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Die Vollendung der Liebe

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Die Vollendung der Liebe
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»Kannst du wirklich nicht mitfahren?«

»Es ist unmöglich; du weißt, ich muß trachten, jetzt rasch zu Ende zu kommen.«

»Aber Lilli würde sich so freuen . . .«

»Gewiß, gewiß, aber es kann nicht sein.«

»Und ich habe gar keine Lust ohne dich zu reisen . . .« Seine Frau sagte das, während sie den Tee einschenkte, und sie sah dabei zu ihm herüber, der in der Ecke des Zimmers in dem hellgeblümten Lehnstuhl saß und an einer Zigarette rauchte. Es war Abend und die dunkelgrünen Jalousien blickten außen auf die Straße, in einer langen Reihe anderer dunkelgrüner Jalousien, von denen sie nichts unterschied. Wie ein Paar dunkel und gleichmütig herabgelassener Lider verbargen sie den Glanz dieses Zimmers, in dem der Tee aus einer matten silbernen Kanne jetzt in die Tassen fiel, mit einem leisen Klingen aufschlug und dann im Strahle stillzustehen schien, wie eine gedrehte, durchsichtige Säule aus strohbraunem, leichtem Topas . . . In den etwas eingebogenen Flächen der Kanne lagen Schatten von grünen und grauen Farben, auch blaue und gelbe; sie lagen ganz still, wie wenn sie dort zusammengeflossen wären und nicht weiter könnten. Der Arm der Frau aber ragte von der Kanne weg und der Blick, mit dem sie nach ihrem Manne sah, bildete mit ihm einen starren, steifen Winkel.

Gewiß einen Winkel, wie man sehen konnte; aber jenes andere, beinahe Körperliche konnten nur diese beiden Menschen in ihm fühlen, denen es vorkam, als spannte er sich zwischen ihnen wie eine Strebe aus härtestem Metall und hielte sie auf ihren Plätzen fest und verbände sie doch, trotzdem sie so weit auseinander waren, zu einer Einheit, die man fast mit den Sinnen empfinden konnte; . . es stützte sich auf ihre Herzgruben und sie spürten dort den Druck, . . er richtete sie steif an den Lehnen ihrer Sitze in die Höhe, mit unbewegten Gesichtern und unverwandten Blicken, und doch fühlten sie dort, wo er sie traf, eine zärtliche Bewegtheit, etwas ganz Leichtes, als ob ihre Herzen wie zwei Schwärme kleiner Schmetterlinge ineinanderflatterten . . . .

An diesem dünnen, kaum wirklichen und doch so wahrnehmbaren Gefühl hing, wie an einer leise zitternden Achse, das ganze Zimmer und dann an den beiden Menschen, auf die sie sich stützte: Die Gegenstände hielten umher den Atem an, das Licht an der Wand erstarrte zu goldenen Spitzen, . . es schwieg alles und wartete und war ihretwegen da; . . die Zeit, die wie ein endlos glitzernder Faden durch die Welt läuft, schien mitten durch dieses Zimmer zu gehen und schien mitten durch diese Menschen zu gehen und schien plötzlich einzuhalten und steif zu werden, ganz steif und still und glitzernd, . . und die Gegenstände rückten ein wenig aneinander. Es war jenes Stillstehen und dann leise Senken, wie wenn sich plötzlich Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet . . . Um diese beiden Menschen, durch die seine Mitte lief und die sich mit einemmal durch dieses Atemanhalten und Wölben und Um sie lehnen wie durch Tausende spiegelnder Flächen ansahen und wieder so ansahen, als ob sie einander zum erstenmal erblickten . . . .

Die Frau setzte den Tee ab, ihre Hand legte sich auf den Tisch; wie erschöpft von der Schwere ihres Glücks, sank ein jedes in seine Kissen zurück, und während sie sich mit den Augen aneinander festhielten, lächelten sie wie verloren und hatten das Bedürfnis nichts vor sich zu sprechen; sie sprachen wieder von dem Kranken, von einem Kranken eines Buches, das sie gelesen hatten, und sie begannen gleich mit einer ganz bestimmten Stelle und Frage, als ob sie daran gedacht hätten, obwohl das nicht wahr war, denn sie nahmen damit nur ein Gespräch wieder auf, das sie schon durch Tage in einer sonderbaren Weise festgehalten hatte, so als ob es sein Gesicht verbürge und, während es von dem Buche handelte, eigentlich anderswohin sähe; nach einer Weile waren ihre Gedanken dann auch ganz merklich über diesen unbewußten Vorwand wieder zu ihnen selbst zurückgekehrt.

»Wie mag ein solcher Mensch wie dieser G. sich wohl selbst sehen?« fragte die Frau und sprach – in Nachdenken versunken, fast nur wie für sich allein – weiter. »Er verführt Kinder, er verleitet junge Frauen, sich selbst zu schänden; und dann steht er da und lächelt und starrt gebannt auf das bißchen Erotik, das irgendwo wie ein schwacher Schein in ihm wetterleuchtet. Glaubst du, daß er unrecht zu handeln meint?«

»Ob er es meint? . . . Vielleicht; vielleicht nicht«, antwortete der Mann, »vielleicht darf man bei solchen Gefühlen gar nicht so fragen.«

»Ich glaube aber«, sagte die Frau, und jetzt zeigte sich darin, daß sie gar nicht von diesem einen zufälligen Menschen sprach, sondern von irgend etwas Bestimmtem, das für sie bereits hinter ihm dämmerte, »ich glaube, er meint gut zu handeln.«

Die Gedanken liefen nun eine Weile lautlos Seite an Seite, dann tauchten sie – weit draußen – in den Worten wieder auf; es war trotzdem, als hielten sie einander noch schweigend bei den Händen und wäre schon alles gesagt. ». . . er tut seinen Opfern schlecht, weh, er muß wissen, daß er sie demoralisiert, ihre Sinnlichkeit verstört und in eine Bewegung bringt, die nie mehr an einem Ziel wird ruhen können; . . und dennoch, es ist, als ob man ihn dabei lächeln sähe, . . . ganz weich und bleich im Gesicht, ganz wehmütig und doch entschlossen, voll Zärtlichkeit; . . . mit einem Lächeln, das voll Zärtlichkeit über ihm und seinem Opfer schwebt, . . wie ein Regentag über dem Land, der Himmel schickt ihn, es ist nicht zu fassen, in seiner Wehmut liegt alle Entschuldigung, in dem Fühlen, mit dem er die Zerstörung begleitet . . . Ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames und Alleiniges? . . .«

»Ja, ist nicht jedes Gehirn etwas Einsames?« Diese beiden Menschen, die jetzt wieder schwiegen, dachten gemeinsam an jenen Dritten, Unbekannten, an diesen einen von den vielen Dritten, als ob sie miteinander durch eine Landschaft gingen: . . . Bäume, Wiesen, ein Himmel und plötzlich ein Nichtwissen, warum alles hier blau und dort voll Wolken ist; . . sie fühlten alle diese Dritten um sich stehen, wie jene große Kugel, die uns einschließt und uns manchmal fremd und gläsern ansieht und frieren macht, wenn der Flug eines Vogels eine unverständlich taumelnde Linie in sie hineinritzt. Es war in dem abendlichen Zimmer mit einemmal ein kaltes, weites, mittaghelles Alleinsein.

Da sagte einer von ihnen, und es war, wie wenn man leise eine Geige anstriche: ». . . er ist wie ein Haus mit verschlossenen Türen. In ihm ist, was er getan hat, vielleicht wie eine weiche Musik, aber wer kann sie hören? Es würde durch sie vielleicht alles zu sanfter Wehmut . . .«

Und der andere antwortete: ». . vielleicht ist er immer wieder mit tastenden Händen durch sich gegangen, um ein Tor zu finden, und steht endlich still und legt nur mehr sein Gesicht an die verdichteten Scheiben und sieht von fern die geliebten Opfer und lächelt . . . .«

Sonst sprachen sie nichts, aber in ihrem selig verschlungenen Schweigen klang es höher und weiter. ». . . Nur dieses Lächeln holt sie ein und schwebt über ihnen und noch aus der zuckenden Häßlichkeit ihrer verblutenden Gebärden flicht es einen dünnstengligen Strauß . . . Und zögert zärtlich, ob sie ihn fühlen, und läßt ihn fallen und steigt entschlossen, von dem Geheimnis seines Alleinseins mit bebenden Flügeln getragen, wie ein fremdes Tier in die Wunder volle Leere des Raums.«

Auf dieser Einsamkeit fühlten sie das Geheimnis ihres Zuzweienseins ruhen. Es war ein dunkles Gefühl der Welt um sie, das sie aneinanderschmiegte, es war ein traumhaftes Gefühl der Kälte von allen Seiten bis auf eine, wo sie aneinanderlehnten, sich entlasteten, deckten, wie zwei wunderbar aneinandergepaßte Hälften, die, zusammengefügt, ihre Grenze nach außen verringern, während ihr Inneres größer ineinanderflutet. Sie waren manchmal unglücklich, weil sie nicht alles bis ins letzte einander gemeinsam machen konnten.

»Erinnerst du dich«, sagte plötzlich die Frau, »als du mich vor einigen Abenden küßtest, wußtest du, daß da etwas zwischen uns war? Es war mir etwas eingefallen, im gleichen Augenblick, etwas ganz Gleichgültiges, aber es war nicht du und es tat mir plötzlich weh, daß es nicht du sein mußte. Und ich konnte es dir nicht sagen und mußte erst über dich lächeln, weil du es nicht wußtest und mir ganz nah zu sein glaubtest, und wollte es dir dann nicht mehr sagen und wurde böse auf dich, weil du es nicht selbst fühltest, und deine Zärtlichkeiten fanden mich nicht mehr. Und ich traute mich nicht, dich zu bitten, daß du mich lassen solltest, denn in Wirklichkeit war es ja nichts, ich war dir ja nah in Wirklichkeit, und doch war es, wie ein undeutlicher Schatten war es zugleich, als könnte ich fern von dir und ohne dich sein. Kennst du dieses Gefühl, es stehen manchmal alle Dinge plötzlich zweimal da, voll und deutlich, wie man sie weiß, und dann noch einmal, blaß, dämmernd und erschreckt, als ob sie heimlich und schon fremd der andere anblickte? Ich hätte dich nehmen mögen und in mich zurückreißen . . . und dann wieder dich wegstoßen und mich auf die Erde werfen, weil es möglich gewesen war . . .«

»War das damals . . .?«

»Ja, das war damals, als ich dann plötzlich unter dir zu weinen begann; wie du glaubtest, aus Übermaß der Sehnsucht, mit meinem Fühlen noch tiefer in deines zu dringen. Sei mir nicht bös, ich mußte es dir sagen und weiß nicht warum, es ist ja nur eine Einbildung gewesen, aber sie schmerzte mich so, ich glaube, nur deswegen mußte ich an diesen G. denken. Du . . .?«

Der Mann im Sessel hatte die Zigarette weggelegt und war aufgestanden. Ihre Blicke klammerten sich aneinander fest, mit jenem gespannten Schwanken der Körper zweier Menschen, die auf einem Seil nebeneinanderstehn. Dann sagten sie nichts, sondern zogen die Läden hoch und sahen auf die Straße hinaus; ihnen war, als lauschten sie auf ein Knistern von Spannungen in sich, die etwas wieder neu formten und zur Ruhe legten. Sie fühlten, daß sie ohneeinander nicht leben konnten und nur zusammen, wie ein kunstvoll in sich gestütztes System, das zu tragen vermochten, was sie wollten. Wenn sie aneinander dachten, erschien es ihnen fast krank und schmerzhaft, so zart und gewagt und unerfaßbar fühlten sie in seiner Empfindlichkeit gegen die kleinste Unsicherheit in seinem Innern ihr Verhältnis.

 

Nach einer Weile, als sie im Anblick der fremden Welt draußen wieder sicher geworden waren, wurden sie müde und wünschten nebeneinander einzuschlafen. Sie fühlten nichts als einander und doch war es – schon ganz klein und im Dunkel verschwindend – noch ein Gefühl wie nach allen vier Weiten des Himmels.

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Am nächsten Morgen fuhr Claudine nach der kleinen Stadt, wo das Institut war, in dem ihre dreizehnjährige Tochter Lilli erzogen wurde. Dieses Kind stammte aus ihrer ersten Ehe, aber sein Vater war ein amerikanischer Zahnarzt, den Claudine – während eines Landaufenthaltes von Schmerzen gepeinigt – aufgesucht hatte. Sie hatte damals vergeblich auf den Besuch eines Freundes gewartet, dessen Eintreffen sich über alle Geduld hinaus verzögerte, und in einer eigentümlichen Trunkenheit von Ärger, Schmerzen, Äther und dem runden weißen Gesicht des Dentisten, das sie durch Tage beständig über dem ihren schweben sah, war es geschehen. Es erwachte niemals das Gewissen in ihr wegen dieses Vorfalls, noch wegen irgendeines jenes ersten, verlorenen Teils ihres Lebens; als sie nach mehreren Wochen noch einmal zur Nachbehandlung kommen mußte, ließ sie sich von ihrem Stubenmädchen begleiten, und damit war das Erlebnis für sie beendet; es blieb nichts davon als die Erinnerung an eine sonderbare Wolke von Empfindungen, die sie eine Weile wie ein plötzlich über den Kopf geworfener Mantel verwirrt und erregt hatte und dann rasch zu Boden geglitten war.

Denn es blieb ein Merkwürdiges in all ihrem damaligen Tun und Erleben. Es kam vor, daß sie kein so schnelles und gehaltenes Ende fand wie jenes eine Mal und lange scheinbar ganz unter der Herrschaft irgendwelcher Männer stand, für die sie dann bis zur Selbstaufopferung und vollen Willenlosigkeit alles tun konnte, was sie von ihr verlangten, aber es geschah nie, daß sie nachher das Gefühl starker oder wichtiger Ereignisse hatte; sie beging und erlitt Handlungen von einer Stärke der Leidenschaft bis zur Demütigung und verlor doch nie ein Bewußtsein, daß alles, was sie tat, sie im Grunde nicht berühre und im Wesentlichen nichts mit ihr zu tun habe. Wie ein Bach rauschte dieses Treiben einer unglücklichen, alltäglichen, untreuen Frau von ihr fort, und sie hatte doch nur das Gefühl, reglos und in Gedanken daran zu sitzen.

Es war ein niemals deutliches Bewußtsein einer fern begleitenden Innerlichkeit, das diese letzte Zurückhaltung und Sicherheit in ihr bedenkenloses Sich den Menschen ausliefern brachte. Hinter allen Verknüpfungen der wirklichen Erlebnisse lief etwas unaufgefunden dahin, und obwohl sie diese verborgene Wesenheit ihres Lebens nie noch ergriffen hatte und vielleicht sogar glaubte, daß sie niemals bis zu ihr hin werde dringen können, hatte sie doch bei allem, was geschah, davon ein Gefühl wie ein Gast, der ein fremdes Haus nur ein einziges Mal betritt und sich unbedenklich und ein wenig gelangweilt allem überläßt, was ihm dort begegnet.

Und dann war alles, was sie tat und litt, für sie in dem Augenblick versunken, wo sie ihren jetzigen Mann kennengelernt hatte. Sie war von da in eine Stille und Einsamkeit getreten, es kam nicht mehr darauf an, was vordem gewesen war, sondern nur auf das, was jetzt daraus wurde, und alles schien nur dazu dagewesen zu sein, daß sie einander stärker fühlten, oder war überhaupt vergessen. Ein betäubendes Empfinden des Wachsens hob sich wie Berge von Blüten um sie, und nur ganz fern blieb ein Gefühl von ausgestandner Not, ein Hintergrund, von dem sich alles löste, wie in der Wärme schlaftrunken Bewegungen aus hartem Frost erwachen.

Nur ein einziges lief vielleicht, dünn, blaß und kaum wahrnehmbar, von ihrem damaligen Leben in das jetzige hinein. Und daß sie gerade heute wieder an alles denken mußte, konnte durch Zufall gekommen sein oder weil sie zu ihrem Kinde fuhr oder wegen irgendeines Gleichgültigen sonst, es war aber erst am Bahnhof aufgetaucht, als sie dort – unter den vielen Menschen, und von ihnen bedrückt und beunruhigt – plötzlich leise von einem Gefühl berührt wurde, das sie, wie es so halb und verschwindend vorbeitrieb, dunkel und fern und doch in fast leibhafter Gleichheit an jenen beinahe vergessenen Lebensabschnitt erinnerte.

Ihr Mann hatte keine Zeit gehabt, Claudine zur Bahn zu begleiten, sie wartete allein auf den Zug, um sie drängte und stieß sich die Menge und schob sie langsam hin und her wie eine große, schwere Woge von Spülicht. Die Gefühle, die ringsum auf den morgendlich geöffneten, bleichen Gesichtern lagen, schwammen auf ihnen durch den dunklen Raum wie Laich auf fahlen Wasserflächen. Es ekelte ihr. Sie empfand den Wunsch, was sich hier trieb und schob, mit einer nachlässigen Gebärde von ihrem Weg zu scheuchen, aber – war es die körperliche Überlegenheit um sie, was sie entsetzte, oder nur dieses trübe, gleichmäßige, gleichgültige Licht unter einem riesigen Dach von schmutzigem Glas und wirren eisernen Streben – während sie scheinbar gleichmütig und höflich unter den Menschen ging, fühlte sie, daß sie es tun mußte, und erlitt es im Innersten wie eine Demütigung. Sie suchte vergeblich in sich einen Schutz; es war, als hätte sie sich, langsam und wiegend, in dem Gedränge verloren, ihre Augen fanden sich nicht mehr zurecht, sie konnte sich auch nicht auf sich besinnen, und wenn sie sich mühte, spannte sich ein dünner weicher Kopfschmerz vor ihre Gedanken.

Sie lehnten sich hinein und suchten das Gestern zu erreichen; aber Claudine gewann davon bloß ein Bewußtsein, als trüge sie heimlich etwas Kostbares und Zartes. Und sie durfte es nicht verraten, weil die andern Menschen es nicht verstehen konnten und sie schwächer war und sich nicht zu verteidigen vermochte und sich fürchtete. Schmal und eingezogen ging sie zwischen ihnen, voll Hochmut, und zuckte zusammen, wenn ihr jemand zu nahe kam, und verbarg sich hinter einer bescheidenen Miene. Und fühlte dabei, heimlich entzückt, ihr Glück, wie es schöner wurde, wenn sie nachgab und sich dieser leise wirren Angst überließ.

Und daran erkannte sie es. Denn so war es damals; ihr kam plötzlich vor: einst, als sei sie lange anderswo und doch nie fern gewesen. Es war ein Dämmerndes um sie und Ungewisses wie das ängstliche Verbergen von Leidenschaften Kranker, ihr Tun riß sich in Stücken von ihr los und wurde von den Gedächtnissen fremder Menschen davongetragen, nichts hatte jenen Ansatz zur Frucht in ihr zurückgelassen, der eine Seele leise zu schwellen anfängt, wenn die andern glauben sie völlig entblättert zu haben und sich satt von ihr abwenden; . . und doch lag blaß bei allem, was sie litt, ein Schimmer wie von einer Krone, und in dem dumpfen, summenden Weh, das ihr Leben begleitete, zitterte ein Glanz. Zuweilen war ihr dann, als brennten ihre Schmerzen wie kleine Flammen in ihr, und irgend etwas trieb sie, ruhelos neue zu entzünden; sie glaubte dabei, einen schneidenden Reif um die Stirn zu fühlen, so unsichtbar und unwirklich wie aus Traum und Glas, und manchmal war es nur ein fernes kreisendes Singen in ihrem Kopf . . . .

Claudine saß reglos, während der Zug mit leisem Schütteln durch die Landschaft fuhr. Ihre Mitreisenden unterhielten sich, sie hörte es nur wie ein Rauschen. Und während sie jetzt an ihren Mann dachte und ihre Gedanken von einem weichen, müden Glück umschlossen waren wie von Schneeluft, war es doch bei aller Weichheit etwas, das fast am Bewegen hinderte oder wie wenn ein genesender, an das Zimmer gewöhnter Körper die ersten Schritte im Freien tun soll, ein Glück, das still stehen macht und beinahe weh tut; . . und dahinter rief noch immer dieser unbestimmt schwankende Ton, den sie nicht fassen konnte, fern, vergessen, wie ein Kinderlied, wie ein Schmerz, wie sie, . . in weiten schwankenden Kreisen zog er ihre Gedanken nach sich und sie konnten ihm nicht ins Gesicht sehn.

Sie lehnte sich zurück und blickte zum Fenster hinaus. Es erschöpfte sie, länger daran zu denken; ihre Sinne waren ganz wach und empfindlich, aber etwas hinter den Sinnen wollte still sein, sich dehnen, die Welt über sich hingleiten lassen. . . . Telegraphenstangen fielen schief vorbei, die Felder mit ihren schneefreien, dunkelbraunen Furchen wanden sich ab, Sträucher standen wie auf dem Kopf mit Hunderten gespreizter Beinchen da, an denen Tausende kleiner Glöckchen von Wasser hingen und fielen, liefen, blitzten und glitzerten, . . es war etwas Lustiges und Leichtes, ein Weitwerden, wie wenn Wände sich auftun, etwas Gelöstes und Entlastetes und ganz Zärtliches. Selbst von ihrem Körper hob sich die sanfte Schwere, in den Ohren ließ sie ein Gefühl wie von tauendem Schnee und allmählich nichts als ein beständiges lockeres Klingeln. Ihr war, als lebte sie mit ihrem Mann in der Welt wie in einer schäumenden Kugel voll Perlen und Blasen und federleichter, rauschender Wölkchen. Sie schloß die Augen und gab sich dem hin.