Das Ketzerdorf - In Ketten

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Raymund schüttelte den Kopf. Es gab für ihn keinen Sinn, und als Marfisa abschließend seine und Helenas Hand mit ihrer zu umschließen suchte, winkte er unwillig ab.

»Es hat mich viel Kraft gekostet«, versuchte sich die Hellseherin zu entschuldigen.

»Ich danke Euch, gute Frau. Ich werde Eure Worte stets bei mir tragen.« Helena stand auf und verabschiedete sich von Marfisa.

Raymund drehte sich um und ließ die Wahrsagerin grußlos zurück. »Ich habe genug gehört. Was für dummes Zeug. Kind des Glücks und Kind der Sünde, die Macht des Propheten und ein weißer Mönch! Was soll das denn alles bedeuten?«

»Vieles habe ich mir auch nicht erklären können. Das Schönste ist aber doch, dass wir beide eine gemeinsame Zukunft haben; das habe ich mir immer gewünscht. Ich liebe dich, mein Bruder, seit ich dich kenne, und so wie es aussieht, mein ganzes Leben lang.«

Raymund nahm seine Schwester in den Arm und küsste sie auf die Stirn.

9

Augsburg, zwei Tage nach Mariä Himmelfahrt6 1578

Otto stand vor der Barfüßerkirche und wartete. Seit seiner dringenden Aufforderung an Hieronymus Rehlinger, Raymund so schnell wie möglich aus Leeder in die Stadt zu holen, war ein ganzes Jahr vergangen. Aber sie schien erfolgreich gewesen zu sein. Der Denklinger Pfarrer hatte ihm in einem Brief – neben den Schwierigkeiten mit den Schwenckfeldern in Leeder, den hohen Schulden auf dem Gut und der Rehlingertochter, die mit Krähen spricht – auch von dem Sohn geschrieben, den man nach Augsburg geschickt hatte. Es konnte nur Raymund gewesen sein. Aber wohin hatten sie ihn geschickt? Vorsichtig hatte er bei der städtischen Handwerkergilde nachgefragt. Otto war entsetzt, als man ihm mitteilte, dass Raymund Rehlinger als Büchsenmacherlehrling beim protestantischen Benzenauer eingetragen war. Diese Berufswahl hatte doch wenig mit den geistigen Fähigkeiten zu tun, die er glaubte, seinem Sohn vererbt zu haben. Er hatte sich Raymund als Studenten vorgestellt, vielleicht im katholischen Italien, jedenfalls weg aus dem protestantischen Leeder. Er sollte ein guter Mensch und Christ werden. Nach der Jugend bei den Schwenckfelderketzern arbeitete er nun in einer Waffenschmiede. Otto seufzte. Hatte er überhaupt das Recht, Erwartungen in diesen Menschen zu setzen, den er selbst seinem Schicksal und der Huld und Güte Gottes überlassen hatte? Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Raymund in Augsburg vor den Nachstellungen der Inquisition sicher war. Er lächelte, wenn er daran dachte, dass das von ihm angestrebte Rechtsgutachten aus Ingolstadt dem Kardinal eine Untersuchung in Leeder untersagt hatte, vorerst. Ach, Raymund … in zwei Wochen würde er fünfzehn werden. Auch wenn er sich ihm nie würde offenbaren können, verspürte er ein unbändiges Verlangen, seinen Sohn wenigstens zu sehen. Er war immer wieder durch das Lechviertel spaziert, in der Hoffnung, dass er ihm begegnen würde, hatte sogar daran gedacht, beim Benzenauer anzuklopfen, um missionarisch tätig zu werden. Doch immer wieder hatte er gezögert. Schließlich kam er auf die Idee, dass der Kirchgang eine günstige Gelegenheit wäre. Für Otto war selbstverständlich, dass die Benzenauersippe im Lechviertel zu den Barfüßern zur sonntäglichen Predigt ging.

Da stand er nun vor der protestantischen Kirche. Es schmerzte ihn zu sehen, wie viele Menschen sich von seiner katholischen Kirche abgewandt hatten. Es waren eben nicht nur die Gebildeten, sondern Menschen aus allen Schichten, darunter viele Handwerker. Allen, die hier einzogen in ihrem protestantischen Einheitsgrau, hätte er am liebsten zugerufen: Kommt zurück, ihr seid auf dem falschen Weg! Seine Augen musterten die Handwerkerfamilien, die an ihren bunten Zunftwappen leicht zu erkennen waren, eine nach der anderen. Letztlich schlossen sie die Tore. Otto blieb alleine vor der Kirche zurück. Raymund war nicht dabei gewesen.

6 15. August

10

Augsburg, September 1578

Raymund war bereits im zweiten Lehrjahr. Es hatte sich nicht viel verändert, wenigstens durften er und Jos ab und zu an die Werkbank. Am heutigen Sonntag verließ er nach dem gemeinsamen Gottesdienst mit Remigius und Jos den Dom und verabschiedete sich von seinen Freunden. »Ich mache einen Besuch bei einem Freund meines Onkels«, sagte er, was nicht gelogen war. Raymund wollte der seit Langem ausgesprochenen Einladung endlich folgen.

»Untern Waeschen«7, nicht weit vom Jakobertor entfernt, hatte der Goldschmied Wohnung und Werkstatt. Die Gegend war bekannt für das eher ärmliche Handwerk. Seifensieder, Korbmacher, Scherenschleifer oder Pfannenflicker hatten sich hier niedergelassen. Raymund war aufgeregt, als er vor der Tür des dreistöckigen Hauses stand. Ob er sich an mich erinnert und mich empfangen wird? Ehrfürchtig zog er an der Glocke. Alle Fenster im Erdgeschoss waren mit dicken Eisenstäben vergittert, die Öffnungen und die Tür waren groß und prächtig in Stein gefasst, die Beschläge an der Pforte aus poliertem Messing glänzten in der Morgensonne. Die prächtige Unterkunft wollte nicht so recht in dieses Viertel passen, doch es war bekannt, dass dieses Haus dem Fugger gehörte und dieser im Keller einen Behandlungsraum für Syphiliten eingerichtet hatte, die aus dem ganzen Reich anreisten und sich von einer neuen Heilmethode Linderung und Genesung erhofften. Raymund wusste nichts Genaues darüber, nur dass es etwas mit Quecksilberdämpfen zu tun hatte.

Meister Altenstetter persönlich öffnete ihm. Raymund war ein weiteres Mal beeindruckt von der aufrechten Gestalt und schüttelte ihm die Hand.

»Guten Morgen, junger Freund, du hast meine Einladung doch nicht vergessen, komm herein!«

»Meister, ich bin gekommen, weil es mir … Weil die Sache mit dem … Weil ich Euch um einen großen Gefallen bitten möchte«, stammelte Raymund.

»Ich bin dein Bruder David, also nenne mich nicht Meister; denn wer außer Jesus selbst verdiente es zu Lebzeiten, dass seine Jünger ihn so nannten. Jetzt lass uns erst einmal ins Haus gehen, mein Weib wird dir gerne etwas zu trinken geben.« Er schob Raymund in den Hauseingang, in dem seine Frau im Sonntagsgewand wartete.

»Das ist Raymund Rehlinger, Catherina, ein Bruder im Geiste. Wir haben uns bei der Witwe kennengelernt. Er geht beim alten Benzenauer in die Lehre.«

Catherina umarmte ihn herzlich, wie es bei den Schwenckfeldern der Brauch war. »Sei willkommen, Bruder, ich nehme an, der Kaufmann Hieronymus ist ein Verwandter von dir. Wir kennen ihn, seit wir in Augsburg wohnen. Er war uns eine große Hilfe bei vielen Dingen und hat uns manche Tür geöffnet. Was möchtest du trinken?«

»Ich trinke gerne einen Saft, wenn es recht ist.« Raymund sah sich verwundert im Haus um. Schnell wurde ihm klar: Hier wohnte ein Mann, der weder seinen Wohlstand aus dem Zehnten der Bauern und der Arbeitskraft von Leibeigenen zog noch auf die Schieß- und Jagdleidenschaft der Leute höheren Standes angewiesen war wie sein Lehrmeister. Der Bewohner dieses Hauses stand mit Fürsten, Adligen und Königen in Verbindung und war reich.

»Raymund, hör zu! Bevor ich dir meine Werkstatt zeige, musst du mir das Versprechen geben, keinem Menschen davon zu erzählen. Sowohl über das, was du von mir erfährst als auch über das, was du sehen wirst.«

»Ich verspreche es Euch, Meister, äh Bruder«, verbesserte sich Raymund rasch.

»Na dann komm mit!« Der Hausherr schob ihn durch einen Korridor in den hinteren Teil des Hauses, bis eine ungewöhnlich breite, schwere Eichentür den weiteren Weg versperrte. David Altenstetter griff in seine lederne Seitentasche und holte einen kunstvoll geschmiedeten Schlüssel heraus, mit dem er das Schloss geräuschvoll öffnete.

Raymund war auf eine Werkstatt vorbereitet, wie er sie bei den Goldschmieden im Lechviertel gesehen hatte. Was sich hinter dieser Tür befand, ließ ihm jedoch staunend den Mund offen stehen. Er übersah die beiden Treppenstufen, die in die Werkstatt hinabführten. Der Goldschmied hielt ihn am Ärmel fest, sonst wäre er gestolpert. In dem gut sechzig auf dreißig Schuh großen Raum erinnerte wenig an die kleinen Kammern der Goldschmiede. Mehrere mannshohe Bronzeskulpturen, Dutzende Figuren aus Gips, eine Esse und Schmiedewerkzeuge ließen eher auf das Reich eines Bildhauers schließen. Im hinteren Teil des Raumes dampfte und brodelte es aus einer Vielzahl an Töpfen, Kesseln und Phiolen, ohne dass jemand im Raum gewesen wäre. An den Fenstern standen mehrere Tische, wohl Arbeitsplätze der Goldschmiede. Auf ihnen lagen Feilen, Scheren, Punziergeräte, Pinsel und Hämmerchen. Raymund war fasziniert von all diesen geheimnisvollen Geräten.

»Der Silberpreis ist in den letzten Jahren immer weiter gefallen, seit die Spanier und Portugiesen in der Neuen Welt jeden Tag größere Vorkommen entdecken und über den Atlantik bringen. Ich versuche mich in den verschiedensten Gebieten, wie Erz- und Bronzegüssen, Legierungen, aber auch in der Alchemie. Alle glauben, dass ich Gold herstellen möchte. Das ist natürlich Unsinn. Ich weiß, dass niemand dazu in der Lage sein wird, denn Gold entsteht durch Temperaturen und Druck, die kein Mensch erzeugen kann. Deshalb bin ich gezwungen, mein Brot durch mein Erlerntes zu verdienen und die Experimente vom Gewinn zu finanzieren.«

Raymund kam gar nicht aus dem Staunen heraus, so viel Neues gab es zu sehen. Eine Tür, die von der Werkstatt abging, blieb allerdings ungeöffnet. Er vermutete, dass der Meister dort sein Laboratorium betrieb, über das in der ganzen Stadt getuschelt wurde.

»Nun zu dir, Raymund. Wie war das mit deinem Gewehr? Du wolltest die Zielgenauigkeit verbessern, indem du den Lauf nicht mehr auf der Unterseite zusammen schmiedest, sondern ihn wie ein Band um einen Dorn wickelst. Habe ich das richtig verstanden?«

 

Raymund war sehr verwundert, dass sich der Goldschmied an den genauen Wortlaut seiner kurzen Beschreibung des Vorhabens bei ihrem ersten Zusammentreffen erinnern konnte. »Ich bin noch nicht weitergekommen, denn dieser kurze Lauf, der umständliches Aufständern überflüssig machen soll, benötigt eine größere Menge Pulver, um der Kugel auf dem kurzen Weg genügend Antrieb zu geben. Dafür muss wiederum das Material des Laufes stabiler werden.«

David Altenstetter hörte aufmerksam zu, ging dann an einen mächtigen Kirschholzschrank und entnahm ein Kurzgewehr.

Raymund sah sofort, dass diese Waffe mit dem dicken Knauf am Ende in Aussehen und Form mit Benzenauers Hakenbüchsen wenig gemein hatte.

»Ich kaufe gelegentlich solche Waffen an und verziere sie. Es gibt sehr viele Leute, die ihre Macht öffentlich zur Schau tragen und sich protzig an Äußerlichkeiten messen lassen wollen. Die Waffen müssen am Körper getragen werden und zu diesem Zweck handlich und leicht sein. Die aus Frankreich kommenden Pistoletten sind dafür am besten geeignet. Ich liefere an Prinzen, Kalifen und Paschas im Orient, daher die exotischen Motive und seltsam anmutenden Formen. Der Preis ist eher eine Nebensächlichkeit, in diesen Kreisen spricht man nicht über die Kosten. Über die Treffsicherheit musste ich mir bisher keine Gedanken machen, weil die Herren höchstens zur Begrüßung in die Luft schießen. So erzählen es jedenfalls ihre Gesandten.« Er lachte herzlich und übergab Raymund eher beiläufig die funkelnde Waffe.

»Was für eine wunderbare Arbeit«, entfuhr es ihm. Ehrfürchtig nahm er sie mit beiden Händen entgegen, drehte und wendete sie in alle Richtungen, besah sich den Mechanismus und war geblendet vom Glanz des Edelmetalls, des Elfenbeins und den in allen möglichen Farben schillernden Einlegearbeiten. Raymund nahm all seinen Mut zusammen. »Ich habe so etwas Schönes noch nie in meinem Leben gesehen und würde alles dafür tun, wenn Ihr mir die Gnade erweisen könntet, diese Kunst bei Euch erlernen zu dürfen, Bruder David.« Er verbeugte sich voller Ehrfurcht vor ihm.

»Nicht doch, lass das gefälligst bleiben, Raymund. Alles ist von meiner oder meiner Gesellen Hände Arbeit entstanden und du tust, als wenn ich ein Zauberer oder Wundermann wäre. Es gibt natürlich Geheimnisse, vor allem bezüglich der Mischungsverhältnisse der flüssigen Emaillen und der Farbzusammensetzungen, die ich auch vor meinen Gesellen zurückhalte und die so ein Gewehr zu einem unnachahmlichen Kunstwerk machen. Aber erklär mir lieber, was es mit dem Lauf auf sich hat, den du zu verbessern gedenkst!« David Altenstetter packte ihn an den Schultern und griff ihm dann freundschaftlich mit seiner großen Hand an den Kragen, während Raymund immer noch fassungslos die Pistolette in den Händen hielt wie ein Ding aus einer anderen Welt.

Er schluckte. Wie konnte er den Goldschmied von sich überzeugen?

»Die Naht des Laufs darf nicht in Schussrichtung verlaufen, weil sie dadurch viel anfälliger ist auseinanderzubrechen, darum muss der Stahl widerstandsfähiger gemacht werden und deshalb möchte ich ihn um einen Dorn wickeln. Dazu habe ich entdeckt, dass die Windungen, die diese Methode im Lauf hinterlässt, die Kugel in eine Drehung versetzen, wie bei einem Pfeil, den die gut angeordneten Federn zum Drehen bringen.« Er sah David Altenstetter mit erwartungsfrohen Augen an.

Der Goldschmied strich sich über seinen Bart und lächelte. Er schien zufrieden.

Diese kleine Reaktion machte Raymund glücklich; endlich hatte er jemanden gefunden, der seinen Vorschlägen wohlwollend gegenüberstand.

»Du bist ein gescheiter Kopf, Raymund, das klingt einleuchtend. Aber hast du es denn schon einmal ausprobiert?«

»Darin liegt ja mein Problem; niemand beim Benzenauer will ein Kurzgewehr bauen, alle lachen nur darüber. Der Obergsell beobachtet mich auf Schritt und Tritt, schaut uns Lehrbuben ständig über die Schultern und leitet sofort jede Unregelmäßigkeit an den Meister weiter. Ich habe den Mechanismus fertig und weiß bloß noch nicht, wie ich es mit dem Lauf anstellen soll.«

»Lass mich überlegen, wie ich dir helfen kann.« David Altenstetter nahm ihm die Waffe wieder ab und legte sie behutsam zurück in den Schrank, dann schob er ihn auf die andere Seite der Werkstatt.

»Und wenn du einfach mit dem Benzenauer sprichst und ihm erklärst, dass dein Gesellenstück etwas Besonderes sein soll? Das könnte er dir erlauben.«

Raymund blieb unversehens stehen und schaute ihn fragend an.

»Wenn er nicht damit einverstanden sein sollte, machst du eben zwei Gesellenstücke. Eines nach dem Geschmack des alten Benzenauers und das andere fertigen wir hier in meiner Werkstatt an. Den Lauf konstruieren wir so, dass er zur Pulverkammer und dem Zündmechanismus mit einer Schraubverbindung abnehmbar sein wird. Niemand wird etwas von unserer Übereinkunft merken. Schau, hier ist meine kleine Schmiedewerkstatt.«

Raymund fiel ein Stein vom Herzen. Das war es, was er sich erhofft hatte. Er ließ sich die kleine Schmiede zeigen und atmete tief durch.

»Nach Abschluss deiner Gesellenprüfung kannst du dir überlegen, ob du bei mir als Büchsenmacher arbeiten oder eine Goldschmiedelehre anfangen möchtest. Sprich aber vorerst mit niemandem darüber, verstanden?«

Das war der entscheidende Satz. Raymund jubelte innerlich, nahm die beiden Hände des Goldschmieds und schüttelte sie dankbar.

7 Straßenname

11

Augsburg, erster Adventssonntag8 1578

Durch einen Zufall hatte er vor zwei Tagen von einem Sakristan erfahren, dass drei aus der Benzenauerwerkstatt den Gottesdienst im Dom besuchten. Wenn Raymund nicht zu den Barfüßern geht … Sollte Raymund wirklich? Otto konnte es kaum erwarten.

Sofort nach dem feierlichen Einzug mit dem Zelebranten und dem Prediger, noch bevor er seinen Platz im Chorgestühl eingenommen hatte, ging sein Blick hinunter in das Kirchenschiff. Er sah über die Bänke der Adligen und der Bürger hinweg nach hinten zu den Handwerkerbänken. Auf der linken Seite, in der siebzehnten Reihe saß er, der Rotschopf war nicht zu übersehen: Raymund, sein Sohn. Es war nur ein Punkt unter vielen Hundert anderen, weder Gesichtszüge noch Regungen konnte er erkennen, doch er war sich sicher. Er dachte an Giovanna, Raymunds Mutter, die bei der Geburt gestorben war, als er sie aus Bologna in seine Heimat hatte bringen wollen. Er hatte immer geglaubt, dass wegen seiner Sünden sein Sohn bei Ketzern aufwachsen musste. Nun war er hier im katholischen Dom. Vor dem Ende des Gottesdienstes verschwand Otto in die Sakristei. Es hielt ihn nicht mehr, er musste ihn einmal aus der Nähe sehen. Sie gehen wieder ins Lechviertel hinunter, also werden sie das Südportal nehmen. Ich stelle mich an das Weihwasserbecken, da müssen alle vorbeikommen. Noch vor dem Segen stand er da. Sein Herz pochte bis zum Hals. Im Gedränge sah er den Rotschopf immer weiter auf sich zukommen. Es war nur ein kurzer Moment und trotzdem genügte es ihm, diesen Augenblick für alle Zeiten festzuhalten, diesen Blick in das eigene Spiegelbild. Er sah sich selbst, jünger, schöner, selbstbewusst, vor Kraft strotzend und Giovanna. Raymund, mein Sohn, es ist ein Geschenk des Himmels. Otto taumelte und kniete sich in eine der leeren Kirchenbänke. Ich danke dir, mein Gott, dass du ihn in dein Haus zurückgeführt hast. Otto sah hinauf zum Hochaltar und sein Blick verschwamm.

8 30. November

12

Augsburg, Dezember 1578

»… dass du mich recht bald wieder in deine starken Arme nehmen wirst …«, der Obergsell schlug sich mit seiner rechten Hand unter dem höhnischen Gelächter der anderen Gesellen auf den Schenkel, in der linken hielt er prahlerisch einen Brief, aus dem er immer wieder vorlas. Raymund stand zögernd in der Tür und beobachtete die Szene. Sie hatten ihn nicht kommen sehen.

»… möge Gott dich beschützen und mir erhalten, mein geliebter Schatz …« Lustvoll hob Greisinger die Stimme und versuchte, im hohen Register eine Frauenstimme zu imitieren.

Raymund durchlief es heiß.

»Geliebter Schatz, öha, da hat doch der Hundsfott irgendwo eine kleine Hure liegen.«

Wieder war das Gelächter um den Tisch in der Werkstatt groß.

Jetzt war sich Raymund sicher, dass der Greisinger Helenas Brief abgefangen und darauf gewartet hatte, dass Jos und er in der Stadt unterwegs waren, um ihn den anderen vorzulesen.

»In Liebe, deine Helena«, flötete der Obergsell, als Raymund bereits hinter ihm stand.

»Das ist meine Schwester und es geht euch überhaupt nichts an!«

Das höhnische Lachen verstummte mit einem Schlag, als Raymund dem Obergsell den Brief aus der Hand riss.

»Das werd ich dem Meister sagen, dass du meine Briefe aufmachst und anderen vorliest. Schämen solltest du dich, du Drecks…!«

»Na, na! Spar dir deine Kraft für die Arbeit, Rotschopf, und lass den Meister lieber aus dem Spiel, sonst erfährt er von mir ganz andere Dinge über dich. Ich werde ja wohl noch einen kleinen Spaß machen dürfen, wenn mein Lehrbub sich mit einer Hübschlerin abgibt.« Der Obergsell grinste Raymund hämisch an und entblößte dabei seine Zahnlücke. Die anderen zogen sich langsam aus der peinlichen Situation zurück.

»Nimm dieses Wort nie wieder in den Mund, wenn du von meiner Schwester sprichst, Greisinger! Ich brech dir sämtliche Knochen, dass du’s weißt.«

»Dass ich nicht lache, Schwächling! Komm mir nicht frech, für dich immer noch Obergsell! Und ein bisschen mehr Respekt vor den Autoritäten. Eure dummen Leibeigenen und Bauern kannst du bei deiner sauberen Verwandtschaft hinter den Wäldern befehligen. Hier in der Stadt weht ein anderer Wind, lass dir das ein für alle Mal gesagt sein!«

Raymund biss sich auf die Lippen, am liebsten hätte er dem Obergsell ins Gesicht geschlagen. Dabei konnte er froh sein, wenn er für seine trotzige Antwort nicht noch eine Tracht Prügel bezog. Eines Tages würde er dem Greisinger alles heimzahlen mit Zins und Zinseszins! In diesem Augenblick packte ihn das schlechte Gewissen und es kam ihm in den Sinn, dass diese Rachegedanken all dem widersprachen, was ihm in seinem Elternhaus beigebracht worden war. Er musste noch viel an sich arbeiten. Versöhnung, Sanftmut! Es gab für ihn nur einen Weg. Er musste besser werden als alle anderen, das würde ihm Respekt verschaffen. Der Gedanke an Helena spornte ihn an und er war sich sicher, dass er den Greisinger bald einholen würde.

Er ging hinauf in seine Kammer, las den Brief mehrmals, küsste ihn und verwahrte ihn gut in seiner Kiste; den Schlüssel trug er stets bei sich.

»Mein Mädchen, ich liebe dich auch und habe so große Sehnsucht nach dir!«, flüsterte er und warf sich auf sein Bett.