Der Tod setzt Segel

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Aus der Reihe: Ein Fall für Wells & Wong #9
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Der Tod setzt Segel
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Titel der Originalausgabe: Death sets sail

Erschienen bei Random House Children’s Publisher UK, a division of The Random House Group Limited.

Copyright Text © 2020 Robin Stevens

Published by Arrangement with Robin Stevens

Copyright Gestaltung © 2020 Nina Tara Design

Diese Ausgabe wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG,

München

Ein Unternehmen der Média-Participations

Umschlagadaption: Leonore Höfer, Knesebeck Verlag

Übersetzung: Nadine Mannchen, Helmbrechts

Lektorat: Theresa Scholz, Knesebeck Verlag

Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

eISBN 978-3-95728-604-8

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

www.knesebeck-verlag.de

Für meine Mutter, Kathie Booth Stevens, meine Heldin.

Der Tod setzt Segel

Ein Bericht über

den »Fall des Todes auf dem Nil«

im Rahmen der Ermittlungen der

Detektei Wells & Wong

mit der Unterstützung der

Junior Pinkertons.

Aufgezeichnet von Hazel Wong

(Schriftführerin und Vize-Vorsitzende der Detektei),

15 Jahre alt.

Begonnen am Mittwoch, 23. Dezember 1936.



AUFTRETENDE PERSONEN

DIE DETEKTIVE

Daisy Wells – Detektei Wells & Wong

Hazel Wong (Wong Fung Ying) – Detektei Wells & Wong

Amina El Maghrabi – Detektei Wells & Wong

Alexander Arcady – Junior Pinkertons

George Mukherjee – Junior Pinkertons

DIE DS HATSCHEPSUT

Mr Mustafa Mansour – Manager der DS Hatschepsut

Vincent Wong (Wong Lik Han) – Hazels Vater

Rose Wong (Wong Ngai Ling, auch bekannt als Ling Ling) – Hazels Halbschwester

May Wong (Wong Mei Li, auch bekannt als Äffchen) – Hazels Halbschwester

Pik An – Roses Magd (und während dieser Reise auch Mays Magd)

Miss Adeline Beauvais – Aminas Gouvernante

Mr Joseph Young – Tutor von Alexander und George

Ahmed – ein Matrose, Crewmitglied der DS Hatschepsut

Mrs Theodora Miller – Anführerin der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und die Reinkarnation von Hatschepsut

Hephzibah »Heppy« Miller – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Theodoras Adoptivtochter

Daniel Miller – ehem. Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Theodoras Adoptivsohn

Miss Ida Doggett – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Reinkarnation von Kleopatra

Miss Rhiannon Bartleby – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Reinkarnation von Nofretete

Mr Narcissus DeWitt – Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft und Reinkarnation von Thutmosis III.

Joshua Morse – ehem. Mitglied der Hauch-des-Lebens-Gesellschaft

FALLINGFORD

Rebecca »Küken« Martineau – Detektei Wells & Wong

Kitty Freebody – Detektei Wells & Wong

Lavinia Temple – Detektei Wells & Wong

Bertie Wells – Daisys Bruder

Harold Mukherjee – Georges Bruder

Chapman – Butler der Familie Wells

Hetty – Dienstmädchen der Familie Wells

Mrs Doherty – Haushälterin der Familie Wells

Toastie – ein Hund

Millie – ein Hund

Inhalt

TEIL EINS: KURZ VOR MITTERNACHT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL ZWEI: DER TOD WARTET

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

TEIL DREI: EIN GEFÄHRLICHER GEGNER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL VIER: DER TODESWIRBEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

TEIL FÜNF: MIT OFFENEN KARTEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

 

Kapitel 14

Kapitel 15

TEIL SECHS: RÄCHENDE GEISTER

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

TEIL SIEBEN: VORHANG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Aminas Ägypten-Führer

Anmerkungen der Autorin und Danksagung

• TEIL EINS •
KURZ VOR MITTERNACHT


1


Dies ist ein Bericht über den letzten Mordfall, den die Detektei Wells & Wong je gemeinsam gelöst hat.

Mein Name ist Hazel Wong und ich bin am Boden zerstört. Bisher habe ich fest daran geglaubt, dass sich die Dinge zwischen meiner besten Freundin Daisy und mir niemals ändern könnten, zumindest nicht wirklich. Selbst wenn der Rest der Welt aus den Fugen geraten und wie eine Weihnachtskugel auf dem Boden zerschellen sollte, könnte nichts uns beiden je etwas anhaben. Immerhin waren wir Wells & Wong. Wir waren die Detektei und würden immer Oberwasser behalten.

Doch nun muss ich einsehen, dass ich den Fehler begangen hatte, wie Daisy zu denken. In meinem Kopf haben sich ihre Stimme und meine eigene inzwischen so sehr miteinander vermischt, dass ich sie kaum noch auseinanderhalten kann, es sei denn, ich gebe mir bewusst die Mühe, innezuhalten und darüber nachzudenken – aber gerade das, nämlich innehalten, wollte ich nicht, nicht in diesem Fall. Außerdem hat Daisy mir versprochen … sie hat versprochen …

Allmählich sollte ich alt genug sein, um zu wissen, dass Versprechen gebrochen werden können, dass niemand unantastbar und auch der Mythos von Daisy Wells, dem Mädchen, das dem Tod die Stirn bietet, ohne auch nur einen Kratzer davonzutragen, eben nur das ist: ein Mythos.

Ich beginne mit diesem Bericht zu Hause bei Daisy, auf Fallingford, am Tag vor Heiligabend. Als ich zuletzt an Weihnachten hier war, waren in jedem Kamin prasselnde Feuer entzündet, neben der großen Haupttreppe stand ein herrlich beleuchteter, riesiger Baum und Hetty, das Hausmädchen der Familie Wells, brachte aus der Küche unzählige Teller voll Weihnachtsküchlein, importierter Gewürze und dampfender Leckereien. Dieses Weihnachten jedoch ist vollkommen anders. Im Haus ist es kalt und irgendwie andauernd dunkel, egal wie viele Lampen und Kerzen Chapman und Hetty anzünden. Mrs Doherty, die Köchin, hat die Plätzchen verbrennen lassen und selbst die Hunde wirken todtraurig. Meine kleinste Schwester May versucht gerade, sie mit Keksen zu füttern, doch die Hunde ignorieren sie, weshalb May die beiden anbrüllt.

»Ich glaube, ich hasse englische Weihnachtsfeiern«, hat meine andere Schwester, Rose, gerade gesagt und ich kann ihr nur recht geben.

Aber nicht über England will ich nun schreiben, sondern über Ägypten: die Helligkeit dort, wie die Sonne auf dem Nil glitzert, das Dröhnen und Rütteln unseres Kreuzfahrtschiffs unter meinen Füßen – und Daisy. In dem Augenblick, als wir die Kabine betraten und das Blut sahen, hielt ich alles für nichts anderes als ein weiteres aufregendes Abenteuer, ein neues Rätsel, das es zu lösen galt, doch nun muss ich einsehen, wie falsch ich lag. Ich habe es lange vor mir hergeschoben, diesen Fall zu dokumentieren. Doch nun, endlich, will ich diese letzten Tage – unseren letzten Mordfall – noch einmal Revue passieren lassen, um noch einmal bei ihr zu sein.

Vielleicht kann ich Daisy so wieder zum Leben erwecken.

2


Vermutlich nahm alles während des Herbsttrimesters auf der Deepdean seinen Anfang. Daisy und ich waren inzwischen Elftklässlerinnen, was sich schrecklich erwachsen und vielversprechend anhört – nur leider entpuppte sich die Realität als ebenso vernebelt und verwirrend wie das englische Herbstwetter.

Unsere Detekteikolleginnen hatten schlechte Laune – und einen ausgesprochen guten Grund dafür. Der Mutter unserer Freundin Küken ging es von Tag zu Tag schlechter, ohne dass irgendjemand etwas daran ändern konnte. Im Sommer hatten wir alle erstmals davon erfahren, dass ihre Krankheit unheilbar war. Sobald der Schock darüber allmählich nachgelassen hatte, begriffen wir, dass es in der englischen Sprache einfach nicht die richtigen Worte dafür gibt, um auszudrücken, wie sehr wir das bedauerten. Außerhalb von Büchern ist diese Trauer irgendwie viel weniger dramatisch, dafür kostet sie wesentlich mehr Kraft, als einem in Büchern vorgemacht wird.

»Ich will nicht, dass ihr mich bemitleidet«, sagte Küken entschieden. »SEHT mich nicht so an!« Also mussten wir so tun, als würde uns nicht auffallen, wie sie immer dünner wurde, bis die großen Augen in ihrem schmalen Gesicht riesig wie Kutschenlampen wirkten.

Wir mussten ungeheuer vorsichtig sein, wenn es in irgendeiner Form um Mütter ging. Sobald Küken den Schlafsaal betrat, verkniff Kitty sich die Beschwerden darüber, dass ihre Mutter ein Baby erwartete (»Es wird genauso furchtbar werden wie Binny! Wahrscheinlich sogar schlimmer!«). Und Lavinia entsorgte die aufmerksamen Nachrichten, die sie gemeinsam mit wunderschön verpackten Paketen voller Süßigkeiten und Kuchen von ihrer Stiefmutter Patricia bekam, damit Küken sie nicht zu sehen bekam.

Daisy dagegen behandelte das Thema natürlich in typischer Daisy-Manier. Sie war die Einzige von uns, die tatsächlich die meiste Zeit vergaß, dass Küken überhaupt eine Mutter hatte. Sie stürzte sich wieder in Lacrosse und Reiten und mogelte voller Hingabe einfallsreiche Fehler in ihre Aufsätze – und sie legte sich erneut mächtig ins Zeug, unseren Kleinkrieg mit dem anderen Schlafsaal anzufeuern, vor allem mit Amina El Maghrabi.

Zuerst war ich darüber ziemlich überrascht. Immerhin hatten wir nach den Ereignissen des vergangenen Sommers mit Amina Freundschaft geschlossen, hatte ich zumindest angenommen – und Amina war zu uns auch freundlich. Sie winkte uns auf dem Flur, sie plauderte mit uns beim Abendessen und sie wartete auf uns, damit wir gemeinsam zum Wohnheim laufen konnten. Gezwungenermaßen bedeutete das, dass wir automatisch wesentlich mehr Zeit mit Clementine Delacroix verbrachten als je zuvor, und zu meiner Verblüffung stellte ich fest, dass sie gar nicht so schlimm war, wie ich immer angenommen hatte. Außerdem mochte ich Amina sehr – sie war witzig, schlau und mutig. Ich war fest entschlossen, nett zu ihr zu sein, weil ich nur zu gut wusste, wie schwer man es auf der Deepdean hatte, wenn man nicht dem Ideal einer englischen jungen Dame entsprach.

Daher verstand ich einfach nicht, warum Daisy jede von Aminas freundschaftlichen Gesten mit einer Gehässigkeit quittieren musste. Ich ärgerte mich über Daisy, außerdem war es mir peinlich – eines Morgens, drei Wochen nach Schulbeginn, entschuldigte ich mich daher am Frühstückstisch bei Amina, während Daisy uns über eine Scheibe Toast hinweg erdolchende Blicke zuwarf.

»Ach, das macht mir nichts aus«, sagte Amina. »Sie meint es ja nicht so, oder, Daisy?« Sie zwinkerte Daisy zu, während sie sich Marmelade vom Daumen lutschte.

»WOHL KAUM!«, sagte Daisy unsinnigerweise, während ihre Wangen Farbe annahmen.

In diesem Moment hätte ich es begreifen sollen; nur tat ich das nicht.

Es dämmerte mir nicht, als Amina Daisy im Unterricht Zettel zuschob, die Daisy zerfetzte und unter dem Absatz zertrat. Es dämmerte auch nicht, als Amina Daisy fragte, was sie von ihrem Sonntagskleid hielt, und Daisy ihr voller Zornesröte im Gesicht antwortete, dass sie wie eine Vogelscheuche aussehe.

Der Groschen fiel erst, als ich während der fünften Schulwoche mitten in der Nacht aufwachte, weil etwas leise, eigentlich kaum wahrnehmbar, raschelte. Noch vor einem Jahr hätte mich das nicht geweckt, doch inzwischen waren meine Detektivinnensinne schärfer, daher war ich sofort in Alarmbereitschaft. Ich öffnete die Augen sehr vorsichtig und nur einen winzigen Spalt breit, atmete gleichmäßig und langsam weiter und spähte durch meine Wimpern zu Daisy, die in ihrem Bett saß. Flink wie eine Katze schwang sie die Füße zu Boden und setze sie behutsam auf. Eine Detekteibesprechung war nicht angesetzt – es gab gar keinen Fall zu bearbeiten; das Trimester war bisher völlig frei von Verbrechen gewesen. Daher war es mir ein Rätsel, was sie vorhatte. Ich gab acht, vollkommen reglos zu warten, bis sie sich ans Fenster geschlichen hatte, und setzte mich erst auf, als ich hörte, wie der Fensterrahmen quietschend nach oben geschoben wurde, gefolgt von den leisen Geräuschen von Händen und Füßen, die am Regenrohr hinaufkletterten.

Ich stand auf und stahl mich durchs Zimmer – obwohl Daisy es vermutlich nicht zugeben würde, hatte ich gelernt, mich ebenso leise zu bewegen wie sie, sodass keine der anderen aufwachte. Dann stand ich am Fenster. Abwartend sah ich Daisy nach, bis sie hoch über mir aufs Dach verschwand, dann erst streckte ich die Hände aus und kletterte selbst vorsichtig nach oben – auch darin bin ich inzwischen gut.

Schließlich zog ich mich auf das abfallende Dach hinauf. Da war Daisy. Die goldenen Haare unter einer dunklen Stola versteckt, kauerte sie im Schatten der Giebel. Angestrengt schaute sie wie eine Eule um einen runden Schornstein auf etwas auf der anderen Seite. Ich schlich mich hinter sie, hielt den Atem an und setzte sanft wie Seide einen Fuß vor den anderen.

»Hazel«, sagte Daisy, ohne sich umzudrehen. »Was fällt dir eigentlich ein?«

»Woher wusstest du, dass ich es bin?«, zischte ich verdattert. »Und … was machst du überhaupt? Warum schleichst du dich ohne mich weg? Ermittelst du?«

»Psst! Ich weiß immer, wenn du es bist. Du wüsstest doch auch immer, wenn ich es bin, oder nicht?«

Jetzt hatte ich sie erreicht. Ich linste über ihre Schulter, um zu sehen, was sie da inspizierte und –

»Daisy«, sagte ich, »warum beobachtest du Amina?«

Denn dort war Amina. Etwa zwanzig Schritte von uns entfernt lehnte sie im Schneidersitz an einem Dachgiebel und las im Schein einer Taschenlampe ein Buch. Bemerkt hatte sie uns nicht – sie schien vollkommen in ihrer eigenen Welt versunken.

»Sie verhält sich verdächtig«, flüsterte Daisy. »Sie ist eine mögliche Gefahr! Hazel, ich –«

Da begriff ich es: die eine Sache, die ich längst hätte sehen müssen. Allerdings war mir klar, dass ich Daisy nicht damit konfrontieren konnte. Noch nicht.

»Nein, ist sie nicht«, sagte ich. »Sie ist kein bisschen eine Gefahr! Du … du suchst nur zwanghaft nach einem Rätsel, das du dieses Trimester lösen kannst, und weißt, dass es keins gibt.«

Selbstverständlich entsprach dies nicht der Wahrheit.

»Hmpf!«, machte Daisy verärgert. »Aber es könnte eins geben, Hazel! Ständige Wachsamkeit!«

»Ich glaube, in diesem Fall bist du möglicherweise etwas zu wachsam.« Ich staunte selbst über meine Kühnheit – ich triezte Daisy Wells!

 

»Hazel, das ist nicht witzig. Aber … ach, eins muss ich dir zugestehen, hier gibt es nichts zu tun. Ich brauche nur so dringend eine Ablenkung! Alle sind so trübsinnig.«

»Wegen Kükens Mutter! Nicht alles ist ein faszinierendes Geheimnis, Daisy. Manche Dinge sind einfach nur traurig. Können wir jetzt wieder ins Bett, bevor ich erfriere?« Es war beinahe November und die Nacht war schneidend kalt. Amina hatte eine Decke und Daisy ihre Stola, doch ich trug lediglich meinen ganz normalen Schlafanzug.

»Von mir aus«, sagte Daisy. »Aber … Ach, wenn doch nur etwas Interessantes passieren würde!«

Daher kam es mir wie die Antwort auf all unsere Probleme vor, als Amina einige Tage später nach Latein zu uns trat und sagte: »Meine Eltern haben mir geschrieben. Was haltet ihr davon, Weihnachten in Ägypten zu verbringen?«

3


Daisy tat selbstverständlich so, als wäre sie alles andere als interessiert.

»Das müssen wir uns erst noch überlegen«, antwortete sie Amina kühl.

»Danke!«, ergänzte ich über die Schulter, als Daisy mich schon zurück zum Schlafsaal hetzte.

»Du solltest ihr nicht danken!«, zischte Daisy mich an. Plötzlich waren ihre Wangen vor Aufregung hochrot. »Immerhin könnten wir gar keine Zeit zum Verreisen haben!«

»Unfug!«, erwiderte ich. »Ägypten, Daisy! Da wolltest du schon immer hin!«

»Hmpf!« Über Daisys Nase zeigte sich die übliche Falte. »Ich … nun …«

»Mumien«, sagte ich. »Pyramiden. Tutanchamun. Ägypten ist voller Geheimnisse!«

Ich sah genau, wie Daisys Augen funkelten, auch wenn es ihr nicht recht war. »Ich muss erst Onkel Felix um Erlaubnis bitten. Er könnte Nein sagen.«

»Nie im Leben sagt er Nein!«, entgegnete ich. Es stimmt, dass Onkel Felix vorsichtig ist, wenn es um Daisy geht – sie ist seine einzige Nichte und er entwickelt ihr gegenüber einen richtigen Beschützerinstinkt. Aber genauso stimmt es, dass Daisy und ich Onkel Felix und seiner Frau, Tante Lucy, in den Sommerferien dabei geholfen hatten, ein gewisses Problem zu lösen. Wir hatten etwas gut bei ihm.

»Wir müssen uns wohl neu einkleiden«, sagte Daisy. »Unsere Garderobe aus Hongkong wird zu klein geworden sein. Und was ist mit deinem Vater?«

In der Tat bereitete mir die Reaktion meines Vaters die größten Sorgen – doch als ich ihn am Tag darauf anrief, klang er trotz der knisternden Leitung nahezu begeistert.

»Was für eine Gelegenheit!«, sagte er. »Hazel, ich weiß, ich habe versprochen, dich an Weihnachten in England zu besuchen, aber was, wenn wir stattdessen gemeinsam nach Ägypten reisen? Die Geschichte, die Kultur – ihr alle könntet dabei so viel lernen.«

Als mir das Kreischen vom anderen Ende der Welt ans Ohr drang, stellte ich mir meinen Vater in seinem Arbeitszimmer vor, umringt von meinen tanzenden kleinen Schwestern, während deren Mägde, Pik An und Ah Kwan, sich alle Mühe gaben, sie wegzuziehen.

»Ehrlich?« Ich wagte es kaum zu glauben. »Ich … darf wirklich hin?«

»Natürlich, meine Hazel. Wir können alle dorthin reisen.«

Auch Daisy kehrte strahlend von ihrem Telefonat zurück. »Onkel Felix hat zugestimmt«, berichtete sie mir. »Er … Oh, Hazel, ich glaube, wir reisen nach Ägypten!«

Überschäumend vor Freude lagen wir uns in der schäbigen Eingangshalle des Wohnheims in den Armen – und danach gab Daisy ihre Fassade endlich auf.

Es sprudelte nur so aus ihr heraus, während sie mir von Ägypten, Pharaonen, Flüchen und Überschwemmungen erzählte. Ihre Hausaufgaben erledigte sie doppelt so schnell wie sonst, damit sie noch in dicken, in Leinen gebundenen Wälzern über Forschungsreisen auf dem Nil und die Carter-Expedition lesen konnte, bei der Tutanchamun hatte ausgegraben werden sollen. »Es gab auch weibliche Pharaonen, weißt du?!«, berichtete sie mir mit leuchtenden Augen. »Frauen haben über ganz Ägypten regiert! Hatschepsut herrschte fünfzehn Jahre lang und sie trug einen falschen Bart, damit die Männer sie akzeptiert haben. Stell dir das nur vor! Glaubst du, mir würde ein Bart stehen?«

»Nein«, antwortete ich und streckte ihr die Zunge raus, obwohl ich sehr wohl wusste: Wenn überhaupt jemand mit einem falschen Bart gut aussähe, dann die Ehrenwerte Daisy Wells.

»Ja«, sagte Amina in der Reihe vor uns und drehte sich grinsend zu Daisy um, die schrecklich rot wurde und den Kopf hinter ihrem Buch verbarg.

»Natürlich bist du vor allem daran interessiert, die Pharaonen zu sehen«, sagte ich später zu Daisy.

»Selbstverständlich«, bestätigte Daisy, ohne mit der Wimper zu zucken. »Was sollten wir sonst in Ägypten wollen?«

Das brachte mich auf eine Idee. Wenige Tage später faltete ich im Englischunterricht in meinem Aufsatzheft einen Zettel, tauschte meinen normalen Stift gegen einen weit ungewöhnlicheren, den ich ganz unten in meinem Schulranzen aufbewahrte, und setzte etwas auf, das gewiss nicht die Abhandlung über Spenser war, um die Miss Dodgson gebeten hatte.

Lieber Alexander, schrieb ich mit klopfendem Herzen, wobei meine Worte sich beinahe sofort in Nichts auflösten, sobald sie aus meinem Stift geflossen waren.

Wie läuft es an der Weston? Haben du und George das Problem mit dem Hund gelöst? Hier geht es meistens sehr langweilig zu. Keine Fälle. Und ohne sind wir irgendwie alle ein bisschen neben der Spur.

Aber gute Nachrichten: Man hat uns für die Weihnachtsferien nach Ägypten eingeladen. Daisy ist schrecklich aufgeregt, auch wenn sie es abstreitet, und ich bin es auch. Wir sind extra vom Unterricht befreit, damit wir vorzeitig die Schule verlassen dürfen, weil es als eine lehrreiche Exkursion gilt. Zuerst besuchen wir die Familie von Amina El Maghrabi in Kairo, dann wird Vater mit meinen Schwestern May und Rose (Weißt du noch, ich habe euch von ihnen erzählt?) zu uns stoßen. Gemeinsam wollen wir nach Luxor, um am 13. Dezember zu einer Kreuzfahrt auf dem Nil aufzubrechen. Wirst du deine Eltern in Boston besuchen? Komisch, dass wir alle uns nun erst nächstes Jahr wiedersehen werden.

Liebe Grüße an George – und dich

Hazel

Ich war fertig, noch bevor mir Zeit blieb, darüber nachzudenken, was ich da eigentlich tat. Diese letzten beiden Wörter – und dich – hatten sich in meinem Kopf wahnsinnig gewagt angehört, doch auf dem Papier wirkten sie eher peinlich, wie etwas, das ein überdrehter Shrimp schreiben würde. Trotzdem drehte ich den Brief möglichst schnell um, tauschte zurück zu meinem normalen Füller und schrieb:

Lieber Alexander,

schon zweimal Grütze diese Woche! Widerlich. Und dann diese Lateinhausaufgaben … schrecklich öde. Hoffentlich habt ihr mehr Spaß.

Auf dem Sprung zur Andacht

Henry

Ich faltete den Brief und adressierte ihn an Alexander Arcady, Weston-Schule. Diese Art der Korrespondenz nutzten Alexander und ich seit Jahren, nachdem wir sie uns nach unserem ersten gemeinsamen Fall im Orientexpress ausgedacht hatten.

Am Abend steckte ich meinen Umschlag auf dem Weg von der Schule zum Wohnheim in den Briefkasten, während Daisy Amina und Clementine, die gemeinsam kicherten, nachdrücklich ignorierte – und dann war es zu spät, mir länger den Kopf darüber zu zerbrechen.

Eine Woche später erhielt ich eine Postkarte mit der Vorderansicht des British Museums darauf.

Georgina liebt Mumien. Genau wie ich. Alexandra x

Das kleine x verlieh mir Aufwind wie ein Drachen und versüßte mir endlose verregnete Sportstunden, die Streitereien zwischen Kitty und Küken und die zwischen Lavinia und dem Rest der Welt, die Andachten, Französisch und den Benimmunterricht. Ich bemühte mich sehr, nicht allzu viel hineinzuinterpretieren, konnte aber doch an nichts anderes denken.

Wir würden tatsächlich nach Ägypten reisen. Mit einem Mal stellte ich fest, dass ich vor Aufregung kaum noch Luft bekam.