Blank Generation

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Richard Hell

Blank Generation

Autobiographie

Aus dem Englischen von

Norbert Hofmann

FUEGO

- Über dieses Buch -

Von frühester Jugend an träumte Richard Hell davon abzuhauen, was er dann auch mit siebzehn tat. Er landete im New Yorker East Village, in den sechziger und siebziger Jahren ein Ort mit billigen Mieten und tausend Möglichkeiten. Er arbeitete als Buchhändler und wurde Dichter, der sich in der Künstlerszene herumtrieb, in der Feminismus, Androgynie und Transvestismus in der Luft lag, bevor er einer der wichtigsten Figuren in der neuen Musikszene wurde. Für Malcolm McLaren war er die Inspiration für das, was er mit den Sex Pistols dann verwirklichte. Richard Hell erinnert sich schonungslos an seine Drogenabhängigkeit und wie er sich daraus befreite, und es gelingen ihm großartige Porträts der damaligen Kunst- und Musikszene.

- Pressestimmen -

»Blank Generation rief in mir ein Gefühl hervor, das ich als Kind hatte ... Ich wuchs auf und verliebte mich in eine Welt, die nicht meine war. Es gibt wenige Bücher, die mich dazu verleiten, selbst zu schreiben; dies ist eines von ihnen.« (Kathleen Hanna, Bikini Kill/Le Tigre/Julie Ruin«)

»Richard Hell erfand fast im Alleingang Punk, wie wir ihn kennen, gründete zwei der einflussreichsten Bands in der Geschichte der modernen Musik, und definierte neu, was Rock‘n‘Roll-Texte sein können. Wenige Leute waren so bedeutend – und doch so unterschätzt – wie der Dichter, Musiker und die Mode-Ikone Richard Hell.« (Anthony Bourdain, Autor von »Geständnisse eines Küchenchefs«)

»Eine Musikerbiografie mit tollen Einblicken in die Anfänge von Punkrock/CBGB. Alles in einem sehr offenen, zynischen Tonfall, durchaus auch literarisch. Für mich eins der besten Musikbücher.« (Markus Nägele, Lektor bei Heyne Hardcore)

»Ein reuevoller, von Kämpfen gezeichneter, traurig-witziger Beobachter seines Lebens und unserer Zeit.« (New York Times)

»Richard Hell konzipierte und realisierte eine nachhaltige Vorstellung von Rockstarruhm, als hätte er den Begriff selbst erfunden. Radikal selbstkritisch, schreibt er eine Prosa, die so schneidend scharf ist wie ein vom Mondlicht geschärftes Diamantmesser.« (Luc Sante, Autor von Low Life)

Für Sheelagh und Ruby


© Richard Meyers

Kapitel Eins

Wie viele zu meiner Zeit war ich, als ich klein war, ein Cowboy. Ich hatte Chaps und einen weißen Cowboystroh­hut und band meinen Halfter aus Leder an die Oberschenkel. So trat ich hinaus auf die Veranda und alle konnten sehen, wie ein Cowboy seinen Auftritt hatte.

Dies war in Lexington (Kentucky), als jeder ein Kind war. Ich hielt Ausschau nach Höhlen und Vögeln und lief oft von zu Hause weg. Weglaufen war meine Lieblingsbeschäftigung. Die Worte – »Komm, lass uns abhauen« – haben für mich immer noch einen magischen Klang.

Meine Eltern kamen 1948 nach Lexington. Sie hatten sich zwei Jahre zuvor an der Columbia University in New York kennengelernt, wo sie Doktoranden der Psychologie waren, und ein Jahr danach geheiratet. Nachdem mein Vater Ernest Meyers, der in Pittsburgh (Pennsylvania) auf­gewachsen war, in der Columbia seinen Doktortitel gemacht hatte, bekam er eine Stelle an der University of Kentucky. Ich wurde Ende 1949 geboren. Meine Mutter verzichtete erst einmal auf eine Karriere, um sich um den Haushalt zu kümmern.

Wir waren zu viert, mit meiner Schwester Babette, die anderthalb Jahre nach mir geboren wurde. Wir fühlten uns der Mutter meines Vaters, Grandma Linda, nahe, die in New York lebte, und wir besuchten gelegentlich einen seiner Brüder, Richard, der als Chemiker für Texaco arbeitete, und seine Frau und Kinder in ihrem Haus nahe Poughkeepsie, aber darüber hinaus war der Sinn für Familie oder Familienstammbaum nicht sehr ausgeprägt. Ich verstand zum Beispiel nicht wirklich, was ein Jude ist, auch wenn ich wusste, dass die Familie meines Vaters irgendwie dieser Spezies angehörte. Ich dachte, Judaismus ist eine Religion, aber wir waren nicht religiös.

Meine Mutter, geborene Carolyn Hodgson, war ein Einzelkind. Ihre Mutter, Dolly Carroll (geborene Dolly Griffin), die wir nur Mama Doll nannten, war ein Arbeitermädchen aus Alabama und Methodistin. Sie spielte Bridge und mochte Cocktails. Sie war viermal verheiratet. Wir sahen sie alle drei oder vier Jahre für ein paar Tage. Sie und der Vater meiner Mutter, Lester Hodgson, dem eine Tankstelle in Birmingham gehörte, bis er in der Großen Depression pleite ging, hatten sich scheiden lassen, als meine Mutter noch klein war, und ich erinnere mich nur noch, dass ich zwei- oder dreimal mit ihm in demselben Zimmer war.


Ich kam von Hopalong Cassidy.

© by Richard Meyers

In den fünfziger Jahren lebten wir in den neuen Vororten Amerikas. Meine Wurzeln reichen nicht tief. Ich bin ein wenig neidisch auf Menschen mit starken ethnischen und kulturellen Wurzeln. Glücklicher Martin Scorsese oder Art Spiegelman oder Dave Chappelle. Ich kam von Hopalong Cassidy und Bugs Bunny und der Grundschule Maxwell Elementary.

1956, als ich sechs Jahre alt war und wir in der Rose Street nahe der Universität wohnten, kaufte mein Vater einen cremefarbenen, grünen Manhattan (Baujahr 1953), in dem er jeden Morgen die eine Meile auf der Straße zwischen der großen Basketballarena der University of Kentucky und ihrem Footballstadion zur Arbeit fuhr. Seine Arbeitsräume befanden sich auf dem Campus in einem von Bäumen beschatteten, alten Backsteingebäude am Abhang eines Hügels. Die Unterrichtsräume, Labore und Büros dort rochen nach Holz, Kreide, Wachs, Graphit, Staub, frischer Luft und Achselschweiß. Äste wiegten sich draußen vor den Fenstern. Mein Vater war ein Experimentalpsychologe; er behandelte keine Patienten, sondern beobachtete das Verhalten von Tieren im Labor. Auf den Tischplatten standen zwischen großen mechanischen Schreibmaschinen kleine Rattenlabyrinthe aus Hart­gummi. Da waren Glasvitrinen an den Wänden und vor den Kreidetafeln Stühle mit Schreibplatten. Diese schlichten, alten Universitätsgebäude oder auch das Haus, in dem die örtliche Blindenschule untergebracht war, wo mein Vater über die Brailleschrift forschte, haben für mich immer noch etwas Heimisches wie ein bescheidenes Paradies, so wenig ich auch je Schulunterricht ausstehen konnte.

Im Stadtzentrum stand ein Gerichtsgebäude im klassischen romanischen Stil, davor eine Reiterstatue des Konföderiertengenerals John Hunt Morgan. Einige Blocks weiter an der Main Street war die Bahnhofshaltestelle, und auf demselben Abschnitt gab es zwei gemütliche Kinos mit Plüschstühlen und pickligen Platzanweisern, das »Kentucky« und das »Strand«, die immer zwei neue Spiel- oder Zeichentrickfilme zeigten, Samstag vormittags sogar nur ein reines Zeichentrickfilmprogramm. Nahe der Bushaltestelle gab es einen Woolworth-Laden und eine Bäckerei, die glasierte Doughnuts verkaufte, warm aus dem Ofen.

Die mit Kalksteinsäulen verzierte Öffentliche Bibliothek befand sich mitten in einem dicht bewaldeten Park, einige Straßenblocks hinter dem Gerichtsgebäude, gegenüber dem Transylvania College (»das erste College westlich der Allegheny Mountains«). Im Inneren der Bibliothek war alles aus Marmor, und das Sonnenlicht von den Fenstern im zweiten Stock erhellte den zentralen Informationsschalter im Erdgeschoss; Geflüster, schlurfende Schritte und Regalreihen mit muffig riechenden, grün oder orange gebundenen Büchern zum kostenlosen Mitnehmen.

Am Stadtrand gab es Autokinos und einen Vergnügungspark. Unsere Familie nahm zu den Kinofahrten Ein­kaufstüten voll mit selbstgemachtem Popcorn mit, und auf dem Nachhauseweg lagen meine Schwester und ich, Kopf an Fuß, schlafend auf dem Rücksitz. Dann und wann besuchten wir Joyland, wo es eine Holzachterbahn, ein Karussell, eine Geisterbahn und eine Schiffsschaukel gab, außerdem Spielstände und Zuckerwatte und Hotdog-Buden zwischen riesigen Bäumen mit Picknicktischen, die von Staren belagert wurden.

In den Vororten waren die Häuser unverschlossen. Es gab kein »Airconditioning«, aber Ventilatoren. Ein großes Lagerhaus in einer heruntergekommenen Industriegegend lieferte gerade geschnittene Eisblöcke, die an einer Laderampe von riesigen Greifzangen in mit Zeitungspapier ausgeschlagene Kofferräume gehievt wurden. Damit wurden Eisfächer versorgt – obwohl die meisten Leute inzwischen einen elektrischen Kühlschrank besaßen – oder Kühlboxen für Picknicks. Man bearbeitete das gefrorene Eis mit Pickeln, bis es auseinanderbrach.

Als Teenager in Lexington hing ich einmal an einem heißen, klaren Sommertag mit einigen Freunden in einer Steinhütte auf einem offenen Feld ab. Mehr Freunde versammelten sich in der Landschaft draußen wie auf einem Gemälde von Watteau oder Fragonard – Fragonard gekreuzt mit Larry Clark –, spielten und redeten. Plötzlich erregte etwas am Himmel die Aufmerksamkeit eines Jungen. Er stand in dem hohen Gras, starrte nach oben, zeigte und rief. Wir reckten unsere Hälse. Teilchen schwebten aus dem Himmel herunter; Stühle und Couches aus Schnee landeten um uns herum. Wir lachten und schrien.

Das geschah in einem Traum, den ich einige Jahre nach meiner Ankunft im immer noch einsamen New York hatte. Ich erwachte verzückt und dankbar, mit zusammengeschnürter Kehle und überfließenden Augen.

Im Winter 1956, als ich in die erste Klasse ging, zog die Familie von dem Häuschen in der Rose Street nach Gardenside, einem neuen Vorort am Rande der Stadt.

 

Fast jedes Grundstück in der Gegend hatte die gleiche bescheidene Größe, und die Häuser unterschieden sich nur wenig, meist drei Zimmer, Küche und Bad. Jedes Haus hatte junge Bäume an der gleichen Stelle an beiden Seiten des Wegs, der zur Haustür führte, und die gleiche Art von immergrünem Gesträuch unter dem Panoramafenster des Wohnzimmers, das zur Straße lag. Unser Haus ähnelte der typischen Zeichnung eines Kindes von einem Haus, eine Ziegelsteinbox unter einem steilen Schindeldach, das an einem Ende einen Kamin hatte.

Unten an der Straße verlief ein Bach. Gras wuchs an beiden Uferseiten, und es gab hohe Bäume mit dichtem Laubwerk. Das Interessanteste daran war für mich, dass dies nicht von Menschen gemacht war. Die Vorstellung, dass man dem wilden Pfad statt den überall vorgegebenen Mustern folgen konnte, war aufregend. Ich erinnere mich, wie mir plötzlich bewusst wurde, dass der Bach irgendwo begann und weit entfernt enden mochte, dass er nicht nur durch die Gegend floss, die ich kannte. Dieser Gedanke war ein leuchtendes kleines Diorama, das in mei­nem Hirn versteckt war, etwa so wie Marcel Du­champs Gegeben sei: 1. Der Wasserfall, 2. Das Leuchtgas.

Gardenside wurde begrenzt von Landwirtschaftsflächen – Tabak, Mais und Vieh – und Wäldern. Unser Haus war eines der ersten in dem Vorort, das fertiggestellt wurde, und die Baustellen um uns herum waren unser Spielplatz.


Gardenside, an einer Ecke der Stadt.

© by Richard Meyers

Eines späten Nachmittags in jenem ersten Jahr trieben sich nur noch zwei von uns draußen herum. Wir versuchten, ein großes Eisenfass, das bis zum Rand mit Wasser gefüllt war, auf das Fundament eines neuen Hauses zu kippen. Wir kamen auf die Idee, Abfallhölzer als Hebel zu benutzen, und es gelang. Die Straße war leer. Roy Baker und ich liefen davon und setzten uns auf die Steine neben einem teilweise fertigen Haus, um unsere »Heldentat« zu besprechen. Um uns herum roch es nach frisch gesägtem Holz, feuchtem Beton, Erde und verbrannter Teerpappe.

Die Männer, die dort arbeiteten, hatten uns herumalbern sehen, bevor sie Feierabend machten. Als sie gingen, waren wir beide die einzigen Kinder in der Nähe. Am nächsten Morgen würden sie wissen, dass wir es gewesen waren, die das Fass umgeworfen hatten. Kinder in unserem Alter sind doch gar nicht so stark, um etwas so Schweres umzustoßen, erklärte ich Roy Baker, der ein paar Monate jünger war als ich. »Sie werden denken, wir haben übermenschliche Kräfte. Sie werden uns zu einem Zirkus bringen. Stell dir vor, wie das sein wird, wenn wir hinaus in die Manege müssen, die Menge wartet schon, und dann müssen wir Hanteln stemmen! Es bleibt uns nur eins. Wir müssen abhauen.«

Wir liefen und liefen, weiter weg als jemals zuvor, stahlen einige Pennys vom Armaturenbrett eines geparkten Autos und kauften davon Bonbons. Als es begann, dunkel zu werden, und wir uns verliefen und müde wurden, klopften wir an eine Haustür und die Leute brachten uns nach Hause.

Wir spielten Krieg auf den Erdhaufen der Baustellen. Das Ausspähen von Feinden hinter einem Hügel brachte mir die erste wissenschaftliche Erkenntnis, an die ich mich erinnern kann. Ich begriff, dass ich, um irgendjemand zu sehen, meinen Kopf soweit heben musste, dass auch ich gesehen werden konnte. Man muss aus seinem Versteck herauskommen, um überhaupt etwas zu sehen.

Cowboy und Indianer spielte ich am häufigsten. Ich liebte meine Spielzeugpistole und das Halfter und das Halstuch und den Cowboyhut. Die Zündplättchen gab es in mattroten Rollen mit kleinen Punkten aus Kaliumchlorat und Phosphor in der Mitte. Man fädelte die Rolle in die Metallpistole ein. Wenn man den Abzug betätigte, schob sich der Streifen nach vorn, der Hahn traf mit einem Knall das nächste Plättchen, und es qualmte ein wenig. Gerne würde ich noch einmal den Geruch eines explodierten Zündplättchens wahrnehmen.

Es gab die Fanclubs und Bruderschaften der Helden der samstäglichen TV-Shows. Flash Gordon, der in der Zukunft lebte und durch das Weltall raste. Seinem Club trat ich bei. Wie man Mitglied wurde, stand auf den Rückseiten der Cornflakesschachteln. Ich beantragte eine Mitgliedschaftskarte und einen ID-Ring. Sky King, der ein moderner Farmer war und ein kleines Privatflugzeug flog. Spin und Marty, Kids von heute in einem Feriencamp, präsentiert von The Mickey Mouse Club. Zorro und das Cisco Kid und der Lone Ranger. Oft waren es ein umherstreifender Held und sein ergebener Begleiter, der für komische Auflockerung sorgte, besonders in den Wes­tern von Howard Hawks und John Ford. (Wann immer es möglich war, nahm ich samstags den Bus in die Stadt, um eine Vorstellung mit zwei Spielfilmen zu sehen. Vor allem durch die Filme von Hawks und Ford wurde ich mit den »Codes des Westens« kontaminiert.) Es gab auch Teams, in denen die Mitglieder gleich waren und sich auf andere Art und Weise ergänzten als der Held und sein treuer Clown. Tonto war an der Seite von Lone Ranger keine Witzfigur, genauso wenig wie Dean Martin neben John Wayne in Rio Bravo. (Die komische Rolle spielte Walter Brennan.) Die drei Musketiere.

Ich wuchs mit der Vorstellung auf, dass Männer am bes­ten in umherziehenden kleinen Teams arbeiten, gewöhnlich zu zweit. Du brauchtest jemanden, mit dem du dich verschwören konntest, jemand, der half, dass du die Nerven behieltest, wenn du daran gingst, deine Ideen zu verwirklichen. Jemand, der wusste, was du dachtest (ansonsten existierten deine Gedanken nicht wirklich). Jemand, der die Qualitäten hatte, die du dir vielleicht auch wünschtest und die du bis zu einem gewissen Grad durch das Zusammensein erwerben konntest.

Pat Thompson war mein erster und mein bester Freund. Zusammen mit einem anderen Kumpel wollten wir ausreißen. Auf dem Schulhof während der Pause legte Pat seine Arme um unsere Schulter, um etwas zu beratschlagen und dann schlug er unsere Köpfe zusammen und lachte. Ich war schockiert. Als Pat im nächsten Jahr wegzog, tauschten wir Erinnerungsstücke aus. Ich nahm einen Absatz von seinem Schuh. Ich sehe ihn noch immer vor mir. Er ist trocken und konkav mit gebogenen dünnen kleinen Nägeln, die herausragten, und auf der Oberseite seine mit Filzstift geschriebene Unterschrift.

Im Frühjahr 1957 musste Gardenside für die kleinen Kinder immer noch mit einem Schulhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert auskommen. Es stand oben auf einem verwilderten Hügel und war in drei Räume unterteilt worden, je einer für die ersten drei Klassen. Unten am Hügelabhang klaffte die Öffnung einer flachen Höhle, wo wir uns um Mitternacht treffen wollten.

An jenem Tag sammelte ich heimlich im Haus Vorräte – Kekse, Erdnussbutter und Äpfel –, schmuggelte sie in das Schlafzimmer, das ich mit meiner Schwester teilte, und versteckte sie unter meinem Kopfkissen. In der Nacht wollte ich alles in ein Tuch wickeln und am Ende eines Stocks festbinden und ihn dann auf der Schulter tragen.

Als die Zeit kam, ins Bett zu gehen, und meine Schwester und ich die Zähne geputzt hatten, konnte ich meinen verdammten Schlafanzug nicht finden. Er hätte in der Kommode sein sollen. Die ganze Familie half mir bei der Suche, und gerade als mir klar wurde, was ich angerichtet hatte, rief mein Vater, er habe den Pyjama gefunden, zusammen mit einigen anderen Sachen unter meinem Kopfkissen.

Es war spät, aber alle Lichter im Haus blieben an. Meine hübsche kleine Schwester war beeindruckt, die Reaktion meines Vaters seltsam. Er sagte zu mir, er werde mich um Mitternacht zu der Höhle fahren, und sollten meine Freunde dort sein, könne ich mit ihnen gehen. Ich war erstaunt und bin es noch heute.

Kurz vor Mitternacht stiegen wir in den alten großen Manhattan und fuhren die fünf Minuten zu dem Treffpunkt. Mein Vater zeigte sich freundlich und besorgt. Mein Selbstvertrauen war durch seine behutsame Freundlichkeit ein wenig geschrumpft, aber ich stellte mir den Triumph vor, wenn ich mit meinen Freunden zurückbliebe und wir unseren nächsten Schritt planten. Sie würden denken, was für einen großartigen Vater ich hätte. Er und ich warteten im Wagen mit ausgeschaltetem Licht, und nichts geschah. Niemand kam. Wir warteten, bis ich mich nicht beschweren konnte, wir seien zu früh weggefahren, und dann kehrten wir nach Hause zurück.

Ich weiß nicht mehr, was danach passierte, und der einzige, der sich überhaupt an die Geschichte erinnert, bin ich. Weder meine Mutter noch meine Schwester haben eine Erinnerung daran. Mein Vater starb plötzlich an einem Herzinfarkt wenige Wochen nach dem Ausreißversuch. Die Tatsache, dass ich die einzige Person bin, die sich an jenen Abend erinnert, bewegt, ja verstört mich, wenn ich seine Bedeutung für mich bedenke. Meine Frau zog mich später gerne deswegen auf.

Vor einiger Zeit fand ich eine alte Schachtel mit Papieren, darunter ein Heft mit der Geschichte »Runaway Boy«, die ich in jenem Jahr für die Schule geschrieben hatte. Das Datum lautete November 1957, also wenige Monate nach dem »Fluchtversuch«. Die zwei kurzen Kapitel waren voller Schreibfehler, aber mit einem gewissen Stolz sah ich, dass ich die Namen der Beteiligten geändert und miteinander kombiniert hatte. Dies war wohl mein erster literarischer Versuch.

Kentucky ist übersät mit Höhlen, und meine Freunde und ich zogen immer wieder los, um welche zu entdecken. Wir fanden ein paar kleine Tunnel, die in dem umliegenden Farmland versteckt waren – Öffnungen, die feucht und dunkel und glitschig waren und wo Salamander lebten. Wir zwängten uns hinein, setzten uns und krochen dann weiter. Die Eingänge waren oft bei Bäumen zu finden, die in Senken wuchsen, wo nicht gepflügt werden konnte. Wir stöberten in solchen Kratern herum, und manchmal gab es zwischen dem Schutt und Gestrüpp einen Eingang. Im Innern stellte sich wieder das gute Gefühl ein – das so selten ist im Erwachsenenalter außer vielleicht bei Drogen und Sex –, zu träumen und in einem Versteck etwas auszuhecken, was als völlig inakzeptabel galt.

In Erinnerungen wie in Träumen sieht man sich selbst oft von außen, als wäre es ein Film. So erinnere ich mich an den Morgen nach dem Tod meines Vaters im Sommer 1957.

Die Betten, in denen meine Schwester Babette und ich schliefen, standen an den gegenüberliegenden Wänden unseres Zimmers, das neben dem Schlafzimmer unserer Eltern im hinteren Teil des Hauses lag. Ich sehe die Szene aus einem Blickwinkel nahe und über dem Kopf meiner Mutter hinweg, alles ist dämmrig und unscharf. Sie sitzt auf dem schmalen Bett meiner Schwester, das neben der Tür steht, und schaut auf mich herab. Die sechsjährige Babette sitzt auch am Bettrand, auf der anderen Seite, und hört zu, wie Mutter erklärt, dass unser Vater in der Nacht gestorben ist. Wir verstehen die Situation nicht besonders gut, auch wenn wir begreifen, dass Totsein bedeutet, er existiert nicht mehr, er ist für immer verschwunden.

Später schämte ich mich, dass die Kinder in der Schule wussten, dass mein Vater gestorben war. Ich musste mir eingestehen, dass ich darüber aufgebrachter war als über seinen tatsächlichen Tod, der nur eine Abwesenheit war (es gab nicht einmal eine Beerdigung).

Als ich acht oder neun war, war eine Zeitlang mein bester Freund ein Junge namens Rusty Roe, der wenige Häuser von uns entfernt wohnte. Er war etwa ein Jahr jünger als ich. Ich fühlte mich immer noch unsicher nach dem Tod meines Vaters. Chet, Rustys netter Vater, der Ende zwanzig gewesen sein muss, war ein Naturbursche, ein Jäger und Angler, der Waffen- und Anglermagazine abonnierte und als Hobby Tiere ausstopfte. Manchmal nahm er Rusty und mich in einem Ruderboot auf einem See mit, um Barsche zu fischen.

Ein paar Jahre lang begeisterte ich mich für Vögel. (Meiner Mutter zufolge war »bird« das erste Wort überhaupt, das ich sagte.) Ich liebte es, durch die Landschaft zu laufen und nach Vögeln Ausschau zu halten, und ich konnte sie nach ihrem Gesang und Flugmustern als auch nach ihren Nestern und Umrissen identifizieren. Rusty kam meistens mit. Auch er wusste eine Menge über Vögel. Wir hatten Petersons Bestimmungsbücher dabei. Ich sammelte verlassene Nester. Aus Balsaholz schnitzte ich Vögel und bemalte sie oder kaufte mir Bastelsätze für Vogelmodelle, um sie zusammenzukleben und anzumalen.

Eines späten Nachmittags spielten Rusty und ich in seinem Garten, als es Zeit für mich wurde, nach Hause zu gehen. Er aber meinte, ich ginge weg, weil ich ihn nicht mehr mochte. Er flehte mich an zu bleiben, begann zu weinen, sich zu entschuldigen und zu betteln, und ich merkte, einem Teil von mir gefiel es. Etwas in mir empfand Freude darüber, meinen Freund zum Weinen zu bringen. Ich hatte ihn nicht verletzen wollen, aber seine Tränen zeigten, wie sehr er mich schätzte und dass nicht ich der Verwundbare war. Es gab mir auch eine gewisse Befriedigung, auf seine Unterwürfigkeit immer unnachgiebiger zu reagieren. Durch die plötzliche Kluft zwischen uns spürte ich den Wunsch, allein zu sein. Es war schon dunkel, als ich meinen Freund verließ. Verloren stand er auf dem hochumzäunten Rasen mit dem kleinen Goldfischteich, den sein Vater ausgehoben hatte.

 

Vielleicht sehne ich mich ein wenig nach der Unschuld, bevor mein Verhalten berechnend wurde, doch mein Leben damals war voller Schmerz und Angst, und es war nicht einmal wirklich unschuldig. Meine nette Lehrerin in der dritten Klasse, Mrs. Monk, korrigierte mich einmal, weil ich ihrer Ansicht nach eine falsche Bescheidenheit zeigte. Sie riet mir, »nicht nach Komplimenten zu fischen«. Zuerst verstand ich nicht, was sie meinte, aber dann begriff ich mit Erstaunen, dass es möglich war, mein Verhalten misszuverstehen, zu glauben, ich tue etwas aus genau dem entgegengesetzten Grund, aus dem ich es tatsächlich tat.

Fotos von mir als Zehn- oder Elfjährigem: ein flaches, ausdrucksloses, verschmiertes Gesicht. Es gibt ein Panorama oder eine Montage von Aussichten auf die Umgebung, die leeren Hügel der Vorstadt, alles still und weich und kalt, mit grober Körnigkeit. Ich fahre auf meinem Rad durch die neu gebauten Straßen, allein, niemand sonst in Sicht. Oder ich sitze im Garten hinterm Haus, werde plötzlich meiner selbst bewusst oder gewahr, dass dieser Augenblick sich irgendwann wiederholen und meinen Zustand und die Umgebung abbilden wird.

Es war vermutlich in der sechsten Klasse, als ich zur Hochform auflief. Ich war ein Goldjunge ohne Arroganz. Meine Lehrerin in jenem Jahr, Mrs. Vicars, traf eine Vereinbarung mit mir, die es mir erlaubte, anstatt der üblichen Hausaufgaben Geschichten zu schreiben.

In der siebten Klasse jedoch stürzte ich ab, und es dauerte Jahre, bis ich es wieder nach oben schaffte. Die Babyboomer der Nachkriegszeit hatten das Schulsystem von Lexington eingeholt. Die Schulen waren so überfüllt, dass eine alte große Bruchbude im Stadtzentrum für die Nutzung von Hunderten und Aberhunderten Siebtklässlern aus der ganzen Stadt in Beschlag genommen wurde. In dieser großen Schule mit unbekannten Kindern meines Alters verlor ich jede Vorgeschichte und jedes Ansehen, das ich vorher hatte. Ich war ein Nobody, und bei meinem mangelnden Selbstbewusstsein war es unmöglich, aufzuholen. Alles, woran ich mich aus jenem Schuljahr erinnere, ist Angst und Traurigkeit, verbunden mit qualvollem Neid auf die erfolgreichen Rednecks: der dominierende, reife Gary Leach mit den bis zum Bizeps aufgerollten Ärmeln, eng anliegenden Jeans, kurzem, in präzisen Strähnen gelegtem Haar, der im Schulbus hinter mir der lieblich schluchzenden Susan Atkinson zuflüsterte: »Bei mir kannst du dich ausweinen«; der toughe, schneidige Jimmy Gill, der mit seinen abgebrochen Vorderzähnen Jerry Lee Lewis ähnelte; oder der muskulöse, selbstsichere Farmersohn Hargus Montgomery.

Es gab im letzten Moment eine aussöhnende Erfahrung. Da ich traumatisiert war und mich nichts dazu bringen konnte, irgendwelche Hausaufgaben zu machen, waren meine Noten, die ich mühelos mit Auszeichnung erworben hatte, auf befriedigend, ausreichend und schließlich ungenügend abgerutscht. Noten maß ich keine große Bedeutung bei, aber auf einmal empfand ich es als kränkend, so zu versagen. Doch als uns Ende des Jahres standardisierte »Leistungstests« gegeben wurden, erzielte ich die höchste Punktezahl in der ganzen Schule. Man hätte mir das normalerweise nicht mitgeteilt, aber die Leitung glaubte, mit mir darüber reden zu müssen. Danach bemerkte ich, dass sich die Lehrer mir gegenüber anders verhielten. Ich bekam so etwas wie Glamour. Sie blieben stehen und schauten mich an, wenn ich vorbeiging.

Die Jahre auf der Junior High School – von der siebten bis zur neunten Klasse – waren furchtbar. Wegen der Überbelegung besuchte ich jedes Jahr eine andere Schule mit immer wechselnden, unbekannten Klassenkameraden. Ich hasste Hausaufgaben. Ich litt auch unter Schlaflosigkeit, weil ich immer daran denken musste, nicht vorbereitet und ein Versager zu sein. Alles in der Schule missfiel mir. Selbst wichtige Schularbeiten schob ich bis zum Vorabend der Abgabe hinaus, und dann saß ich schwitzend in meinem Zimmer unterm Dach vor irgendwelchen Texten, die ich paraphrasierte, um einen Aufsatz zusammenzuschustern und aufzupeppen. Ich litt an Schlaflosigkeit, als wäre ich in eine Falle geraten, gelähmt vom Scheinwerferlicht. Ich wusste, es war meine Angst vor dem schlechten Abschneiden und dem Ansehensverlust, die mich wachhielt. Und doch konnte ich mich nicht dazu zwingen, die blöden Hausaufgaben zu machen, und ich fand auch nicht wirklich heraus, was eigentlich los war. Und all das verstärkte sich gegenseitig in meinem Kopf. Es war wie ein ständiges Kribbeln auf der Haut. Als gäbe es eine Droge, die ich dringend brauchte, aber nicht hatte.

Sobald ich meiner selbst bewusst wurde, begann ich die rohe Unterdrückung zu hassen, der man als Kind ausgesetzt war. Ich mag normalerweise keine »Alpha«-Leute, und in den willkürlichen geschlossenen Gemeinschaften von Schulen hat man es ständig mit ihnen zu tun. Ich konnte es einfach nicht ausstehen, mit Fremden zusammengepfercht zu sein. Basta. Auch missfiel mir, gesagt zu bekommen, was ich tun sollte, und natürlich geht es in der Schule und in der Kindheit um die Autorität der Erwachsenen. Ich wusste so gut wie jeder von ihnen, was lohnenswert war, aber weil ich ein Kind war und sie größer waren und mehr Macht hatten als ich, wurde ich betrogen.

Ich erinnere mich, dass ich noch als Kind meinem erwachsenen Selbst ein Versprechen abverlangte. Ich gelobte, nicht zu vergessen, wie willkürlich und unfair die Regeln der Erwachsenen sind. Ich gelobte, den Prinzipien treu zu bleiben, die, wie ich bald begriff, die Erwachsenen manchmal vorgaben zu kennen, aber an die sie sich kaum hielten.

Ich wollte ein Leben voller Abenteuer haben. Ich wollte nicht, dass mir irgendjemand sagte, was ich zu tun hatte. Ich wusste, dass dies das Wichtigste war und dass alles verloren wäre, wenn ich mich verlogen verhielte, so wie es die Erwachsenen taten.

Die monströsen, kastenförmigen, breitschnäuzigen, eigelbfarbenen Schulbusse mit ihrer schwarzen Beschriftung waren für mich Symbole der Einsamkeit und Demütigung. Sie rollten durch graues und regnerisches Wetter, und ich starrte aus dem Fenster in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden außer von einem ganz besonderen Mädchen.