Der Topophilia-Effekt

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Die Geheimnisse der Etrusker

Unseren Ahnen war die Wirkung von Orten bewusster als uns selbst. Das dokumentiert unter anderem die Geschichte der Etrusker, die sie bei ihrer Besiedelungsstrategie berücksichtigten und rund um sie bis heute erhaltene Baudenkmäler schufen.

Dass Orte eine Wirkung haben, spüren viele Menschen intuitiv. Wir haben alle schon einmal Sätze gesagt wie: »Ich habe mich dort gleich wohl gefühlt.« Oder im umgekehrten Sinn: »Ich habe mich dort gleich unwohl gefühlt.«

Die meisten Menschen berücksichtigen diese Eindrücke, wenn sie sich beispielsweise für oder gegen eine Wohnung oder ein Haus entscheiden. Viele geben diesen Empfindungen mehr Bedeutung als Kriterien wie Balkon, Raumgröße- und höhe oder Parkplatzangebot. Von der ersten Nacht in einer Wohnung heißt es, man solle die Träume beobachten, denn sie hätten Bedeutung für das Leben dort.

Erst jüngst lief im Bayrischen Fernsehen ein Beitrag über eine uralte Linde, von der die Eltern den Kindern und die wieder ihren Kindern erzählen, dass sie deshalb so mächtig ist, weil sie auf einer Wasserader steht und dass sie aus dem gleichen Grund in zwei Hauptstämme gespalten ist. Im Dorf gehört das genauso zum Wissen wie etwa, wo der nächste Supermarkt liegt oder wo man im Sommer baden geht.

Ich kenne Menschen, die eine Wohnung nicht haben wollen, weil dort früher eine Zahnarztpraxis war, die sie mit Schmerz assoziieren. Ebenso kenne ich eine Frau aus der oberösterreichischen Landeshauptstadt Linz, die ihr Leben lang einen bestimmten Platz in der Innenstadt mied, ohne zu wissen warum, bis ihr jemand erzählte, dass dort einmal eine Synagoge abgebrannt ist. Es war eine schreckliche Katastrophe mit mehreren Toten. Ich kenne auch erfolgreiche Unternehmer, die lange zögern, ehe sie ihren Firmensitz wechseln, weil sie fürchten, an dem neuen Ort könnte die Energie schlechter sein und ihren Geschäften schaden.

Ist das alles wirklich nichts als Aberglaube?

Auch mir selbst war die Wirkung von Orten bewusst, lange bevor ich mich wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen begann. So etwa hatte mich als Historikerin schon immer das antike Volk der Etrusker fasziniert. Die Etrusker lebten wahrscheinlich von 800 v. Chr. an im Raum der heutigen italienischen Regionen Toskana, Umbrien und Latium bis ihre Kultur in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. im römischen Reich aufging.

Die Etrusker waren ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Volk und würden viel mehr historische Beachtung verdienen. Nicht nur, weil sie einer alten Überlieferung zufolge die Herrschaftsdauer und das Ende ihres eigenen Volkes ziemlich präzise vorhersagten. Sie waren auch in den Belangen des täglichen Lebens enorm weit. Sie waren ausgezeichnete Seefahrer und besaßen ein langjähriges Monopol auf die sogenannte Metallroute, die von der Ägäis bis in den Nahen Osten reichte. Bearbeitung von Metallen war so auch, neben dem Handel mit Öl und Wein, ein wichtiges Merkmal ihres Wirtschaftssystems, weshalb sie in der Goldschmiedekunst, der Hydraulik, der Architektur und dem Schiffbau glänzten.

Heute sind sie vor allem für die Gestaltung ihrer Gräber bekannt. Die versahen sie mit Malereien, in denen sich ihre Einstellung zum Tod widerspiegelt. Die Bilder zeigen, dass sie in jeder Hinsicht das Leben feierten. Teilweise finden sich in diesen Zeichnungen aus heutiger Sicht sogar pornografische Inhalte.

Interessant sind auch die Tempel der Etrusker, die sie mitten in die Natur errichteten und mit ihr verbanden. Ihre Spiritualität drehte sich um das »Sacer der Erde«, also um die Ur-Energie der Erde, die, gemäß ihren Überzeugungen, alles erschaffen hat, aber ebenso gut alles zerstören kann. Diese Energie verehrten sie als Gottheit.

Für die Etrusker scheint das Bewusstsein, dass Orte auf sie wirken, ganz selbstverständlich gewesen zu sein und ihren Alltag in vielen Fragen des Lebens durchdrungen zu haben. Besonders interessant fand ich schon immer ihren Brauch der »Leberschau«.

Die Leberschau war ein unverzichtbarer zeremonieller Bestandteil eines Festes, das sie einmal im Jahr einberiefen. Und zwar im »Fanum Voltumnae«, was so viel wie heiliger Bezirk, heiliger Ort an Voltumna, einer etruskischen Gottheit gewidmet, bedeutet. Herzstück der Anlage ist ein u-förmiges Areal mit einem Tempel im Zentrum und zwei Brunnen. Prachtstraßen, gesäumt von Kanälen, führten zu dem Tempel und wurden höchstwahrscheinlich für religiöse Prozessionen genutzt. Einmal jährlich, im Frühjahr, trafen sich laut römischen Schriftstücken die führenden Priester und Politiker der Etrusker dort.

Man kann es sich als Volksfest vorstellen, mit allem, was die Antike dafür zu bieten hatte: Theateraufführungen, sportliche Wettkämpfe, Märkte und überall Menschenmassen, Athleten, Musiker, Tänzer, Gaukler, Händler, Gläubige und Pilger. Erstaunlich war auch, dass die etruskischen Frauen damals – ganz gegen die Gewohnheiten der Römer, die darüber auch aus der Ferne die Nasen rümpften – dem bunten Treiben beiwohnten.

Bei diesem jährlichen Treffen fand immer auch eine Leberschau statt. Nur der oberste Priester, genannt Haruspex, durfte sie durchführen. Je nach Beschaffenheit der Leber von unterschiedlichen Opfertieren, erstellte er Prognosen für die Zukunft. Dabei teilte er die Leber in Regionen auf, die Bezeichnungen, wie Berg, Fluss, Straße, Palast, Ohr, Bein, Finger, Zahn, Vulva, Hoden und so weiter bekamen. Ungewöhnliche Löcher in der Leber galten als böses Omen.

Doch die Etrusker nutzten die Leberschau auch bei ihrer Besiedelungs-Strategie, und zwar, um die gute oder schlechte Wirkung von Orten auf Menschen zu klären. Bevor sie eine neue Stadt gründeten oder ein Gebäude errichteten, brachten sie ihre Schafe zu dem betreffenden Ort und ließen sie dort eine Zeit lang weiden. Manche Quellen behaupten, das dauerte ein Jahr lang. Andere meinen, der Zeitraum sei wesentlich kürzer gewesen, im Bereich von nur 14 Tagen.

Nachdem nun die Schafe dort für einen bestimmten Zeitraum geweidet hatten, schlachteten sie eines der Tiere und untersuchten seine Leber. War sie in schlechtem Zustand, töteten sie ein weiteres Schaf, um herauszufinden, ob sie nur zufällig ein krankes Tier erwischt hatten. Wenn auch die Leber dieses Tieres angeschlagen war, hieß das für sie, dass der Ort keine gute Energie hatte und sie verließen ihn.

Alten Berichten zufolge nutzten übrigens auch viel spätere Kulturen Tiere bei ihrer Besiedelungsstrategie. So wie vor mehr als 2000 Jahren die Etrusker ihre Leberschau abhielten, um die Qualität eines Ortes auszukundschaften, trieben Bauern Jahrhunderte später und bis in die Neuzeit hinein ihre Schweine auf ein Grundstück, das sie neu zu bebauen gedachten. Versammelten sich die Tiere an einem bestimmten Punkt, so deuteten die Menschen dies folgendermaßen: Hier können wir das Haus, den Stall etc. errichten, hier ist ein unbelasteter Platz.

Schon als ich zum ersten Mal vom Brauch der Etrusker las, fragte ich mich, wie heute die Luftbilder besiedelter Landschaften aussehen würden, wären wir bei der Bewertung von Orten den von den Etruskern angelegten Maßstäben treu geblieben. Wenn ich lieblos zusammengefügte Gebäudekonglomerate sehe, Städte, die einzig Sachzwängen, wie Verkehrsanbindungen folgend über ihre Ränder hinauswucherten oder zusammengewürfelte Einkaufs- und Fachmarktzentren mit billigen Wohntürmen dazwischen, fragte ich mich, was die Etrusker wohl dazu gesagt hätten. Und wie viele Gebäude nicht dort stehen würden, wo sie stehen, hätten sie mitreden können. Ich fragte mich auch, wie viele Menschen dann vielleicht gesünder und glücklicher wären, und ob es am Ende so viele wären, dass staatliche Gesundheitsbudgets kleiner sein könnten und die gesellschaftliche Grundstimmung eine entschieden bessere wäre.

Die Etrusker hatten das von ihnen angewandte Wissen über die Wirkung von Orten übrigens nicht selbst entwickelt, sondern ihrerseits von den Kulturen vor ihnen, wahrscheinlich von den Babyloniern, übernommen. Aus heutiger Sicht ist es dabei ein Glücksfall, dass die Etrusker später im römischen Reich aufgingen. Andernfalls wäre von diesem Wissen und allem anderen, das sie ausmachte, viel weniger überliefert. Denn bis heute entzieht sich das wenige, das von den Schriften der Etrusker erhalten ist, der Lektüre. Die Schriften haben zwar teilweise Ähnlichkeit zum altgriechischen Alphabet, doch konnte sie bisher über winzige Fragmente hinaus niemand entziffern. Und das in einer Zeit, da Maschinen jeden noch so komplizierten Code binnen kurzem knacken können. Einer der bekanntesten Etruskologen war der römische Kaiser Claudius, der von 10 v. Chr. bis 54 n. Chr. lebte. Er verfasste ein zwanzigbändiges Werk über die Etrusker, deren Kultur und Geschichte er bewunderte. Doch leider ist es bis auf wenige Zitate und Auszüge nicht erhalten.

Insbesondere ihre Hohlwege bleiben rätselhaft, bei deren Errichtung sie ebenfalls mit der Wirkung von Orten gearbeitet haben dürften. Es handelt sich dabei um bis zu vier Meter breite und bis zu zwanzig Meter hohe Felsschluchten mit steilen Seitenwänden, in den Boden gegraben, nahe den Ortschaften Sorano, Sovana und Pitigliano im Süden der Toskana. Doch zu welchem Zweck? Keine der drei darüber herrschenden Theorien ist wirklich befriedigend.

Eine davon besagt, dass die Hohlwege Teil eines Systems zur Trockenlegung von Feldern waren. Allerdings: Kleine Abflusskanäle hätten denselben Effekt erzielt. Wozu also so viel Aufwand betreiben? Das wäre alles andere als pragmatisch gewesen. Und Pragmatismus ist etwas, worauf unsere Ahnen nachweislich setzten.

Die zweite Theorie besagt, dass die Hohlwege ursprünglich gar nicht so tief waren, sondern erst durch das ständige Begehen entstanden. Alte Menschen vor Ort wissen allerdings, dass sich seit ihrer Jugend nichts an der Tiefe dieser Wege verändert hat, obwohl immer Menschen dort gegangen sind. Warum sollte das zur Zeit der Etrusker anders gewesen sein?

 

Die dritte Theorie lautet: Die Hohlwege waren schlichtweg Verbindungs- und Transportrouten zwischen Orten. Aber: Sie laufen oft neben normalen Straßen nebeneinander her. Außerdem enden sie irgendwo. Einfach im Nichts.

Fest steht so viel: Diese Hohlwege verfügen über ein spezielles magnetisches Feld. Magnetische Felder, so die Vermutung, sind in der Lage, körperliche Prozesse zu beeinflussen und zu verändern. Demnach könnten sie auch Heilungen bewirken. Eine wissenschaftlich fundierte vierte Theorie über den Sinn der Hohlwege lässt sich daraus noch nicht entwickeln. Jedoch lässt sich historisch belegen, dass unsere Ahnen mit derartigen Kräften gearbeitet haben, meist wohl unbewusst, ohne die ihnen zugrunde liegenden physikalischen und chemischen Zusammenhänge zu kennen.

Erkannten sie an bestimmten Orten, dass da etwas ist, das wirkt, das Einfluss auf sie ausübt, so mieden sie diese Plätze. Oder sie machten sie für ihre Zwecke nutzbar. Wissenschaftlich einzuordnen verstanden die Etrusker dies sicher nicht. Doch das dürfte ihnen ziemlich egal gewesen sein. Der Zwang zur alleinigen Deutungshoheit der Wissenschaft über die Welt ist menschheitsgeschichtlich betrachtet ein blutjunges Phänomen.

Das Geisterhaus

Viele meiner Auftraggeber wollen möglichst genau wissen, wie das mit der Wirkung der Orte ist, wie sie entsteht, wenn sie nicht auf Ursachen wie Bodenstrahlungen zurückzuführen ist. Dann geht es manchmal um die Henne-Ei-Frage: Prägt ein Ort von Anfang an die Menschen, die ihn benutzen? Entstehen also die historischen Muster, die ich entdecke, allein aus ihm heraus? Oder prägen zuerst Menschen mit ihrem Verhalten den Ort und er gibt diese Prägungen an die nächsten Generationen weiter?

Mit einer historischen Expertise kann ich diesbezüglich nicht aufwarten. Was ich kann, ist subjektiv auf Basis meiner Erfahrung und meiner Intuition antworten. Ich glaube, dass es eine ständige Wechselwirkung gibt, einen ständigen Austausch von Energien zwischen uns Menschen und den Orten, die wir benützen.

Warum besuchen wir so gerne die Ateliers großer Künstler, auch wenn sie längst verstorben sind? Hat die Magie dieser Orte die Künstler hervorgebracht, oder haben die Künstler mit ihrer Magie diese Orte geprägt? Ich denke, dass es beides ist. Wenn ich ein Bild sehe oder ein literarisches Werk lese, interessiere ich mich immer dafür, wo der Künstler oder die Künstlerin daran gearbeitet hat. Ich finde immer Manifestationen des Ortes im Werk, ganz vordergründige, in Form von Darstellungen und Beschreibungen, aber auch subjektive, die etwas mit Atmosphäre zu tun haben.

Andererseits verstehe ich auch, warum Menschen sich an Orten inspiriert fühlen, an denen Großes geschaffen wurde, und dass sie dort an der dabei frei gewordenen Energie teilzuhaben glauben. Als hätte dieses Große den Ort mit etwas aufgeladen, von dem sie etwas für sich mitnehmen können.

Ich will versuchen, das anhand eines Hauses an einem Waldrand zu erklären. Es steht mitten in der Natur, ohne direkte Nachbarschaft. Wer sich dort aufhält, kann ungestört die Ruhe genießen, nur ab und zu kommen Wanderer vorbei. Das Haus hat einen Keller, ein Erdgeschoss, ein Stockwerk und eine weitläufige Terrasse, von wo der Blick auf den angrenzenden Wald fällt.

Der Besitzer kontaktierte mich, weil er das Haus vermieten wollte, aber niemanden fand, der dort wohnen wollte. Er hatte keine Erklärung dafür. Immerhin war das Gebäude in ausgezeichnetem Zustand und die Umgebung konnte schöner kaum sein. Mit diesem Wissen machte ich mich an die Recherche.

Die Geschichte des Hauses war relativ jung, da es erst Anfang der 1940er-Jahre errichtet worden war. Ein verliebtes und frisch verheiratetes Paar wollte sich dort ein glückliches gemeinsames Leben aufbauen. Der Mann war Tischler, die Frau absolvierte in der Zeit, als sie eine gemeinsame Bleibe suchten, eine Ausbildung zum Bürofräulein, wie das damals noch hieß.

Nachdem sie das Grundstück gekauft hatten, machten die beiden große Pläne für das Haus. Es sollte gemütlich werden und ausreichend Platz bieten, für sie selbst und für die Kinder, die sie haben wollten. Das erste war schon unterwegs.

Dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Der Mann wurde einberufen und musste seine schwangere Frau allein lassen. »Kümmere dich um das Haus«, sagte er zum Abschied und strich ihr durch die rotblonden Haare. »Wenn ich wieder zurück bin, genießen wir jeden einzelnen Tag in unserem schönen, neuen Eigenheim. Versprichst du mir das?«

»Ja, das verspreche ich dir«, beteuerte sie unter Tränen. »Pass gut auf dich auf! Und komm so schnell wie möglich wieder nach Hause.«

So oder so ähnlich muss der Abschied zwischen den beiden wohl verlaufen sein, zumindest wiesen die Aufzeichnungen und Erzählungen, die von der Frau überliefert waren, darauf hin. Vor allem lagen mir Briefe vor, die sie ihrem Mann und dem Vater ihres noch ungeborenen Kindes schrieb. Sie fingen immer mit »Mein süßer, tapferer Ehemann!« an.

In der Folge erzählte sie, wie sie mit dem Hausbau vorankam. Sie schilderte bis ins kleinste Detail, wie die Küche aussah und das Badezimmer. »Für das Baby ist jetzt alles vorbereitet«, schrieb sie einmal. »Ich habe weiße Gardinen genäht und eine Bordüre mit Blumenmuster als Wandschmuck gewählt. Das Gitterbettchen steht auch schon bereit. Ich freue mich schon so sehr darauf, wenn das Kind endlich da ist. Noch ein paar Wochen, dann ist es so weit. Dann darf ich unseren Schatz zum ersten Mal in den Armen halten. Ich hoffe, die Geburt verläuft gut und ohne Probleme. Ich wünschte, du wärst hier. Ich werde unbeschreiblich glücklich sein, wenn du wieder bei uns bist. Ich hoffe, dir geht es gut und du kehrst bald zu uns zurück. Du fehlst mir so. Pass auf dich auf. Wenn du da bist, sitzen wir abends im Kinderzimmer und sehen unserem Baby beim Schlafen zu. Das machen wir, machen wir das? Ich sende dir tausend Küsse in die Ferne.«

Das Leben hatte allerdings andere Pläne für die junge Frau. So kam, was Sie an dieser Stelle vielleicht schon geahnt haben: Der Mann fiel im Krieg und die junge Frau musste ihre Tochter allein zur Welt bringen und großziehen. Das fertige Haus bezog sie nie. Zu groß waren ihr Schmerz und ihre Trauer um den Verlust ihres Mannes. Zu viele unerfüllte Hoffnungen und Träume waren damit verbunden. Sie blieb lieber bei ihrer Familie und verbrachte den Rest ihres Lebens in ihrem Elternhaus.

Das Haus, das für sie und ihren Mann gedacht war, besuchte sie jeden Tag. Sie hielt es sauber und wohnlich. Manchmal verlor sie sich dabei in Tagträumen. Dann hatte sie so bunte und lebhafte Bilder von ihm vor ihrem inneren Auge, dass ihr ein paar Momente lang war, als wäre er gar nicht gefallen. Als würde er vielmehr jeden Moment zur Tür hereinspazieren, »Hallo, Schatz, ich bin wieder hier!«, würde er rufen und sie dafür loben, was sie aus dem Haus gemacht hatte. Sie würde auf der Stelle alles stehen und liegen lassen und sich voller Freude in seine Arme werfen. Tränen der Erleichterung würden über ihre Wangen rollen.

Doch nach wenigen Sekunden verlor ihr Körper jegliche Spannung und sie ließ die Schultern verzagt hängen. Sie wusste, dass das nie passieren würde. Ihr Mann war tot und würde nie wieder heimkehren. Dann öffnete sie stumm alle Fenster, um zu lüften und wenn sie damit fertig war, schloss sie die Tür hinter sich wieder ab.

Ihr ganzes Leben lang machte sie das so.

Als die Frau starb, erbte ihre längst erwachsene Tochter das Haus. Sie fühlte sich dort nie wohl, weil es sie an das Leid ihrer Mutter erinnerte und an ihren Vater, den sie nie kennengelernt hatte. An so einem Ort wollte sie nicht leben. Doch aus Respekt gegenüber ihrer Mutter entschied sie sich dagegen, das Haus zu verkaufen. Sie behielt es und fuhr regelmäßig hin, um nach dem Rechten zu sehen. Sie sorgte dafür, dass ihr eigener Sohn lange nichts davon mitbekam. Sie wollte ihn nicht belasten mit den düsteren Gefühlen, die an dem Haus hafteten.

Als ihr Sohn älter wurde, wurde er dennoch aufmerksam auf das alte Haus. »Ich will es sehen! Nimm mich mit«, bat er seine Mutter. Zu diesem Zeitpunkt war er selbst schon erwachsen.

»Wie du willst«, antwortete sie ihm. »Erwarte aber nicht zu viel. Es ist nichts weiter als ein leerstehendes, altes Haus.«

»Das macht nichts. Ich will es trotzdem sehen«, beharrte ihr Sohn. Er wollte den Ort sehen, der so eng mit der tragischen Geschichte seiner Großmutter verknüpft war.

Als der Sohn das Haus zum ersten Mal betrat, war er erstaunt. Alles war eingepackt, sogar der Kachelofen war in Plastik gehüllt. Wie im Dornröschenschlaf offenbarte sich ihm das Innenleben dieses Hauses und er entschloss sich, den Räumen endlich Leben einzuhauchen.

Als ich selbst vor Ort war, konnte ich mich von der liebevollen Auswahl an Mobiliar überzeugen, die seine Großmutter getroffen hatte. Viele alte Sachen erinnerten an das junge Paar, das hier zu Beginn des Zweitens Weltkriegs ein glückliches Leben geplant hatte. Da und dort lehnten Bilder von dem angehenden Bürofräulein und dem Tischler. In einem Zimmer stand eine verglaste Vitrine, die in der typischen Formensprache der 1940er-Jahre gehalten war und die unter Antiquitätensammlern vielleicht sogar einiges wert war. Darin befand sich altes Werkzeug aus der Werkstatt des Tischlers. Alte Meißeln und Zangen lagen sorgfältig nebeneinander aufgereiht. In einer weißen Schüssel aus Porzellan hatte die Frau sogar eine Handvoll Holzspäne aufbewahrt. Neben der Vitrine stand ein dunkelbrauner Werkzeugkoffer, ebenfalls voll mit Arbeitsutensilien des Gefallenen.

Es war eine Zeitreise, das Haus zu betreten und das Plastik schien nicht nur die Möbel, sondern auch den Schmerz zu konservieren. Selbst ich spürte dort eine innere Schwere.

»Für mein Empfinden ist das alles hier mit trauriger Energie aufgeladen«, sagte ich zu meinem Auftraggeber, dem Enkel des Bürofräuleins und des Tischlers, nachdem er mich durch alle Zimmer geführt hatte. Ich erklärte ihm, dass die Trauer in diesem Haus auf gewisse Weise gespeichert war. »Es war mein erster Eindruck, als ich das Haus betrat«, sagte ich. »Verstehen Sie, was ich meine?«

Er nickte. »Ich sollte wohl die Einrichtung loswerden«, sagte er. »Ich könnte einen Teil verkaufen und den Rest spenden. Dann lüfte ich gründlich und lasse alles neu ausmalen.«

Der Enkel befreite das Haus von seiner Trauer, die sich über all die Jahre auf diesen Ort übertragen zu haben schien. Inzwischen wohnt eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern dort. Sie erfüllt das einstige Geisterhaus mit frischem, neuem Leben und prägt diesen Ort damit möglicherweise für künftige Generationen um.