Das Ketzerdorf - In Ketten

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18

Dillingen, Sankt Bonifatius14 1580

»Es darf nie mehr geschehen, dass uns die herzogliche Regierung in München bei Untersuchungen und Anklagen wegen Ketzerei in den Rücken fällt. Wir dürfen uns nicht mehr vorschreiben lassen, wann eine Hexe wie examiniert werden soll. Wilhelm V. scheint vernünftiger zu sein als sein Vater. Die Rechtsprechung muss geprägt sein vom theologischen Prinzip der Gegenreformation. Es wäre wenigstens einmal eine sinnvolle Aufgabe für die Jesuiten, dass sie Hofräte und die Rechtsabteilung der Universität nur mit Geistlichen besetzen. Gerade am Fest des heiligen Bonifatius muss uns bewusst werden, dass wir mit allen Mitteln das Werk des großen Missionars vor der Zerstörung bewahren und die weltliche Gewalt dazu zwingen, die kirchliche, von Gott erhaltene Macht anzuerkennen.« Die Anwesenden im Refektorium nickten zustimmend und Paschalis musste sich zwingen, nach der Tischrede des Kardinals nicht zu gähnen. Zahllose Briefe zu diesem Thema hatte dieser ihm schon diktiert, an Julius Echter, Ottheinrich von Schwarzenberg oder Canisius. Paschalis versah sie alle mit bunten Initialen und verwandelte das inhaltlich schwer Verständliche in kleine Kunstwerke. Es war sein verzweifelter Versuch, den grausamen Worten etwas von ihrer Schärfe und ihrer Gnadenlosigkeit zu nehmen.

14 5. Juni

19

Leeder, 2. Juli 1580

Helena verblieben nur wenige Augenblicke, um innezuhalten, nachdem drüben im Kirchturm die Sturmglocke angefangen hatte, wie wild zu schlagen.

»Feurio, feurio! Dem Mayer Georg sei Hidda brennt lichterloh!«, hörte sie Karl aufgeregt durch das Schloss rufen.

Die Marianischen, war ihr erster Gedanke. In seiner Bleibe verwahrt er die Bücher von Caspar Schwenckfeld. So schnell sie konnte, rannte sie die Treppen hinunter und folgte Karl ins Dorf. Von Welden her hatte sich eine bedrohliche schwarze Gewitterfront aufgebaut.

»Meinst du, dass es ein Blitzeinschlag war, Karl?«

»Dös Wetter isch no z’weit weg.«

Noch im Laufen kam Helena in den Sinn, dass Georg jeden Samstagnachmittag hinten beim Müller die Kinder unterrichtete, weil der Müllersbub seit seinem Unfall nicht mehr richtig laufen konnte. Sollten die Marianischen ganz bewusst diesen Moment abgewartet haben? Dass sie am helllichten Tag das Haus anzündeten, verwunderte sie zwar, aber sie traute diesen Leuten inzwischen alles zu, seit sie mit ihren Anfeindungen dafür gesorgt hatten, dass Raymund nach Augsburg ziehen musste.

Georg bewohnte ein kleines Haus, nicht zu vergleichen mit den großen Höfen im Ort. Helena staunte, dass doch so viele Leute zusammengekommen waren, um zu helfen. Aus dem Dachstuhl, der mit Stroh gedeckt war, loderten meterhoch die Flammen.

»Georg ist nicht da. Bitte, bitte helft! Wir müssen die Kiste herausholen, in der die Bücher und Schriften liegen«, beschwor sie die Leute, die bereits mit Eimern eine Kette zum Bach gebildet hatten. Sie hatten zwei Leitern an das Haus gestellt, um von oben Wasser in die Flammen zu schütten.

»Em Georg sei Gaul stoht hinderm Haus! Do kann a it weit sei. In der Stuba isch no koi Fuir. Mir breched d’Diar auf. Bleib du voana hussa, Helena!« Sie nickte dem Kutscher zu, und gleich darauf stieß Karl mit einem dicken Holzbalken die Eingangstür auf. Beißender Qualm drang aus der Stube, und es dauerte nicht lange, da kam Karl laut hustend aus dem Haus. Er zog eine riesige Kiste hinter sich her.

»Das war mutig, Karl! Du hast Caspars Nachlass vor den Flammen gerettet. Das werden wir dir nie vergessen!« Helena umarmte ihn. Es war ihr gleichgültig, dass sie ihr Kleid mit Ruß beschmutzte. Wenige Augenblicke später stürzte unter lautem Krachen der Dachstuhl in sich zusammen.

»Dös isch no amol guat ganga!«, sagte Karl und ließ sich erschöpft ins Gras sinken. Helena setzte sich zu ihm.

Plötzlich stand Georg vor ihnen.

»Um des Herrn willen! Was ist passiert?«

»Georg, du bist in Sicherheit! Schau hier, die Kiste! Mehr konnten wir nicht tun.«

»Gott sei Dank, das Wichtigste ist gerettet! Aber es sieht fast so aus, als wenn die Feuersbrunst etwas mit meiner Abwesenheit zu tun hätte; oder was, glaubt ihr, hat den Brand ausgelöst?«

Helena senkte die Stimme. »Marianische!«

»Meinst du? Also doch!«, entgegnete Georg. »Es würde erklären, dass sie mir beim Müller das Pferd losgebunden haben! Vor einigen Jahren schon haben sie mit roher Gewalt an die Tür gepoltert und den blutigen Kopf eines Ziegenbocks auf die Schwelle gelegt. Ich habe damals die Warnung nicht ernst genommen.«

Karl bekreuzigte sich. »Das Zeichen des Teufels.«

Joseph Hueber, der Wirt, war dazugekommen. »An deiner Hütte ist nichts mehr zu retten, Georg. Für den Wiederaufbau sind wohl nur noch die Wände aus Stein zu gebrauchen, das Dach, die Treppen und das Holz im Inneren sowie die Möbel sind verloren. Gleich fängt es an zu regnen. Wir bringen das Wenige in meine Wirtschaft. Lass uns nach vorn schauen! Du kannst so lange bei mir wohnen, bis dein Häuschen wieder aufgebaut ist!«

Der Brand war inzwischen so gut wie gelöscht, aber der beißende, harzige Geruch von verkohltem Holz stieg Helena unangenehm in die Nase.

»Das ist sehr großzügig von dir, Joseph. Ich nehme dein Angebot gerne an.«

Die ersten Tropfen fielen und Helena mahnte zum Aufbruch. »Karl, lass uns die Kiste schnell hinüber zum Hueber tragen, dort können wir alles Weitere besprechen.«

Kaum dass sie in der Stube waren, brach das Gewitter über den Ort herein.

Georg kniete sich neben die Holzkiste, die an der Längsseite angesengt war. Während er sie langsam öffnete, spürte Helena förmlich, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. »Ich danke dir, mein Herre Christ«, sagte er leise. »So ist es dein Wille, dass wir das Vermächtnis deines Dieners bewahren und in die Welt hinaustragen.«

Helena setzte sich zu ihm. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie über die schweinsledernen Einbände und hielt unvermittelt eine Ausgabe von Caspar Schwenckfelds »De statu, officio et cognitione Christi« von 1546 in den Händen. Auch ihr Großvater besaß eine große Anzahl an Büchern. Dieses aber fehlte in seiner Sammlung. Ehrfürchtig strich sie über das Leder und schlug behutsam die erste Seite auf.

Meinem lieben Freund in Christo, Georg Mayer, in Dankbarkeit gewidmet, Caspar Schwenckfeld, stand dort in schön verzierten Lettern.

»Das ist mein größter Schatz.« Georg blickte Helena über die Schulter.

Augenblicklich schloss sie das Buch und übergab es ihm. Liebevoll drückte der Prediger das Buch an seine Brust und blickte nach oben.

»Ein Dach über dem Kopf ist schnell wieder gefunden; aber was bedeutet eine Behausung, die nur das irdische Leben erleichtert, im Vergleich zu den Anleitungen des Meisters für ein himmlisches Leben im Reich Gottes, die ihr mir gerettet habt? Dafür, dass ihr mir das Vermächtnis von Caspar, seine Schriften und all seine Briefe in Sicherheit gebracht habt, bin ich unendlich dankbar und der Herrgott im Himmel wird es euch vergelten.«

20

Augsburg, Ulrichsfest15 1580

Endlich war der Tag gekommen. Das große Geläut ertönte feierlich und verkündete seine frohe Botschaft über die ganze Stadt. An die tausend Gläubige mochten es wohl sein, die am Fest des Stadtheiligen in den Dom gekommen waren, um einem besonderen Ereignis beizuwohnen: Ottos Priesterweihe. Von einem langen Zug aus Verwandten, Freunden, Abordnungen aus seinem Heimatort und den Dörfern seiner zukünftigen Mitpriester mit ihren Fahnen und Bannern wurde Otto am Domkonvikt abgeholt und gemeinsam mit zahlreichen Messdienern, Priestern, Prälaten, Dekanen, Ministerialen und dem hochwürdigsten Herrn Bischof Marquard zum Dom geleitet. Es war für Otto eine große Genugtuung, dass alle Versuche aus Dillingen, ihm das Priesteramt zu verwehren, gescheitert waren. Als er zum Klang der Orgel durch das Südtor das ehrwürdige Gebäude betrat, klatschte die Menge begeistert. Es freute ihn, dass die einfachen Menschen ihn schätzten und sein öffentliches Eintreten gegen den um sich greifenden Verfolgungswahn der Inquisition und sein Bemühen um die Einheit der Christen in der Stadt Früchte zeigte. Es war ihm wohl bewusst, dass ihn seine Predigten gegen seinen Erzfeind, den Dominikaner Erminio vom Berg, schnell selbst in die Fänge der Inquisition bringen könnten. Der Jubel an diesem Morgen war wie ein warmer Schauer, der sich über ihn ergoss und ihn mit tiefer Genugtuung erfüllte. Mit versteinerter Miene salbte Bischof Marquard Johannes Otto von Gemmingen und erteilte ihm das Zelebret, die Erlaubnis, Eucharistie zu feiern. Das gemeinsame Versprechen, dem Bischof Gefolgschaft und Treue zu leisten, das den Jungpriestern anschließend abgenommen wurde, ging Otto nur mühsam und mit vielen Zweifeln über die Lippen; es schien ihm, als würde gerade in diesem Augenblick der Bischof jede kleinste seiner Mundbewegungen genauestens registrieren. Otto bat Gott augenblicklich um Vergebung. Denn eines wusste er sicher: Er würde alles daran setzen, den vom Bischof und seinem römischen Inquisitor eingeschlagenen Weg der Einschüchterung mit Hindernissen zu belegen, um so den überall ersehnten Frieden, den Jesus Christus in die Welt gebracht hatte, wiederherzustellen und dem geplagten Volk Gottes ein Leben ohne Furcht und Gewalt zu ermöglichen. »Oboedisco16«, presste Otto mit zusammengebissenen Zähnen heraus und blickte gleichzeitig entschuldigend hinauf zu dem riesigen Kreuz, das über dem Altar hing.

 

»Zur Feier des Tages habe ich Euer Hochwürden eine gute Nachricht zu vermelden: Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine Spur von Rico«, flüsterte Oktavian Otto ins Ohr, der, wie alle anderen nach dem Festgottesdienst von Freunden und Verwandten umringt, auf dem großen Platz vor dem Dom die Gratulationen entgegennahm. Otto umarmte seinen Freund und ließ sich von ihm aus dem Kreis seiner Getreuen ziehen.

»Oktavian, wie schön, dass du gekommen bist. Aber sag endlich, was gibt es Neues?«

»Ich gratuliere dir von ganzem Herzen, mein lieber Freund, mögest du glücklich werden und all deine hohen Ziele erreichen.«

»Ich danke dir, aber nun erzähl schon!«

»Pfarrer Schweigger, ich habe dir von ihm erzählt, berichtet mir in einem Brief aus Konstantinopel, dass der Botschafter an der Hohen Pforte, Joachim von Sinzendorf, auf einer der Gefangenenlisten vom Winter 1563 Ricos Namen entdeckt hat. Er wurde anscheinend als Arbeitssklave in das berüchtigte Bagno verbracht, dann verliert sich seine Spur. Da es keine Totenverzeichnisse gibt und der Orator keinen Zugriff auf die Bücher der zum Islam konvertierten Gefangenen hat, ist sein weiteres Schicksal ungewiss. Rico hat keinen Beruf, ist aber stark wie ein Bär. Wenn er das Bagno überlebt haben sollte, dann …«

»Was bedeutet das?«, fragte Otto besorgt. »Es sind inzwischen siebzehn Jahre ins Land gegangen. Wenn Rico noch nicht das Zeitliche gesegnet hat, wäre er doch längst zurück, oder?«

»Glaubst du ernsthaft daran, dass Rico zurückkommen würde, nachdem die Dominikaner ihn hier mit allen Mitteln versuchen aufzuspüren? Hier würde ihn nur ein grausamer Tod erwarten«, entgegnete Oktavian.

»Es wird immer schlimmer mit dem Inquisitor. Beten allein hilft nicht mehr. Es muss etwas geschehen. Kann sich dein Theologe nicht irgendwie nützlich machen und seine Fühler nach Rico ausstrecken?«

»Die Korrespondenz ist schwierig. Für einen Brief nach Konstantinopel braucht ein Bote vier Wochen. Jeder dritte wird überfallen und ausgeraubt. Wir können von großem Glück sprechen, dass dieser Brief überhaupt angekommen ist. Außerdem hat Schweigger angedeutet, dass seine eigentlichen Ziele Jerusalem und das Land Ninive seien und er die Reise mit dem Orator als günstige und sichere Möglichkeit betrachte, unbeschadet durch das für die Christenmenschen gefährliche Gebiet zu gelangen. Vielleicht hat er ja Konstantinopel längst verlassen? Aber jetzt einmal ehrlich, Otto, warum sollte Rico zurückkommen?«

»Ich wage nicht daran zu denken, aber ich finde, er sollte wenigstens erfahren, dass der Kardinal noch lebt.«

»Hm …« Oktavian kratzte sich am Ohr. »Du hast doch dabei einen Hintergedanken, oder?«

Otto nickte.

»Ich verstehe deine Not und den Wunsch, den Kardinal loszuwerden, aber das Risiko für unseren Freund … Wir müssten ihm eine Botschaft senden, irgendwie verschlüsselt.«

»Wie willst du das denn anstellen?«, fragte Otto.

»Eine Möglichkeit wäre wohl, jemanden in verdeckter Mission in die Höhle des Löwen zu schicken, um Rico aufzuspüren.«

»Was meinst du damit?«

»Ich habe als städtischer Medicus immer wieder mit den Räten zu tun. Man müsste sich an das Malefizgericht wenden, wo hin und wieder Todesurteile gefällt werden. Unter strengen Auflagen wie Geldzahlungen, Galeerendienst, Landesverweis oder Pilgerfahrten werden diese manchmal aufgehoben.«

Otto überlegte kurz. »Was für ein Unterfangen! Du willst Rico von einem Verbrecher suchen lassen? Wenn es um außergewöhnliche Pläne geht, warst du immer schon ein unerschöpflicher Quell!«

»Du als Geistlicher solltest dich aus diesen Dingen heraushalten. Ich werde mir etwas einfallen lassen und dir beizeiten darüber Bericht erstatten. Jetzt widme dich wieder deiner Familie und deinen Gratulanten. Gott beschütze dich, Otto, und er möge dir die Kraft geben, das Böse in euren eigenen Reihen zu vertreiben.« Oktavian packte ihn an beiden Schultern und schob ihn mit einem »Pax tecum! Semper fidelis!«17 zurück in die Traube aus Verwandten und Freunden, die sich sofort wieder um ihn schloss.

15 4. Juli

16 Ich gehorche.

17 Friede mit dir! In steter Treue!

21

Konstantinopel, Sommer 1580

Durch das »Tor der Glückseligkeit« in den dritten Hof des Sultanspalasts zu gelangen, war für einen Sterblichen fast unmöglich. Mit prachtvollen Mosaiken ausgestattete Räume, Marmor, edle Hölzer, Nischen, die mit purem Gold ausgelegt waren, und riesige Seidenteppiche, die in allen Farben leuchteten, blendeten den Blick jedes auserwählten Besuchers. Der Thronsaal bildete das Zentrum des dritten Hofs. Kein Herrscher der bekannten Welt konnte sich rühmen, prunkvoller zu residieren. In ihren bunten, aufgeplusterten Paradeuniformen hatten sich Minister, Wesire und Verwalter darin ehrfurchtsvoll in einem Halbkreis aufgestellt. Erhöht auf der Treppe stand eine groß gewachsene, schlanke Frau in prächtige, goldbesetzte Kleider gehüllt vor dem Sultansthron. Es war die Favoritin des Sultans Murad III., Haseki Safiye, eine ehemalige venezianische Adlige, die sich mit welchen Mitteln auch immer in diese Stellung gebracht hatte. Es wurde erzählt, dass sie schulterlange blonde Haare, blaue Mandelaugen und schneeweiße Haut habe. Aber niemand außerhalb des Harems hatte sie je unverschleiert gesehen. Es war kein Geheimnis mehr, dass sich im Palast des Sultans viele Dinge verändert hatten. Nachdem der mächtige Reichswesir Sokollu Mehmed Pascha im Oktober des vergangenen Jahres von einem Derwisch ermordet worden war, war ein Machtkampf im Hofstaat des Sultans entbrannt. Sultan Murad III., an Staatsgeschäften wenig interessiert, war – wie so oft – inkognito im Habsburgerreich unterwegs, um ungestört seine Zeit mit Dichtern, Musikern und Possenreißern zu verbringen. Safiye hielt indessen die Zügel des Reichs in der Hand und schickte sich an, mit den mächtigsten Herrschern der Welt Umgang zu pflegen, und glaubte, selbst in Königin Elisabeth von England eine ebenbürtige Allianzpartnerin zu besitzen.

Safiye sorgte an diesem Tag für großes Entsetzen. Alle Augen waren auf sie gerichtet, wie zu Salzsäulen erstarrt harrten sie dem, was da kommen mochte.

Sie hatte mit beiden Händen ein mit Gold und Silber verziertes, glitzerndes Gewehr bedrohlich auf die Versammelten gerichtet und der gefürchtete nubische Palasteunuch Kızlar Ağası18 an ihrer Seite kullerte dabei mit seinen Augen; dem kahlrasierten Riesen entging keine Bewegung im Saal. Endlich löste sich die Spannung, indem sie die Waffe dem Ağası übergab, der sie in die gierig ausgestreckten Hände der Umstehenden weiterreichte. Alle wollten das Wunderwerk berühren, waren voll des Erstaunens über die geflügelten Körper mit blauen Mützen, die aus grünen Blüten zu wachsen schienen. Andere waren entzückt über die Affen und fantastischen Tiere mit langen Federschwänzen. Sie lobten die Schönheit und die Farbenpracht des Schaftes mit seinen seltsamen Geschöpfen, die durch feine blaue Girlanden miteinander verbunden waren. Der Hahn des Schlosses war als drachenartiges Wesen dargestellt. Jeder der Anwesenden wollte wenigstens einmal über das Wunderwerk streichen. Als Safiye die Hand hob, hielten sie augenblicklich inne.

»Waffenmeister, in Eurer großen Weisheit wisst Ihr mir gewiss zu sagen, wer dieses Meisterwerk geschaffen hat? Ich wünsche mir den Erbauer dieser Waffe um jeden Preis an den Hof.« Die Angesprochenen verbeugten sich, ihr Obrist nahm die Waffe an sich und drehte sich zur Prinzessin. Es war bekannt, dass der überfreundliche Ton der Frau kein gutes Zeichen war.

»Wir alle haben so etwas noch nie gesehen«, antwortete der Obrist sichtlich nervös. »Dies ist das Werk eines begnadeten Ziseliermeisters; die Emaillearbeiten sind von unglaublicher Schönheit. An das Geheimnis der Farbmischungen zu kommen, dürfte sehr schwer werden. An der äußeren Seite des Vorderschaftes findet sich das Monogramm des Meisters, DAF. Ich kenne viele Büchsenmacher im gesamten Abendland, allerdings keinen mit diesem Monogramm.« Der Waffenmeister blickte die Umstehenden an, die ihre Zustimmung murmelten, und gab die Pistole zurück in die Hände des Ağası.

»Was seid ihr für unfähige Parasiten!«, schrie Safiye zornig. »Ich lasse euch die Bärte rasieren und schicke euch auf die Galeere!«

Ein anderer, dem es mehr um seinen Kopf, als um seinen Bart ging, bat um die Erlaubnis zu sprechen. Safiye nickte.

»Es muss eine Waffe aus den Habsburgerlanden sein. Jedem türkischen silâhçı19 fehlt das Wissen, so eine Waffe herzustellen oder sie zu verzieren.«

»Worauf wartet ihr dann? Holt mir sofort den fähigsten Dolmetsch und jeder, dem seine Zunge lieb ist, behält das heute Gesagte für sich. Es macht mich wütend, dass Ungläubige es erschaffen haben sollen und euch Tölpeln darüber das Wissen fehlt.«

Wenig später öffnete sich das »Tor der Glückseligkeit« und zwei Janitscharen führten den großen Blonden mit einem blauen Turban in den Raum. Er überragte alle um mehr als einen Kopf und es schien, als würde er einen unsichtbaren Schild mit sich führen, vor dem alle anderen respektvoll zurückwichen. Safiye erkannte in ihm sofort einen Europäer. Niemand sah, wie sie unter ihrem Schleier diesen Mann von oben bis unten musterte.

Entschlossen trat er vor sie und verbeugte sich tief.

»Berkel Aleman, Euer untergebenster Diener! Ehrwürdige, hochwohlgeborene Prinzessin, Ihr habt mich durch das ›Tor der Glückseligkeit‹ rufen lassen. Was ist Euer Begehr?«

»Erhebe dich, Dolmetsch!« Sie nahm dem Palasteunuchen die Waffe aus der Hand.

»Berkel, ich habe bereits von dir gehört. In meiner Hand liegt eine Waffe von unglaublicher Schönheit und nie gesehenem Glanz. Es gelangte durch Piraten in meine Hände. Meine Höflinge sind nicht in der Lage, die Herkunft der Waffe zu ergründen.«

Die Köpfe der Anwesenden neigten sich verschämt nach unten.

»Beschreibt die Waffe und verfasst sofort einen Brief an alle unsere Spione und Agenten von Lissabon bis Wien, von Hamburg bis Palermo, dass sie dafür sorgen sollen, wie auch immer, den Erbauer dieser Waffe mit der nächsten kaiserlichen Delegation an die Hohe Pforte zu beordern.« Safiye gab die Waffe zum spürbaren Erstaunen aller Versammelten an den Dolmetsch weiter. Dabei legte sie ihre Hände so an den Schaft, dass der Hüne nicht umhinkam, ihre Haut zu berühren.

Berkel erschrak, denn er war sich wohl bewusst, dass es nur dem Sultan erlaubt war, diese Frau anzufassen. Jedem anderen drohte die Todesstrafe. Er nahm die Waffe ehrfurchtsvoll in beide Hände und besah sie staunend von allen Seiten.

»Ich habe so eine schöne Pistole noch nie gesehen, erhabene Prinzessin. Ich werde Euren Befehl sofort ausführen. Aber gestattet mir die Frage, warum Ihr in der ganzen Welt suchen wollt, wo doch durch dieses Symbol erwiesen ist, dass diese Waffe in Augsburg hergestellt wurde. Nur dort wird seit den Zeiten der Römer die Zirbelnuss im Wappen und auf Stempeln verwendet.« Er zeigte ihr die Stelle und kam ihr dabei so nahe, dass er ihren Atem spürte.

Während sich die Höflinge neugierig über die Waffe beugen wollten, riss die Prinzessin dem Dolmetsch die Pistole aus den Händen und schrie wütend in die Menge: »Stronzi, che siete!20« Als er ihre Muttersprache vernahm, zog der Dolmetsch seine Augenbrauen hoch.

»Was zum Teufel treibt ihr eigentlich in euren Waffenschmieden, dass ihr nicht in der Lage seid, die Herkunft eines Gewehrs zu bestimmen?« Safiye wandte sich an den Dolmetsch. »Ich danke dir, Berkel, du sollst reichlich belohnt werden und außerdem … darfst du dir etwas wünschen.« Sie machte eine einladende Geste: »Wenn du also hierbleiben möchtest?«

Berkel verbeugte sich zufrieden.

Der schwarze Palasteunuch, der den Unterton seiner Herrin sehr wohl zu deuten wusste, sorgte dafür, dass die Versammlung aufgelöst wurde und sich das »Tor der Glückseligkeit« innerhalb kürzester Zeit hinter dem letzten Höfling schloss.

Haseki Safiye blieb mit dem Dolmetsch allein zurück, was draußen vor dem Tor nicht unkommentiert blieb.

18 Ranghöchster Haremswärter.

19 Türkisch: Waffenschmied

 

20 Was seid ihr für Dummköpfe!