Die Bewohner von Plédos

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Die Bewohner von Plédos
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 3

Weltkarte 4

Die Kontinente der Inselwelt 6

Der Komponische Märchenwald 13

Der Dunkle Mond 24

Die Expedition 36

Sabut 57

Die Schlangenburg 71

Der Kyruppengraben 83

Die Donnerstadt 97

Die Küstenstadt 107

Die Polreise 118

Im Land der Mammutfresser 133

Unter Touristen 149

Die Reise nach Gorkan 160

Das Tal des Todes 178

Bei den Pessianern 194

Panokrel 212

Aufbruch nach Omonu 234

Im Bauch des Felsendrachen 243

Der Missionar 257

Die grüne Halbinsel 273

Bei den Wildhörnern 279

Berbis Tat 297

Die Wildhornversammlung 311

Die Strafe 320

Das Geheimnis des Grizzly-Fressers 329

Die Passbewohner 339

Der Orkan 350

Die Windsbraut 358

Die Kordelstadt 370

Die Lichtmaschine 381

Der Flug nach Totenmund 394

Die Gerichtsverhandlung 405

Alte Bekannte 421

Im Kunstverein 435

Die Bekehrung 446

Sendbriefe nach Haihaupt 456

Wieder zu Hause 468

Impressum

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Für den Inhalt und die Korrektur zeichnet der Autor verantwortlich.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-85022-464-2

ISBN e-book: 978-3-99131-283-3

Lektorat: Mag. phil. Barberi Alessandro

Umschlaggestaltung und Innenabbildungen: Winfried Nowotny

www.novumverlag.com

Weltkarte



Die Kontinente der Inselwelt

Etwa viertausend Jahre braucht das Licht, um von einem großen weißen Stern zu unserer Erde zu gelangen. Dieser Stern wird von zwölf Planeten umbahnt. Der siebente unter ihnen ist eine geheimnisvolle Inselwelt. Unter den Weisen der Vorzeit, die noch über ein Wissen verfügten, das heute verschollen ist, wurde sie wegen der Vielfalt ihrer Lebensformen die Welt von Plédos genannt. Sie ist mit einem Umfang von über neunundfünfzigtausend Kilometern etwas größer als die Erde und ihre Achse ist nur wenig geneigt. Diese Inselwelt wird in einem Abstand von nur hundertfünfzigtausend Kilometern von einem großen dunklen Mond umkreist. Einige nennen diesen Mond einen Planetenmond. Sie nennen ihn deshalb so, weil sich beide Himmelskörper, Plédos und sein Mond, um eine gemeinsame Achse drehen, die etwa in der Mitte zwischen beiden liegt. Obendrein drehen sich beide relativ zu dieser Bahn auch um ihre eigene Achse und wenden einander stets unterschiedliche Seiten zu. Sie haben ein gemeinsames Schwerefeld und der Planetenmond besitzt eine Atmosphäre, die der von Plédos sehr ähnlich ist. Er ist im Verhältnis zur Welt von Plédos viel größer, als jeder gewöhnliche Mond im Verhältnis zu seinem Planeten ist. Sein Umfang liegt bei fünfundzwanzigtausend Kilometern. Die Bewohner der Welt von Plédos nennen ihn Pessian. Pessian besitzt wie Plédos einen reinen, blauen Himmel mit mäßiger Dunstbildung, aber er verfügt nur über wenige Meere, die sehr unrein sind. Der Planetenmond ist von vielen kleinen und großen insektenartigen Lebewesen bewohnt. In früheren Zeiten fanden von Plédos aus Raumflüge nach Pessian statt, aber das ist eine andere Geschichte, die an anderer Stelle erzählt werden soll.

Die Welt von Plédos ist, abgesehen von ihren beiden Polen, in sieben verschiedene Kontinente aufgeteilt, die sehr unterschiedlich geformt sind und eine ungeheure Vielfalt an Lebensformen beherbergen. Allein die Unterschiede zwischen den menschlichen Völkern sind vielfältiger als auf den anderen Welten vergleichbarer Größe, umso mehr die zwischen den Tieren.

Der Kontinent Stiefelburg gleicht am ehesten einem lang gestreckten Rechteck und läuft im Nordosten in den Kopf eines Seeungeheuers oder in so etwas wie einen gewaltigen, geschwungenen Damenstiefel aus. Es ist der Kontinent der Abenteurer. Die Völker von Stiefelburg stehen auf unterschiedlicher Kulturstufe. Die nördlichen Nationen sind mit den Kulturen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts vergleichbar, die kriegerischen, südlicheren haben viel Ähnlichkeit mit der Kultur des Mittelalters. Sie haben viele große Burgen und Ländereien und gehen in Rüstungen einher. Sie befinden sich im ständigen Krieg mit einer außergewöhnlichen Menschenrasse, die ebenfalls im Süden heimisch ist, – den Wildhörnern.

Bei den Wildhörnern handelt es sich um die geheimnisvollste und außergewöhnlichste Menschenrasse auf Plédos. Ihr Blut ist besonders eisenhaltig und kann in besonderem Maße Sauerstoff binden, der ihr Gehirn und ihre Muskeln versorgt. Ihre Haut ist von matter, silbergrauer Farbe und ausgesprochen zäh und sie verschmähen es, Kleidung zu tragen. Sie haben große, grüne Katzenaugen und ihre Stirn ist wie ein Pilzdach oder ein Helm nach außen gewölbt. Ihr Haar gleicht einem einzigen langen Schweif, der sich in der Mitte des Kopfes befindet und von unterschiedlicher Farbe, aber meist feurig rot ist und sie tragen Hörner auf dem Kopf, wonach sie benannt sind. Sie besitzen lang gestreckte Burgen, die sich in der Unendlichkeit des Kontinentes verlieren. Frauen und Männer unterscheiden sich äußerlich kaum voneinander. Beide Geschlechter sind ungeheuer gewandt im Kampf. Da der Geburtskanal der Frauen wegen der Zähigkeit ihrer Haut und Muskulatur nur wenig dehnbar ist, kommen die Kinder ganz klein, kaum größer als ein Daumen, zur Welt. Schon im Säuglingsalter sind sie ungeheuer flink und gewandt und handhaben die Waffen ohne große Mühe. Trotz der großen Grausamkeit, die man ihnen nachsagt, sind die Wildhörner sehr auf Ästhetik und Sauberkeit bedacht. Unter den Stiefelburgern sind es die Gentlemen. Sie verfügen über große Spiralschwerter mit einer unglaublich dünnen Schneide von unübertrefflicher Schärfe, mit denen sie schnell und präzise umzugehen verstehen. Wenn sie damit auf ihre Gegner einschlagen, so bleibt das von diesen zunächst fast unbemerkt, vorausgesetzt, sie lassen ihre Arme dabei nicht senkrecht nach unten hängen. Im Gegensatz zu ihren Gegnern, den übrigen Südländern, lassen sie keine blutigen Leichen zurück, vorausgesetzt, die von ihnen so behandelten haben sich noch nicht von der Stelle bewegt. Tun sie dies aber, so kann es geschehen, dass sie in saubere Scheibchen zerfallen, aus denen dann erst, wenn sie in Panik davonzulaufen versuchen, langsam das Blut quillt. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, können sie sogar einige Wochen überleben, essen und trinken und sogar Stuhlgang haben, wenn sie sich dabei auf den Beinen halten. Den Wildhörnern selbst ist es unbegreiflich, dass ihnen Grausamkeit nachgesagt wird. Vielmehr halten sie sich selbst für äußerst kultiviert. Sie verfügen auch über sehr viele Wissenschaften, die den meisten Menschen auf Plédos unbekannt sind. Da sie aber sehr traditionsbewusst sind, haben sie ihre Sitten und Kulturgüter seit Jahrtausenden nicht geändert. Dennoch gehörten sie zu den ersten, die sich für Sternkunde interessierten und eine Form der Weltraumfahrt entwickelten.

 

Es ist noch nie beobachtet worden, dass irgendein Wildhorn im Kampf gegen Menschen gefallen ist. Der Flinkheit und Stärke der Wildhörner ist niemand gewachsen, noch hat jemals ein gewöhnlicher Sterblicher ihren Erfindergeist ergründet. Dennoch treibt der Herrscher der Südländer, König Artobald, seine Ritter unter Androhung der Todesstrafe an gegen die Wildhörner, deren Grausamkeit er nie genügend hervorheben kann, zu kämpfen. Wer den Befehlen des Königs nicht gehorcht, muss unter entsetzlichen Qualen den Tod erleiden. Seine Güter verfallen an die Henkersknechte und seine Familie wird ehr- und mittellos. So wählen die Ritter des Königs lieber den Tod im Kampf. Es ist zu vermuten, dass den Wildhörnern diese Tatsache nicht bekannt ist. Wüssten sie davon, so würden sie die gegen sie anstürmenden Südländer gewiss schonungsvoller behandeln. So aber glauben sie im Recht zu sein, wenn sie sich verteidigen. Wahrscheinlich sagen sie sich, dass die mittelalterlichen Südländer ganz schöne Dummköpfe sein müssen, wenn sie nicht den Mut aufbringen, sich gegen einen König, der sie grausam unterdrückt, zur Wehr zu setzen. Wahrscheinlich können sie sich nicht vorstellen, dass ein Volk einen anderen König haben könne als den, den es selbst gewählt hat und der es repräsentiert. Wahrscheinlich sind sie deshalb so wenig geneigt, die Ritter, die von allen Seiten ihre Burgen anzugreifen suchen, als bloße bemitleidenswerte Opfer zu betrachten. Wer weiß es? Wie dann doch die Wildhörner am Ende eine Lösung des Problems fanden, die beiden Seiten zugute kam, das ist eine andere Geschichte, die später berichtet werden soll.

Einer der berühmtesten Nordländer von Stiefelburg ist hauptsächlich unter dem Namen „Männelein“ bekannt. Eigentlich nennt er sich Galun. Er war ein Einzelkind und wuchs bei seiner Mutter auf, mit der er in ständigem Konflikt stand. Gemeinsam mit seinem Freund Bilon, einem munteren Blondschopf, unternahm er Streifzüge durch die ganze Welt. Seine Abenteuer sind legendär. Über sie wird später noch zu berichten sein.

Östlich von Stiefelburg liegt Íoland. Íoland gleicht in der Gestalt einer Flunder mit erhobener Schwanzflosse. Der Kontinent ist vorwiegend von Fischern und solchen Menschen bewohnt, die auf ihren persönlichen Nutzen bedacht sind. Sie betreiben Handel, fahren zur See und haben prunkvolle Städte.

Es gibt nur zwei sehr große Kontinente auf Plédos, die untereinander durch eine Landbrücke verbunden sind. Den nördlichen nennen wir Windlanden, den südlichen Totenmund.

Windlanden hat die Form eines schemenhaften, geschlängelten Menschen mit großem Kopf und ohne Gliedmaßen. Den Namen hat der Kontinent von den Luft- und Feuerstürmen, die dort wüten. Solche Stürme kommen und gehen in kurzer Zeit, richten ungeheure Verwüstungen an und sind so schnell vorüber, wie sie begonnen haben. Die Bewohner von Windlanden sind kaum eine Stunde vor solchen Stürmen sicher. Um sich vor den schrecklichen Winden zu schützen und nicht alle Tage ihr Hab und Gut zu verlieren, haben sie sich unterschiedliche Methoden ausgedacht. Viele ihrer Städte gleichen Spinnennetzen, die zwischen ungeheuer hohen, biegsamen Pfeilern ausgespannt sind. In diesen Netzen aus feuerfestem Material sind Häuser wie schwingende Gondeln eingewoben, ebenfalls feuerfest, die den Luft- und Feuerstürmen trotzen sollen. An anderen Orten befinden sich feuerfeste niedrige Häuser, deren wandelbare Dächer ihre Schräge verändern und sich der Windrichtung anpassen können. Die Einwohner gehen dort mit glatten, schimmernden Kleidern und großen Hüten aus einem asbestartigen Material durch die Straßen.

Durch den Kontinent erstrecken sich große, hohe Gebirgszüge. Hier wohnen in Höhlen und aus den Felsen gehauenen Wohnungen versteckt andere Völkergruppen. Viele dieser Felsendörfer sind in den nieder gelegenen Gebirgspässen fast vollständig vor den Luft- und Feuerstürmen geschützt.

Der Kontinent Totenmund gleicht einem menschlichen Totenschädel mit leicht geöffnetem Mund und vorgeschobener Unterlippe. Er ist von Hexen, Zauberern und Kobolden bewohnt, die ein eigenes Volk bilden. Diese Wesen sind von ausgesprochener Hässlichkeit und mit Alraunen vergleichbar. Sie sind äußerst zäh und widerstandsfähig und werden mehrere tausend Jahre alt. Sie wohnen in Höhlen und Hütten in dichten Wäldern, die von Nebelschwaden durchzogen sind. Mit ihren einfachen Fluggeräten eilen sie vom Wind getragen durch die Luft. Insbesondere die Völker im Bereich der an Windlanden angrenzenden Landbrücke haben sich diese Fähigkeit zunutze gemacht.

Östlich von Windlanden und Totenmund liegt der Kontinent Haihaupt. Seine Form ähnelt einem Bumerang. Dieses Land ist von mächtigen, etwa zehn Meter hohen Riesen bewohnt. Ihre Kultur ist sehr einfach und roh. Sie wohnen in Hütten, die aus Bäumen geflochten sind, und sind meist von unsäglicher Grausamkeit. Man sagt, dass einer von ihnen, der missgebildet war und zwei Hörner auf dem Kopf und ein weiteres auf der Stirn trug, sich auf eine einsame Insel im Ostmeer zurückgezogen habe, wo er sich von Bären ernähre, die er roh verzehren würde. Diese Insel nennt man die Grizzlyfresserinsel. Ihr Namensgeber ist auch für gestrandete Menschen sehr gefährlich. Seine Zähne sind spitz. Die Landsleute des Grizzlyfressers behaupten, dass dieser den Verstand verloren habe. Aber sie haben nichts unternommen, um ihren wahnsinnigen Bruder zurückzuholen. Sie lassen ihn gewähren.

Ein weiterer, noch weiter östlich gelegener Kontinent ist Ómuo. Er besteht eigentlich aus zwei größeren Inseln, einer kleineren südöstlichen und einer relativ kleinen, nordwestlichen, die durch eine Landbrücke miteinander verbunden sind. Die kleinere, südöstliche, wird von ihren Bewohnern Omonu genannt. Die größere, nordwestliche nennen die zivilisierten Völker Sonnenostun. Sie heißt deshalb so, weil sie, wie auch die Halbinsel Omonu, im sogenannten Sonnengürtel des Planeten liegt, der sich durch außerordentliche Hitze auszeichnet. Sonnenostun hat eine nordwestliche Ausbuchtung, die der Karikatur eines menschlichen Gesichtes im Profil gleicht, und läuft südwestlich in eine riesige Zacke aus, die einem Bart ähnelt und sich in mehreren kleinen Inseln fortsetzt. Für das zusammenhängende Festland hat sich der Name Ómuo eingebürgert. Die Vegetation auf Ómuo ist in besonderem Maße schwefelhaltig und erzeugt Ausdünstungen, die das Sonnenlicht sammeln und eine unerträgliche Hitze verursachen, sodass selbst die Haut der schwarzen Völker unter ihrer Einwirkung verbrennen würde. Es hat sich daher auf Ómuo eine besondere Menschenrasse herausgebildet, die statt Pigmenten Chlorophyll in der Haut trägt und daher grün erscheint. Selbst ihre Augäpfel sind grün. Sie besitzen die Fähigkeit der Fotosynthese, können daher von Licht und Wasser leben und sind weder Vegetarier noch Fleischesser. Sie brauchen nicht zu arbeiten, um sich Nahrung zu beschaffen, was bei der unerträglichen Hitze tagsüber auch kaum möglich wäre. Sie haben es daher auch nie zu einer höheren Kultur gebracht. Ihre Zähne sind klein und spitz und werden außer zum Abschaben von Steinen nur zur Selbstverteidigung benutzt. Auch ihre selbst gefertigten Waffen, große, lange Speere, setzen sie nur zur Verteidigung ein. Sie tragen keine Kleidung, behängen sich aber mit Schmuck. Die grünen Völker bekämpfen sich nicht untereinander, da sie friedliebend sind. Es gibt aber viele große gefährliche Tiere auf Ómuo, die fast alle fleischfressend sind. Selbst viele Pflanzenarten auf Ómuo sind fleischfressend. Wegen der aufsteigenden Schwefeldämpfe gedeihen grüne Pflanzen nur schlecht. Viele haben sich daher auf ein Dasein als Zwitterwesen – halb Tier, halb Pflanze – spezialisiert und lauern ihren Opfern aus dem Hinterhalt auf. Da die Eingeborenen von Ómuo, besonders die Kinder, nicht immer Waffen bei sich tragen, müssen sie sich oft ihrer kleinen Zähne bedienen, um die Pflanzen zu zerstückeln, die sie überraschend ergreifen, um sie zu verzehren. Darüber hinaus müssen sich die grünen Völker gegen die Fischer aus Íoland und die Abenteurer aus Stiefelburg verteidigen, die nach Ómuo reisen. An der Eroberung des Kontinentes sind diese bisher gescheitert.

Der Kontinent Rüsselschwein im Osten von Ómuo gleicht einer plumpen Sau auf zwei südwestlichen Beinen mit gewaltigem Kopf, den man als eine Mischung aus Schwein und Elefant bezeichnen könnte, und der im Norden in einen riesigen, aufgerichteten Rüssel ausläuft. Unter allen Kontinenten von Plédos ragt Rüsselschwein – von seinen Bewohnern „Kirisag“ genannt – durch seine reiche Tierwelt hervor. Manche dieser Tiere sind denen auf der Erde ähnlich. Gewöhnliche Menschen gibt es in Rüsselschwein nur wenige, aber es leben dort einige Riesen- und Zwergenvölker. Unter diesen stechen die fünf Meter hohen Giplomben, blaue, dumpfe Riesen mit Stielaugen, und die Zwergenrasse der Kunos hervor. Ausgewachsene Kunos werden in der Regel siebzig Zentimeter hoch, haben Schweinsnasen, dicke Bäuche und langes, struppiges Haar. Im Norden des Landes befindet sich der ausgedehnte Löwensee, wo sich Herden großer löwenartiger Tiere treffen. Weiter südlich liegt die große, eintausend Kilometer tiefe Ganganjer-Schlucht. Sie ist das Wahrzeichen des Kontinentes. Alles, was in diese Schlucht stürzt, wird an ihrem Grund zu Staub zermalmt. Man sagt, dass diese Schlucht entstanden sei, als sich einst in grauer Vorzeit der Planetenmond Pessian von Plédos trennte. Damals sei der Inselwelt diese große Wunde gerissen worden.

Am nördlichen Rande der Ganganjer-Schlucht befindet sich der Komponische Märchenwald. Er wurde von den beiden Riesen Idan und Oler gepflanzt, die über ihn wachen. Sie sind Brüder und vor Jahrhunderten aus Haihaupt geflohen, weil sie die Grausamkeit der dortigen Bewohner nicht mehr ertrugen. Idan und Oler sind die größten und mächtigsten Wesen in Rüsselschwein. Auf einer Reise nach Windlanden rettete Idan einst einen Menschensäugling, dessen Eltern von Wegelagerern umgebracht worden waren. Er nahm ihn mit sich und zog ihn groß. Er gab ihm den Namen: „der kleine Idan“. Der kleine Idan ist in Rüsselschwein der einzige richtige Mensch. Im Komponischen Märchenwald können die Tiere sprechen – wenigstens erscheint es dort dem kleinen Idan so – und sie leben in Frieden zusammen. Und hier ist es, im Komponischen Märchenwald, wo unsere Geschichte beginnt.

Der Komponische Märchenwald

Vor der tausend Kilometer tiefen Ganganjer-Schlucht, auf deren Grund alles zu Staub zermalmt wird, was hineinfällt, lag der Komponische Märchenwald. Er wimmelte von Elefanten, grizzlyartigen Bären, Löwen, Affen und vielen, vielen anderen Tieren. Unter ihnen lebte der kleine Idan, der der einzige gewöhnliche Mensch im ganzen Walde und, wenn man es genau nimmt, auf dem ganzen Inselkontinent war. Er lebte in Frieden mit den Tieren zusammen. Zu der Zeit, in der unsere Geschichte beginnt, war der kleine Idan gerade neun Jahre alt und hatte seine ganze Kindheit im Komponischen Märchenwald verbracht. Er hatte keine Eltern und es gab auch sonst weit und breit keine gewöhnlichen Menschen, die sich um ihn kümmerten. Wer hatte ihn groß gezogen? Immerhin trug der kleine Idan einen weißen Wollpullover und eine lange schwarze Hose mit Hosenträgern und irgendjemand musste sie ihm gemacht haben. Auch konnte der kleine Idan sprechen. Irgendjemand musste ihm die Menschensprache beigebracht haben. Abenteurer, die den Komponischen Märchenwald besucht hätten – nur hatte das bisher noch keiner getan – hätten sich wahrscheinlich sehr gewundert, wenn sie den Jungen so mutterseelenallein hier angetroffen hätten, und sich ganz bestimmt diese Frage gestellt. Und wahrscheinlich hätte nur ein Blick nach oben zur rechten Zeit und am rechten Ort, ein gewagter Blick über die Wipfel der Bäume hinaus die Lösung des Rätsels erbracht. Denn unbestrittene Herrscher des Waldes und womöglich weit und breit im ganzen Kontinent waren die mächtigen Riesen Idan und Oler. Sie waren Brüder und hatten selbst den Wald gepflanzt und die Tiere aus allen Teilen und Ländern Rüsselschweins herbeigeholt, um ihn zu bevölkern. Sie waren es, denen der kleine Idan Nahrung, Kleidung und das Leben verdankte. Der große Idan, der übrigens genauso angezogen war wie der kleine Idan, hatte den kleinen Idan auf einer seiner Reisen mitgenommen, als er mit Oler, seinem älteren Bruder, unweit der Ostküste von Windlanden Rast gemacht hatte. Unvermittelt war ein Orkan ausgebrochen und barbarische Wegelagerer, die sich die Situation zunutze gemacht hatten, hatten einem Ehepaar, das mit seinem Säugling geflohen war, aufgelauert und es erschlagen, um es auszurauben. Den Säugling der beiden hatten sie achtlos liegen gelassen. So hatte der große Idan den kleinen gefunden, ihn zu sich genommen und großgezogen und ihm seinen Namen gegeben. Der große Idan hatte diese Geschichte seinem Zögling immer wieder erzählt, bis dieser ihn eines Tages fragte, woher er denn gewusst habe, dass seine Eltern von Räubern umgebracht worden seien. Da gestand ihm der Riese, dass er die Szene kurz nach dem Ausbruch des Orkans von Weitem beobachtet hatte, aber er sei zu spät gekommen. Die Eltern seien schon tot gewesen. In seiner Wut habe er die Raubmörder, vier an der Zahl, an einem Felsen zermalmt. Den Säugling aber hätten sein Bruder und er vor dem Sturm geschützt und mit auf ihr großes Floß genommen. Unterwegs hätten sie von Fischen gelebt, die die Riesen mit der bloßen Hand gefangen hätten. Sie hätten auch eine kleine Feuerstelle auf dem Floß über zusammengeschichteten Steinen errichtet. Darüber hinaus hatten sie große Getreidesäcke geladen. Der kleine Idan sei durch die Milch eines Schafes ernährt worden, das sie mit sich führten.

 

Den Komponischen Märchenwald hatten die beiden Brüder Jahrhunderte zuvor, nach ihrer Flucht aus Haihaupt, gepflanzt. Diese Flucht aus Haihaupt hatte ihren guten Grund gehabt. Denn die Riesen dieses Kontinentes hatten trotz ihrer hohen Lebenserwartung überaus rohe Sitten und waren ausgesprochen grausam. Sie waren ausländerfeindlich und pflegten Abenteurer, die mit ihren Schiffen an den Meeresgestaden anlegten, sofort gefangen zu nehmen und hinzurichten. Auch genossen sie unter den Völkern der übrigen Kontinente den Ruf, Kannibalen zu sein. Gewöhnliche Menschen jagten und fraßen sie und sie bildeten sich obendrein noch viel darauf ein. Vom Blut der gewöhnlichen Menschen berauschten sie sich ebenso sehr, wie sich die Völker der Erde vom Wein berauschen. Soldaten aus Stiefelburg und Íoland hatten schon oft versucht, mit großen Flotten nach Haihaupt vorzudringen und das Land für sich in Besitz zu nehmen. Aber es war ihnen übel ergangen. Die Haihauptriesen hatten sie von den Küsten aus mit großen Felsbrocken beworfen und ihre Schiffe versenkt. Diejenigen unter ihnen, die sich hatten an Land retten können, waren aufgegriffen und getötet worden. Ihr Blut wurde wie ein edler Tropfen genossen. Und so hatten sich die zivilisierten Völker damit getröstet, dass es in Haihaupt ohnehin nicht viel zu holen gegeben hätte. Der Kontinent wurde als unwirtlich und wegen der Größe und Härte seiner Lebewesen als uninteressant bezeichnet. Freilich gab es noch immer einige Abenteurer, die die Reise zu den Haihauptriesen wagten, und zwar wegen der vielen Edelmetalle, die es dort zu holen gab. Die wenigsten kehrten lebend zurück. Die meisten wurden gefangen, als Staatsverräter verurteilt und unter entsetzlichen Qualen hingerichtet, von ihren Peinigern höhnisch als lebende Trauben bezeichnet. Ihr Blut wurde abgezapft und ohne Angabe seiner Herkunft als Genussmittel verkauft.

Die beiden Brüder fühlten sich von den Verhältnissen in den Ländern ihres Kontinentes in höchstem Maße abgestoßen. Der Unterricht an den Schulen, in denen sie ihre Jugend verbracht hatten, konnte sie nicht befriedigen und so entschlossen sie sich auf Reisen zu gehen. Nun war den Riesen aus Haihaupt die Ausreise von Staats wegen zwar erlaubt, doch musste diese beruflich begründet sein. Und die gängige Begründung war der Menschenfang. Da immer mehr Haihauptbewohner nach berauschenden Blutgetränken verlangten, mussten Menschen aus den benachbarten Inseln und Kontinenten eingefangen werden und um dies zu bewerkstelligen, hatte sich ein eigener Berufszweig entwickelt. So machten die beiden Brüder eine Zusatzausbildung in Menschenfang, um ohne Probleme auszureisen. Sie kehrten natürlich schon von ihrer ersten Reise nicht mehr zurück.

Der Kontinent Rüsselschwein galt – ebenso wie Totenmund – für die Haihauptriesen als eine verbotene Zone. Totenmund war der einzige Inselkontinent, der wegen der magischen Kräfte seiner Bewohner von ihnen zu Recht gefürchtet wurde. Einige Riesen, die es auf ihren Reisen dorthin verschlagen hatte, waren nicht mehr zurückgekehrt. Statt selber Menschen zu fangen, waren sie von den Alraunenwesen überwältigt und verzehrt worden. In Totenmund galt Menschenfleisch als Delikatesse. Die Alraunenkobolde errichteten ganze Fleischberge gut gesalzener Haihauptriesen. Riesen, denen es gelang, von dort zurückzukehren, berichteten von der ausgesprochenen Zähigkeit dieser Wesen und ihren Zauberkräften. Zum Essen waren die Totenmunder wegen ihrer gummiartigen Zähigkeit nicht geeignet und dies war ein weiterer Grund, warum der Kontinent gemieden wurde. In der Staatspropaganda von Haihaupt war es der einzige Grund, den man bekannt machte, denn die mächtigen Könige von Haihaupt waren zu stolz, um zuzugeben, dass die Bewohner von Totenmund eine Gefahr für sie darstellen konnten. In der offiziellen Begründung, die schon die Kinder in der Grundschule auswendig lernen mussten, hieß es:

Wo nicht das Fleisch der Menschen zart,

dorthin verboten ist die Fahrt.

Und wo nicht weiche Leute,

da gibt es keine Beute!

Idan und Oler, die Sprüche wie diese als Grundschüler im Chor hatten singen müssen, widerten solche hochgepäppelten Lügen und Halbwahrheiten an. Von den Abenteurern aus Íoland und Stiefelburg hatten die Haihauptbewohner erfahren, dass auch der Inselkontinent Rüsselschwein nicht von gewöhnlichen Menschen besiedelt war. Die Abenteurer hatten von den schrecklichen Schlangenwesen und Kyruppen berichtet und von den hässlichen Kunovölkern, die über das ganze Land verbreitet waren. Das Wort „hässlich“ war von den Haihauptriesen gefürchtet und durfte kaum ausgesprochen werden, seit ihnen von der ausgesprochenen Hässlichkeit der totenmunder Alraunenwesen berichtet worden war. Als sie hörten, dass die Gesichter der Kunos runzelig und ihre Münder breit waren und dass sie breite Schweinsnasen hätten, ging bei ihnen schon der geistige Rollladen herunter. Gerüchte über die magischen Kräfte der Kyruppen und Schlangenwesen taten das ihrige. Denn die Riesen waren in der Mehrheit abergläubisch. Der Kontinent Rüsselschwein war gefürchtet, obwohl noch nie ein Haihauptriese dort gewesen war. So endete denn auch das Propagandalied:

Drum meide Totenmund allein

und nebenbei auch Rüsselschwein!

Noch ein dritter Kontinent wurde von den Riesen – zwar nicht in der Theorie, aber in der Praxis – gemieden: Ómuo, bestehend aus dem großen Lande Sonnenostun und der Halbinsel Omonu. Die Existenz dieses Kontinentes wurde, obwohl das Wissen über seine Verhältnisse allgemein zugänglich war, penetrant verschwiegen. Weiterhin wurde verschwiegen, dass die Jagd auf die wilden Einwohner Ómuos trotz ihres zarten Fleisches wegen ihrer scharfen Zähne und der Tatsache, dass ihre Mägen hochkonzentrierte Salzsäure enthielten, verpönt war. Das allgemeine Bekanntwerden solcher Hinderungsgründe hätte in der Bevölkerung von Haihaupt Zweifel an der unumstrittenen Heldenhaftigkeit des Haihauptmenschen geweckt. Nur die Zähigkeit des Fleisches und die allgemeine Furcht vor Zauberei durften als Hinderungsgründe gelten.

Idan und Oler nützten diesen Aberglauben, um nach Rüsselschwein zu siedeln, wo sie vor Verfolgung sicher waren. Schon von Jugend an war ihnen klar, dass die Berichte über die Verhältnisse auf Rüsselschwein übertrieben und die Furcht vor seinen Bewohnern unbegründet sein musste. Und sie irrten sich nicht. In den Kunos begegneten ihnen weise und friedliebende Leute. Sie waren außerdem im Verhältnis zu den Riesen winzig klein – eine Tatsache, die die Staatspropaganda verschwiegen hatte. Die Schlangenwesen und Kyruppen waren auf ihre Gebiete beschränkt und wollten nur in Ruhe gelassen werden. Und so durchwanderten sie die weiten, menschenleeren Landschaften, bis sie zu der Ganganjer-Schlucht kamen. Dort pflanzten sie den Märchenwald. In dem Märchenwald siedelten sie Tiere an, die sie aus verschiedenen Gegenden des Kontinentes zusammentrugen. Sie lebten in Frieden in diesem Wald. Wegen der Vielfalt an Lebensformen, die in diesem Wald vereint waren, wurde er auch Komponischer Märchenwald genannt. Alle Tiere im Komponischen Märchenwald konnten sprechen, denn die Riesen hatten ihnen die Menschensprache beigebracht.

Das stärkste und zugleich gefährlichste Tier des Waldes war zweifellos Bär Porbulo, der Grizzlyhauptmann. Aufgerichtet maß er wohl drei Meter und fraß jeden Neuen auf, der in den Komponischen Märchenwald kam. Treu zur Seite standen ihm sein Bruder Zotti-Momi und Barion-Bär, sein erster General. Diese Tiere waren mächtig und grausam. Nur dem kleinen Idan und den Tieren innerhalb des Märchenwaldes taten sie nichts. Ihre Nahrung jagten sie in großen Gruppen außerhalb des Waldes unter dem Oberbefehl von Barion-Bär, und selbst Büffel und Auerochsen waren nicht sicher vor ihnen. Da war Urlu, der Löwenkönig, wieder ein anderer Typ. Er fraß nur schwächere Kälber und Hasen. Er war gutmütig, gelassen und träge. Mit seinem Löwenclan zog er jedes Jahr zum großen Löwensee im Norden des Kontinentes, wo er sich mit anderen Löwenkönigen traf. Über Urlu und Bär Porbulo wunderte sich wiederum Kiri, der Anführer der Elefanten, der größer und stärker als ein Mammut war. „Warum fressen die denn immer Fleisch?“, mochte er bei sich denken, wenn er die Löwen und Grizzlybären beobachtete. „Davon kriegt man ja nur Bauchweh! Überhaupt eine dumme Sache, das Fleischfressen! Wenn man bedenkt, dass man andere Wesen dafür töten muss, gegen die man ja nichts hat! Ich töte nur die, die mir etwas getan haben. Käme mir schlecht dabei vor, wenn es anders wäre! Seltsam: Dass einen die Natur dazu zwingen soll, ungerecht zu sein! Aber ohne mich!“

Der schlaueste und listigste von allen war Flexy, der Waschbär. Jeden Tag saß er auf einem Ast und schaute mit seinen schwarzen Knopfaugen um sich, ob er nicht irgendeinem anderen einen Streich spielen könne. Er liebte den Schabernack von Herzen. Und er konnte den ganzen Tag vor Freude vor sich hin keckern, wenn ihm ein guter Scherz, ein ausgefallener Witz, die Beschämung anderer gelungen war. Der kleine Idan fragte ihn oft um Rat, denn er wusste, dass Flexy ihn mochte, aber ihm fiel auf, dass der Waschbär trotz seiner Schlauheit immer nur dumme Sachen und schräge Einfälle im Kopf hatte. Eine ernsthafte Unterhaltung mit dem klugen Tier war ihm kaum jemals möglich.