung: Sick Buildung Syndrom, Prêt-à-porter Showdown, Moisture On-Call. Tatsächlich finden sich auch englisch-deutsche Kombinationen, was den Wortschrott nicht edler macht: Bike Fit Aktion, EasyFit-Zuschlag, Summer Oldies Gala, OsterIntensivWorkshop. Auch Regeln der Rechtschreibung sind hier außer Kraft gesetzt. In unzähligen Werbeanzeigen, Werbetexten, Werbesendungen, Unternehmensbezeichnungen, Produktbezeichnungen, Produktbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen springt der überwiegend aus dem Englischen genommene und zusammengezimmerte Wortschrott ins Auge. Gewiss sind diese Wortschöpfungen nicht von Dauer. Ihre Masse aber und ihre öffentliche Präsenz sind der Sprachkultur nicht förderlich.

English only?

Die deutsche Sprache als System können die Anglizismen zwar stören, aber nicht zerstören. Riskanter ist ein anderes Phänomen, nämlich die Einführung des Englischen als vollständige Sprache vor der eigenen Haustür, und nicht mehr nur die Verwendung des Englischen als Steinbruch für Entlehnungen. Eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen hat diesen Weg bereits beschritten, und ein weiterer Kernbereich unserer Gesellschaft ist ein Vorreiter bei der Einführung des Englischen als allgemeiner Verkehrssprache: die Wirtschaft. Noch gibt es zwar keinen vollständigen Überblick über die Sprachregimes in deutschen Unternehmen; verschiedene Erhebungen erlauben gleichwohl eine Trendaussage.48 Es sind vor allem die international operierenden deutschen Unternehmen, darunter Banken und Anwaltskanzleien, die Englisch als Geschäftssprache eingeführt haben. Die meisten Unternehmen wenden in Deutschland selbst zwar noch Deutsch in unterschiedlichem Umfang an, im Kundengeschäft sowie betriebsintern, sofern kein ausländischer Mitarbeiter anwesend ist, aber in ausländischen Niederlassungen und in grenzüberschreitenden Geschäften wird grundsätzlich in Englisch kommuniziert. Im Allgemeinen werden also Deutsch und Englisch in unterschiedlicher Rangfolge verwendet, wobei das Großunternehmen Siemens das Englische als erste Unternehmenssprache gewählt hat, Deutsch hat nur noch den zweiten Platz. Zwei Unternehmen stechen dabei heraus: die Lufthansa kommuniziert ausschließlich in Englisch, auch in Deutschland.49 Der Autohersteller Porsche hat hingegen als Konzernsprache Deutsch beibehalten, wobei Englisch im internationalen Geschäft verwendet wird, nicht aber in Deutschland.50 Viele Traditionsunternehmen haben auch ihren alten Namen anglisiert, beispielsweise BMW Group, Munich Re, Linde Group, Deutsche Bahn Mobility Network Logistics oder BASF The Chemical Company.51 Das Gesamtbild zeigt bei großen Unternehmen eine starke Stellung der englischen Sprache auf den Führungsebenen, im wichtigen Bereich Forschung und Entwicklung52, im grenzüberschreitenden Handel, in ausländischen Niederlassungen oder ausländischen Tochterfirmen, aber auch, bis auf wenige Ausnahmen, in den Betrieben in Deutschland selbst, sobald ausländische Mitarbeiter einbezogen sind oder sofern es um grenzüberschreitende Arbeits- oder Kundenbeziehungen geht. Deutsch ist oft nur noch Standortsprache. „Das Gros der Firmen folgt der Verenglischung“, schreibt die Süddeutsche Zeitung,53 auch wenn die Erfahrungen von Porsche mit Deutsch als Konzernsprache positiv sind, weil „der Einfallsreichtum der Ingenieure in ihrer Muttersprache am größten ist“.54 Der Trend zum Englischen als dominanter Sprache in Großunternehmen wird auch von der ELAN-Studie der Europäischen Kommission bestätigt.55

Im Bildungswesen ist das Englische ebenfalls auf dem Vormarsch. Englischsprachige Bildungsverläufe sind inzwischen in Deutschland ohne weiteres möglich. Mehrere Hundert englischsprachige Kindergärten sind erste Vorboten einer starken Neigung von Teilen der Elite, Englisch von Anfang an als Zweitsprache ihres Nachwuchses zu verankern, und in Ballungsräumen florieren englischsprachige Privatschulen. Private Business Schools, aber auch internationale Studiengänge an öffentlich-rechtlichen Hochschulen ermöglichen eine bruchlose Fortsetzung des englischsprachigen Bildungswegs. Englisch ist die am meisten gelernte Fremdsprache in Deutschland, Österreich, Liechtenstein, der Schweiz, Luxemburg, Ostbelgien, Südtirol. „Englisch gewinnt auch innerhalb der deutschsprachigen Staaten an Boden“, so Ulrich Ammon.56

Ich sitze am Tisch mit mehreren Paaren in einer offiziellen Runde. Die ausländische Gattin eines hohen Beamten spricht nur Englisch mit mir. Seit wann sie in Deutschland wohne? Seit acht Jahren; aber es sei fantastisch, dass man in Deutschland problemlos mit Englisch überall durchkomme; sie habe Deutsch immer noch nicht lernen müssen; die Kinder gingen in einen englischsprachigen Kindergarten, der älteste sei auf einem englischsprachigen Gymnasium. So sprechen wir also Englisch und auch etwas Französisch miteinander. Ich muss länger über das Gespräch nachdenken, und so kommen mir Fragen: Was sie wohl zu den afghanischen, pakistanischen und türkischen Zuwandererkindern in unseren öffentlichen Schulen sagen würde, in Schulen, vor denen sie ihre Kinder bewahren zu müssen meinte? Sollen sie auch kein Deutsch lernen?

Domänenverlust und seine Folgen

Dass sich das Englische weltweit als Verkehrssprache immer stärker verankert, steht jedem vor Augen. Im internationalen Austausch, im Handel, in den politischen Organisationen, in der Diplomatie, im Tourismus, in den Wissenschaften, in der Populärkultur – überall verdrängt das Englische die wenigen Konkurrenzsprachen, die noch grenzüberschreitend gesprochen werden. Unter den international verbreiteten Sprachen nimmt das Englische nach der Zahl der Sprecher den dritten Platz ein, hinter Mandarin und Spanisch – wenn man die 320 Millionen Muttersprachler zugrundelegt. Hinzu kommen aber noch 600 Millionen Menschen, die Englisch als Fremdsprache sprechen, sowie eine Milliarde Englischlerner.57

Uns interessiert hier vor allem, wie sich diese weltweite Dominanz des Englischen als lingua franca auf die deutsche Sprache in ihrem Gebrauchswert im eigenen Land auswirkt. Die Sogkraft der lingua franca ist nicht nur in den internationalen Beziehungen, sondern auch in „innerdeutschen“ Angelegenheiten spürbar. Ist sie eine echte Gefahr für die deutsche Sprache?

Der Wert einer Sprache bemisst sich rein praktisch nach ihren Verwendungsmöglichkeiten. Je mehr man an Inhalten in ihr ausdrücken kann, desto nützlicher ist sie. Wenn eine Sprache nicht für alle wichtigen Gegenstandsbereiche taugt, weil ihr die Worte dafür fehlen, spricht man von Gebrauchseinschränkung oder Domänenverlust. Dieser kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen. Er tritt ein, wenn ein Gegenstandsbereich gar nicht erst in der Muttersprache vorhanden ist. Oder er tritt ein, wenn die Muttersprache im betreffenden Bereich verdrängt wird, weil eine andere Sprache sich dort durchsetzt. Domänenverlust, Pidginisierung bis hin zum „Sprachentod“, der vor allem viele kleine der rund 6.000 Sprachen bedroht – das sind mögliche Phasen der Veränderung bis hin zum potentiellen Untergang einer Sprache. Das mag übertrieben klingen. Aber durchschnittlich sterben jährlich 25 Sprachen aus.58 Einer Studie der Volkswagen-Stiftung zufolge existiert in hundert Jahren schätzungsweise nur noch die Hälfte der derzeit gesprochenen Sprachen, der Rest wird von den großen Sprachen verdrängt werden.59 Florian Coulmas, der sich als Linguist mit ökonomischen Aspekten der Sprachen befasst hat, beschreibt den Sprachenrückgang ganz nüchtern: „Es geht um Situationen, in denen der Gebrauchswert einer Sprache abnimmt, sodass ihre Sprecher für die Erfüllung ihrer Kommunikationbedürfnisse zusätzlich eine andere, ihnen ursprünglich fremde Sprache heranziehen, deren Verwendungsbereich sie sukzessive auf immer mehr Kommunikationsdomänen ausdehnen, um schließlich ihre ursprüngliche Sprache durch sie zu ersetzen.“60 Historische Beispiele verschiedener Phasen eines solchen Prozesses sind zahlreich, von den Kreolsprachen der karibischen Inseln, die die Kolonialsprachen mit afrikanischen Herkunftssprachen mischen und daraus eine neue Sprache formen, über die der allmählichen Verdrängung der Herkunftssprachen durch die Sprache des Aufnahmelandes bei Auswanderern bis hin zum Sprachentod beispielsweise infolge der „Entdeckung“ Amerikas. In Deutschland selbst, das beispielsweise das Sorbische als Minderheitensprache schützt, haben gleichwohl „viele junge Sorben ohne Zwang, ja gegen die Zweisprachigkeitspolitik, den Wechsel zum Deutschen (…) vollzogen.“61 Andererseits gibt es auch das Gegenteil, nämlich die Revitalisierung einer alten Kultsprache, wie dies beim Hebräischen der Fall war.

Der Begriff des Sprachverfalls hat in der Sprachwissenschaft keinen guten Klang, weil in der öffentlichen Wahrnehmung allzu leicht Sprachwandel mit Sprachverfall gleichgesetzt wird. Wenn also die Konjunktion weil im mündlichen Gebrauch nicht mehr die Endstellung des Verbs nach sich zieht, fürchtet der eine oder andere, das sei das Ende des deutschen Nebensatzes. In offiziellen Texten wird aber nach wie vor die Endstellung des Verbs nach weil verlangt, und in der Schule wird sie auch so gelehrt. Insofern ist die Regel nach der unterordnenden Konjunktion noch in Kraft.

Sprachverfall als Prozess des Niedergangs einer Sprache ist aber nicht grundsätzlich eine Schimäre sprachkritischer Eiferer, sondern Sprachverfall kommt vor. Nüchtern formuliert tritt Sprachverfall erfahrungsgemäß dann ein, wenn die Sprache in immer weniger Bereichen gebraucht wird. Dann kommt es zu „systematischem Verfall von Grammatik und Lexikon.“62 In großen Schriftsprachen, die in Regelwerken festgeschrieben sind, unterrichtet werden und auch überregional verbreitet sind, setzt ein solcher Prozess nur sehr langsam und auch nur in gewissen Bereichen ein, und es ist ungewiss, ob sich daraus langfristig eine Dynamik zur Pidginisierung oder gar Sprachaufgabe entwickelt. Riskant wird es aber, wenn die Sprachgemeinschaft die eigene Sprache nicht mehr in den Bereichen verwenden will, die sie selbst für zukunftsentscheidend hält. Das zeigen die Lebenszyklen kleiner Sprachen. Die selbst herbeigeführte Gebrauchseinschränkung beschleunigt den Prozess des Wechsels zu einer anderen Sprache.

Ein weiteres Maß für den Nutzen einer Sprache ist ihre Verbreitung. Das Gesetz der Sprachverbreitung lautet nach Coulmas sinngemäß so: Je mehr Menschen eine Sprache lernen, desto nützlicher ist sie. Und je nützlicher sie ist, desto mehr Menschen wollen sie lernen. Da das Erlernen einer Sprache etwa 10.000 Stunden Einsatz erfordert, also eine echte Investition ist, sind die überregionalen Sprachen Konkurrenten auf dem Sprachenmarkt. Das Deutsche hat auf diesem Markt in den letzten Jahren bedeutende Anteile an Lernern verloren: von 20 Millionen im Jahr 2000 waren 2010 noch 14 Millionen übriggeblieben – auch wenn sich in der Folge der Staatsschuldenkrise der Trend seit 2012 wieder leicht zugunsten des Deutschen dreht, sodass die Deutsch-Lerner im Jahr 2015 bei 15,4 Millionen liegen.63 Die Verbreitung des Deutschen bleibt also eine drängende Aufgabe, wenn die Sprache ihren Nutzen nicht verlieren soll.

 
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