Buch lesen: «China – ein Lehrstück», Seite 8

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Die imperialistischen Mächte, die China als Geschäftssphäre benutzen wollen, sehen sich insofern nicht nur mit Unwilligkeit, sondern auch mit zunehmender Unfähigkeit konfrontiert. Weil staatliche Funktionen wie das Eintreiben der Steuern und Zölle nicht mehr zentral funktionieren, kann China seine Schulden nicht mehr bedienen; der chinesische Kredit leidet – und damit die Möglichkeit des Auslands, in China Geld zu verdienen. Das darf nicht sein; auf Schulden und Zinsen wollen die Gläubigerstaaten auch nicht ohne Weiteres verzichten. Also greifen sie im Interesse an der Fortführung ihres Geschäfts mehr und mehr direkt in Staatsfunktionen ein: Im Seezolldienst, Postwesen und anderen Behörden fungieren ausländische Beamte als von der chinesischen Regierung bezahlte Verwalter, die einkassierte Gelder statt in den chinesischen Staatshaushalt direkt an eine internationale Bankenkommission in Shanghai weiterleiten.

»Die Kommunalpolitik unterstand dem Stadtrat von Schanghai, der 1910 noch von englischen Kaufleuten beherrscht wurde. Der Stadtrat erweiterte seinen Bereich durch den Bau äußerer Straßen. Er beschäftigte chinesisches Personal, die Polizei bestand aus indischen Sikhs. Das Seezollamt unterstand einem englischen Generalinspektor. Alles drehte sich hier um den Handel. Es gab noch Pferderennen; heute ist der Rennplatz ein Park. Die YMCA (Christlicher Verein junger Männer) wirkte zivilisierend, ebenso wie die protestantischen und katholischen Schulen. Die Masse der chinesischen Arbeiter, die aus den unerschöpflichen Menschenreserven des flachen Landes hereinkam, war nicht gewerkschaftlich organisiert. Gewerbeschutzgesetze entwickelten sich nur langsam. Die chinesische Bevölkerung wuchs und wuchs, weil hier ein Zentrum des Handels und der Industrie war und sich eine Zuflucht vor den Plünderungen der Generale bot.

In dieser halbkolonialen Situation hatte die chinesische Regierung wenig zu sagen. Das internationale Viertel und die angrenzende französische Konzession unterstanden nicht der chinesischen Gerichtsbarkeit. Nur am Rand der Stadt war etwas von der chinesischen Regierung zu bemerken. Ein chinesischer Richter war der Konsularverwaltung bei der Behandlung von Fällen behilflich, die Chinesen betrafen. Bis 1925 gab es ein gemischtes Gericht, ungefähr die einzige Vertretung chinesischer Staatsgewalt.

Die chinesische Bevölkerung lebte rechtlich in einem Vakuum. Es wurde von einer Unterwelt ausgefüllt, die von der »Grünen Bande« beherrscht war. Diese Bande hielt ihre Mitglieder mit Geld und Gewalt zusammen. Sie betrieb alle Laster einer modernen Großstadt: Prostitution, Erpressung und Rauschgifthandel. Mit der ausländischen Polizei, besonders der französischen, gab es eine stille Zusammenarbeit. Opium aus dem Gebiet oberhalb der Stadt fand zunehmend den Weg nach Schanghai. Der Stadtrat war gegenüber dieser Tätigkeit machtlos, es kam zu einer Art Vernunftehe zwischen den Ausländern und der chinesischen Unterwelt. Die hier wohnhaften Ausländer, nur wenige Tausend an der Zahl, fühlten sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass die Chinesen von Natur aus lasterhaft, Betrüger und Erpresser waren.«

Fairbank 1989: 184f.

Im Ersten Weltkrieg erklärt China Deutschland und Österreich-Ungarn den Krieg – auf Anraten Englands und der USA, gegen die Interessen Japans, das China international klein halten will. Militärisch besteht der Beitrag des Landes, seinen Möglichkeiten entsprechend, darin, etwa 140.000 chinesische Arbeiter zum Ausheben von Schützengräben nach Frankreich abzuordnen. Chinas Hoffnung, als Mit-Kriegsgewinner eine Revision der »ungleichen Verträge« zu ernten, wird in Versailles enttäuscht; stattdessen wird Japan in die deutschen Besitzungen (Shandong) eingesetzt. Dagegen erhebt sich unter Führung von Studenten aus Beijing Protest (»Bewegung vom 4. Mai 1919«), der sich auf andere Universitäten ausbreitet; Teile der städtischen Bevölkerung schließen sich an (Professoren & Lehrer, Kaufleute) mit einem Boykott japanischer Waren, Unternehmer & Arbeiter in Shanghai mit einwöchigem Streik). Die Bedeutung dieser Bewegung liegt weniger in ihren praktischen Erfolgen – die chinesische Regierung verweigert letzten Endes ihre Unterschrift unter den Versailler Vertrag – als vielmehr darin, dass sich in ihr die entscheidenden Akteure der Folgezeit herauskristallisieren:

 Die 1912 gegründete Guomindang (Nationale Volkspartei, GMD), die nach dem Putsch von 1911 die ersten Wahlen gewonnen, zugunsten einer starken Zentralgewalt aber sehr staatskonstruktiv auf einen Eintritt in die Regierung verzichtet hatte und 1913 verboten wurde, organisiert sich unter Sun Yatsen neu. Ihr Programm ist jetzt antiimperialistisch und enthält auch sozialpolitische Forderungen. Nach dem Erfolg der kommunistischen Revolution in Russland organisiert sie sich als Kaderpartei nach leninistischem Vorbild und knüpft – nachdem sich Sun lange Zeit erfolglos um westliche Unterstützung für sein Programm bemüht hat – ab 1923 Verbindungen zur Sowjetregierung (Ausbildung in Moskau, Hilfe beim Aufbau einer Armee).

 1921 gründet sich die KP Chinas, motiviert durch den Erfolg der kommunistischen Revolution im ebenfalls unterentwickelten Russland. Die sowjetische Führung hält China nicht geeignet für die Durchführung einer sozialistischen Revolution. Sie setzt auf eine »nationale Revolution« und propagiert eine Einheitsfront beider Parteien, die diese auch eingehen.12 1927 erklärt Ciang Caishek, der nach Sun Yatsens Tod (1925) die Parteiführung der Guomindang erobert, die Kommunisten zur unerwünschten Konkurrenz und lässt sie massenhaft umbringen (etwa 40.000). Der Rest der KP geht in den Untergrund.

Von 1928 bis 1949 regiert die Guomindang in China. »Ziel war es, die Bevölkerung an die Demokratie heranzuführen, einen modernen Nationalstaat aufzubauen, die Industrialisierung voranzutreiben, das Problem der ungleichen Landverteilung zu lösen, die Zoll- und Rechtshoheit wiederherzustellen und China zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft zu entwickeln.« (Stichwort Guomindang, CL: 284)

Diese Ziele zeugen vor allem davon, was es in China nicht gibt: ein durchgesetztes Gewaltmonopol, eine industrielle Basis, verlässliche Staatseinnahmen. Deren Vorhandensein wäre allerdings die entscheidende Voraussetzung dafür, die Mittel zu liefern, mit denen das Land den imperialistischen Mächten, die es nach wie vor zu ihrem Nutzen und seinem Schaden ausplündern, Paroli bieten und sich »zu einem gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft« entwickeln bzw. »einen modernen Nationalstaat« aufbauen könnte. Insofern fordert das Programm die Quadratur des Kreises. Anders gesagt: Die Zerstörung der alten Gesellschaft durch die imperialistischen Mächte erzeugt in China das Bedürfnis nach einer »bürgerlichen Revolution«, einem »modernen Nationalstaat«. Gleichzeitig ist die fortwährende ökonomische Ausbeutung Chinas wie die damit einhergehende Zerstörung der chinesischen Staatsgewalt durch die Imperialisten aber auch der Grund, warum ein solches Programm notwendigerweise scheitert.

Ciang Caishek hat das im Lauf der 1930er Jahre als mangelnden Erfolg seines »nationalen Aufbruchsprogramms« registriert, erst als zunehmende Schwäche der Zentralregierung, dann angesichts der Besetzung der Mandschurei durch Japan. Dagegen hat er konsequent auf militärische Durchsetzung gesetzt, in erster Linie gegen den inneren Feind, die Kommunisten: Er führt mehrere Kriegszüge gegen die KP, die 1934 fast ausgerottet ist (Beginn des »Langen Marsches«). Politisch hat er mehr und mehr Anleihen bei den europäischen Faschisten gemacht (Bewegung »Neues Leben« ab 1934, zunehmende Unterdrückung der Intellektuellen und des linken Parteiflügels).

Von 1937 bis 1945 führt China einen Verteidigungskrieg gegen Japan. Japan will endlich »eine grundlegende Lösung« herbeiführen, d.h. China erobern und kolonisieren, und rechnet damit, dass die anderen Mächte (England, USA, Sowjetunion) sich heraushalten. Die SU erklärt sich allerdings bereit, die chinesische Armee mit Flugzeugen und Panzern auszurüsten. Die Komintern hat 1936 zur Bildung einer Einheitsfront gegen die japanische Aggression aufgerufen, die KP der Guomindang noch während des »Langen Marsches« ein entsprechendes Angebot unterbreitet. Zu dessen Annahme kann sie Ciang Caishek erst bringen, als patriotische Generäle gegen den »Generalissimus« rebellieren, weil er den Kampf um die Befreiung Chinas von den Japanern vernachlässigt und stattdessen seine Mittel für den Bürgerkrieg gegen »die Roten« einsetzt.

Im Kriegsverlauf setzt die Guomindang den Japanern im Süden wenig entgegen; 1941 wendet sie sich erneut gegen die Kommunisten und vernichtet eine ganze Armee der KP. Diese behauptet sich mittels Guerillakrieg im Norden besser. Die Japaner verlieren in China keine offene Schlacht, der militärische Beitrag Chinas zur Niederringung Japans besteht (nach Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA) vor allem darin, dass japanische Kräfte gebunden werden; die Zahl der chinesischen Opfer dafür liegt zwischen 15 und 20 Millionen Toten (!). Die Kriegsleistung Chinas bringt Ciang Caishek die Anerkennung der alliierten Kriegsmächte ein (Teilnahme an der Konferenz von Kairo 1943, neben Roosevelt und Churchill). 1943 verzichten England und USA auf ihre »exterritorialen Rechte«, 1945 gehört China offiziell zu den Kriegsgewinnerstaaten, gilt als »souverän« und soll in Roosevelts Vision der neuen internationalen Ordnung die vierte Macht neben USA, UdSSR und Großbritannien sein. Das begründet auch Chinas Sitz im Sicherheitsrat der neu gegründeten Vereinten Nationen.

Nach der japanischen Kapitulation im August 1945 beginnt der offene Bürgerkrieg zwischen Guomindang und KP. Obwohl die GMD die erheblich bessere Ausgangsposition hat (3 Millionen Soldaten, alle großen Städte, massive Unterstützung durch die USA) setzen sich die Kommunisten (1 Million Soldaten, Unterstützung durch die SU, die ihnen erbeutete japanische Waffen zuspielt) durch. Kriegsentscheidend ist, dass Mao Zedong die Bauern für sich gewinnt. Die KP verspricht den Bauern eine Bodenreform und setzt dieses Versprechen in »ihren« Gebieten auch prompt in die Tat um. Am Ende zieht sich die Guomindang nach Taiwan zurück, um von dort aus ihren Kampf um China fortzusetzen.

Kapitel 2
Die Kommunistische Partei – Programm und Durchsetzung

Am 1. Oktober 1949 wird in Beijing die Gründung der Volksrepublik China ausgerufen. Im Unterschied zum Überraschungscoup der Bolschewiki 1917 in Russland ist dies das Resultat eines gewonnenen Bürgerkriegs und einer Behauptung gegen auswärtige Mächte. Was die russischen Revolutionäre nach der Oktoberrevolution noch zu bestehen hatten – Krieg gegen Konterrevolution und imperialistische Invasion –, hat die Armee der »Roten« in China bereits erfolgreich hinter sich gebracht.

Die Kommunistische Partei Chinas wird 1921 von einer Handvoll Intellektueller gegründet. Zu ihrem ersten Kongress im Juli 1921 kommen 13 Abgeordnete, die insgesamt 57 Mitglieder (!) vertreten. Mit Blick auf die eigene schwache Ausgangssituation sucht die KP von Beginn an ein Bündnis mit der Guomindang Sun Yatsens. Die KP sieht sich selbst als »Avantgarde des Proletariats«, die für »die Befreiung der Arbeiterklasse und für die proletarische Revolution«13 kämpft. Der Guomindang erkennt sie die Rolle einer zwar bürgerlichen, aber doch auch »revolutionären Partei« beim Aufbau eines unabhängigen und entwickelten China und damit die Erledigung einer »historischen Mission« zu. Die Kommunisten kritisieren allerdings an der GMD, dass sie der Aufgabe, die sie ihr zugedacht haben, nicht wirklich gerecht wird: Sie bekämpfe den imperialistischen Einfluss in China nur halbherzig und wolle sich im Innern lediglich militärisch durchsetzen, »statt« die soziale Frage anzugehen. Deshalb wollen die Kommunisten den Kampf der Guomindang einerseits unterstützen und gleichzeitig durch ihre Einflussnahme soweit wie möglich in ihrem Sinn radikalisieren. Das Bündnis soll vor allem sie selbst stark genug machen, damit sie die Auseinandersetzung um die letztendliche Ausgestaltung eines befreiten China gewinnen können. Dem Vorschlag der Komintern (3. Kommunistische Internationale) folgend tritt die KP deshalb 1923 in ein Volksfront-Bündnis mit der GMD ein. Schwartz/Fairbank 1955: 49f.

»Aus dieser Lage kann es keine Rettung geben, wenn China sich nicht selbst aufrafft zu einer das ganze Land umfassenden Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes. (...) Wir hoffen immer noch, dass alle revolutionären Elemente unserer Gesellschaft zur GMD stoßen werden, um den Sieg der nationalen Revolutionsbewegung zu beschleunigen. Gleichzeitig hoffen wir, dass die GMD entschlossen ihre beiden bisherigen Leitgedanken, das Vertrauen zum Ausland und die Konzentration auf die militärische Gewalt, fallen lässt. (...) Unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse des In- und Auslandes sowie der Leiden und Nöte derjenigen Klassen der chinesischen Gesellschaft (Arbeiter, Bauern, Industrielle und Kaufleute), die dringend die nationale Revolution brauchen, vergisst die KPCh keinen Augenblick, dass sie die Interessen der Arbeiter und Bauern vertritt. (...) Es ist unsere Sendung, die unterdrückte chinesische Nation durch eine nationale Revolution zu befreien und zur Weltrevolution fortzuschreiten, welche die unterdrückten Völker und die unterdrückten Klassen der ganzen Welt befreien wird.

Es lebe die nationale Revolution Chinas!

Es lebe die Befreiung der unterdrückten Völker der Welt!

Es lebe die Befreiung der unterdrückten Klassen der Welt!«

Manifest des Dritten Nationalkongresses der KPCh, Juni 1923, zit. nach Brandt/Schwartz/Fairbank 1955: 49f.

Befreiung der Nation und Befreiung der unterdrückten Klassen gehören für die chinesischen Kommunisten also zusammen. Und sie kennen eine klare Reihenfolge in der Erreichung dieser Ziele: Die nationale Revolution gilt ihnen als entscheidende Voraussetzung, um das Elend der unterdrückten Klassen beenden zu können.

Damit verknüpfen die chinesischen Revolutionäre programmatisch zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, ja sogar einen regelrechten Widerspruch beinhalten: Kommunismus und Nationalismus. Die Befreiung Chinas von den ausländischen Mächten ist ein Kampf um die Souveränität einer Nation. In ihm treten die Kommunisten als chinesische Patrioten an, die sich als solche mit den bürgerlichen Kräften und der nationalen Bourgeoisie zusammenschließen. Das Resultat dieses Kampfs – ein freies und geeintes China – soll der erste und entscheidende Schritt zur Lösung aller weiteren Fragen sein, die sie als Kommunisten aufwerfen und lösen wollen. Der Grund für die elenden Zustände der chinesischen Massen, die sie als kommunistische Opposition kritisieren und praktisch überwinden wollen, liegt allerdings nicht in einer Fremdherrschaft auswärtiger Mächte, sondern in den herrschaftlich festgeklopften Produktionsverhältnissen, denen Bauern und Arbeiter unterworfen sind und in denen sie ausgebeutet werden: Grundeigentum auf dem Land, kapitalistische Produktion in den Städten. Vom Standpunkt einer kommunistischen Bewegung muss also diese Eigentumsordnung beseitigt werden, um eine geplante Produktion zum Nutzen aller Produzenten einzurichten. Die Nationalität der Grundbesitzer bzw. Eigentümer – ob Japaner, Deutsche oder Chinesen – ist für diesen Kampf ganz und gar gleichgültig; sie wird allenfalls dann interessant, wenn imperialistische Staaten die Beschneidung der Eigentümerinteressen ihrer Bürger nicht hinnehmen und gewaltsam intervenieren. Aber auch in dem Fall wäre nicht eine Nation zu verteidigen, sondern das, was sich die Revolutionäre erkämpft haben: Die Freiheit, sich ein Leben zu ihrem Nutzen einzurichten.

In ihrem »Manifest« gestehen die chinesischen Kommunisten selbst unfreiwillig ein, dass in ihrem Entschluss zur »nationalen Einheitsfront« ein Widerspruch steckt. Sie beteuern ausdrücklich, die Interessen der Arbeiter und Bauern nicht darüber vergessen zu wollen, dass sie sich zunächst einmal für die nationale Revolution stark machen. Warum ist diese Versicherung nötig? Offensichtlich deshalb, weil die nationale Befreiung, die angeblich alle Klassen der chinesischen Gesellschaft »brauchen«, gar nicht ohne Weiteres zusammenfällt mit den Interessen der Arbeiter und Bauern bzw. der kommunistischen Kritik an ihrer bisherigen ökonomischen Ausbeutung und ihrer Unterdrückung durch den Staatsapparat. Der Parole zur weltrevolutionären Befreiung »aller unterdrückten Völker« wird deshalb auch noch die von der Befreiung »aller unterdrückten Klassen« hinterher geschickt – auch das ein deutlicher Hinweis, dass es sich dabei um zwei verschiedene Paar Stiefel handelt und die Befreiung der unterdrückten Klassen noch in gar keiner Weise eingeleitet ist, wenn ein Volk »sich selbst bestimmt«. Die chinesischen Kommunisten peilen mit ihren Beteuerungen und Windungen allerdings genau die umgekehrte Aussage an. Sie behaupten, dass es keinen gravierenden Gegensatz gibt zwischen der Sache der Nation und ihrem kommunistischen Programm, sondern dass im Gegenteil beides zusammenpasst und unverbrüchlich zusammengehört.

Sehr unbefangen schreibt sich die chinesische KP also beides zugleich auf die Fahnen: Kommunismus und Nationalismus, Befreiung der Massen von Ausbeutung und Befreiung der Nation von äußeren und inneren Fesseln. So wenig sie theoretisch etwas von der Unverträglichkeit beider Ziele wissen bzw. gelten lassen will, so sehr macht sich diese in ihrer praktischen Verfolgung derselben immer wieder geltend. Um den Nachvollzug der Darstellung dieser widersprüchlichen Politik und ihrer Verlaufsformen in den Jahrzehnten des sozialistischen Aufbaus zu erleichtern, seien einige grundsätzliche Überlegungen zur notwendigen Unverträglichkeit von Kommunismus und Nationalismus vorangestellt (die auch zur Kritik anderer sozialistischer Staatsprojekte der bisherigen Geschichte ermuntern wollen).

Kommunismus und Nation

1. Im »Kommunistischen Manifest« heißt es kurz und bündig: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muss natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.« (Marx/Engels 1848: 473) Marx und Engels denken dabei daran, dass das Anliegen der sozialistischen oder kommunistischen Revolution – die Herrschaft der kapitalistischen Ausbeutung abzuschaffen – nicht an irgendwelchen Landesgrenzen endet. Deshalb ist der revolutionäre Klassenkampf, zu dem sie aufrufen, seinem Inhalt nach international, auch wenn die Revolutionäre sich zunächst einmal mit ihrem jeweiligen nationalen Staat auseinanderzusetzen haben, der mit seiner Gewalt das Eigentum schützt. Dieser Gedanke war den beiden ganz selbstverständlich – vor allem angesichts dessen, was sie im »Manifest« auf den Seiten davor betrachten: Wie sich die aufstrebende westeuropäische Bourgeoisie gerade anschickt, die Welt zu erobern und mit ihren Gewinnrechnungen vor nichts und niemand Halt macht – schon gar nicht vor irgendwelchen überkommenen nationalen Gewohnheiten bzw. Sitten und Bräuchen.14

Ähnlich selbstverständlich war für sie der Gedanke, dass es sich bei dem politischen Kampf, den eine revolutionär gestimmte Arbeiterbewegung insofern zu führen hat, um einen Kampf handeln müsste, der zumindest letztlich – nach einer Zwischenetappe, die sie ohne jeden Hang zur Beschönigung die »Diktatur des Proletariats« nannten – die Staatsgewalt überhaupt beseitigt. In der neuen sozialistischen Gesellschaft wird mit der Klasse der die Arbeiter ausbeutenden kapitalistischen Eigentümer der Klassengegensatz überhaupt abgeschafft; bei der neuen, gemeinschaftlich geplanten Produktion handelt es sich erstmals um die Ökonomie einer Gesellschaft, deren Ziel darin besteht, ihre Mitglieder zu versorgen und die das – auf Basis des erreichten Fortschritts der Produktivkräfte – auch leisten kann; in dieser Gesellschaft werden die antagonistischen Gegensätze zwischen den Klassen, die in den bisherigen Etappen der Menschheitsgeschichte in welcher Form auch immer präsent waren, endlich überwunden – damit entfallen dann auch die Gründe für die (Fort-)Existenz von herrschaftlichem Zwang. Ausschluss vom Reichtum und Ausbeutung einer Klasse durch eine andere sind bisher einhergegangen mit ihrer Sicherung durch staatliche Gewalt; gibt es sie nicht mehr, »stirbt der Staat« allmählich ab; übrig bleiben die funktionellen Leistungen einer Verwaltung für das, was die Mitglieder der Gesellschaft sich an Produktion und Versorgung leisten wollen: »An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen«. (Engels 1882: 224)

Es entfallen aber nicht nur die Gründe, Gewalt im Innern der Gesellschaft auszuüben. Das neue kommunistische Gemeinwesen kennt keine ökonomischen Interessen oder politischen Zwecke, für die es Sinn macht, Gewalt nach außen zu entfalten: Es konkurriert nicht um Reichtumsquellen oder Absatzmärkte; der revolutionäre Wille, die kapitalistische Ökonomie auch andernorts zu beseitigen, ist darauf angewiesen, dass sich die jeweils Geschädigten vor Ort gegen Ausbeutung und staatliche Gewalt erheben. Unterstützung revolutionärer Bewegungen anderswo ist also etwas anderes als Eroberung fremder Staaten. Was bleibt an notwendiger Gewalt, dient dazu, die Freiheit, sich eine Gesellschaft zum Nutzen der Produzenten einzurichten, gegen ökonomische und staatliche Interessen zu verteidigen, die das nicht hinnehmen wollen.

Diese Gesellschaftskritik, die Partei, die sie durchsetzen will und die von ihr angestrebte Gesellschaft heißt »kommunistisch«, weil ihr Hauptkennzeichen darin besteht, dass sie ein Zusammenschluss zur gemeinschaftlichen Organisation der Wirtschaft ist, zum größtmöglichen Nutzen für alle an ihr Beteiligten. Die kommunistische Gemeinschaft zeichnet sich dadurch aus,

 dass ihre Mitglieder ihr – zumindest nach einer Übergangsphase – aus freiem Entschluss angehören und sich an ihr beteiligen,

 dass ihr Zweck in der möglichst rationalen Organisation einer geplanten Wirtschaft besteht,

 dass ihre Mitglieder diesen Zweck in einer sachlichen Auseinandersetzung bestimmen und nachprüfen, inwiefern seine Umsetzung mit ihren Interessen konform geht,

 dass sie über das Wohlergehen ihrer Mitglieder hinaus keinen »höheren« Wert kennt.

2. Auch in »Nation« geht es um Gemeinschaft. Es gibt vielfältige (und durchaus widersprüchliche) Versuche, sie über Sprache, Geschichte oder Kultur zu begründen. In ihnen wird eine logische Gemeinsamkeit deutlich. Das Nation konstituierende Moment wird vor allem dort gesucht, wo es Willen und Berechnung der zur Nation gehörenden Individuen entzogen ist: Nation ist nicht freier Wille und rationale Entscheidung, sondern – auf die eine oder andere Weise – »Gewordenes«, Tradition, Schicksal. Dass es dunstig und phrasenhaft klingt, wenn von Nation die Rede ist, ist dabei kein Zufall, sondern notwendig. Wenn von Nation gesprochen wird, geht es nicht um die Niederungen des politischen Alltags, sondern um Höheres. Hier wird ein vorpolitischer Zusammenhang postuliert, der den Staat und die jeweilige Regierung als Ausdruck von und Diener an einem unabhängig von ihm bereits existierenden nationalen Kollektiv erscheinen lässt – was die Wahrheit auf den Kopf stellt.

Die staatliche Zwangsvergesellschaftung, die ein Territorium nach außen abgrenzt und sich im Innern ihr Volk schafft, wird in diesem Konstrukt legitimiert und überhöht zur Idee eines großen Ganzen, an dem oben und unten, Herrscher und Beherrschte gleichermaßen beteiligt sind. Sämtliche Unterschiede und Gegensätze innerhalb einer Gesellschaft – bis hin zum Klassengegensatz – werden damit für unerheblich erklärt gegenüber dem, was alle Stände, Schichten und Klassen »wirklich« eint: die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv und die quasi natürliche Verpflichtung, seinen Erfolg zu wollen. Nation ist also die Art von Gemeinschaftlichkeit, zu der eine bürgerliche Gesellschaft mit ihren antagonistischen Gegensätzen, die die politische Herrschaft etabliert und die sie benutzt, es bringt.

Sie hat ihre Wahrheit in nichts anderem als in der staatlichen Aufsicht und Benutzung der kapitalistischen Klassengesellschaft. Deren ökonomisches Alltagsleben ist durch allseitige Konkurrenz gekennzeichnet, in der Bereicherung auf Kosten und durch Benutzung der anderen »Marktteilnehmer« der erklärte Zweck und ein entsprechend negativer Bezug der Konkurrenten aufeinander die Regel ist. Gerade von diesem Ausgangspunkt aus – verfabelt in die angebliche Wolfsnatur des Menschen – werden sich die Mitglieder einer bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft allerdings seltsam einig: Zur Wahrnehmung ihrer Interessen gegen andere und um letztere an Übergriffen auf die eigene Person und ihr Eigentum zu hindern, wollen sie eine ihr Gegeneinander fördernde und rechtlich überwachende Gewalt – den bürgerlichen Staat. Als Staatsbürger kennen sie damit tatsächlich eine Gemeinsamkeit: Sie alle sind einer herrschaftlichen Gewalt unterworfen; so sind sie Teil einer Nation. Dieselben Leute, die sich in ihrer alltagsweltlichen ökonomischen Konkurrenz negativ voneinander abhängig wissen und mit Misstrauen begegnen, betrachten sich staatsbürgerlich als Brüder und Schwestern.

Eine solche Veranstaltung ist notwendigerweise verlogen. Ihre Sternstunden spielen sich jenseits des bürgerlichen Alltags ab, als staatsoffizielle Feiern oder patriotische Massenveranstaltungen (WM!), wo es nur noch Deutsche gibt, die sich voller Nationalgefühl in die Arme fallen. Kennzeichen der Nation sind mithin,

 dass die Zugehörigkeit zur Nation Werk des Staates ist und nicht der Entscheidungsfreiheit der ihr angehörenden Individuen überlassen bleibt15 und dass die staatliche Gewalt Ursprung und dauerhafte Existenzbedingung dieser Gemeinschaft ist;

 dass der Zweck der Nation sie selbst ist – einerseits unbegründbar, andererseits als über allem schwebende Phrase mit beliebigem Inhalt zu füllen;

 dass alle tatsächlichen Unterschiede und Gegensätze ihrer Mitglieder für belanglos erklärt werden, sodass nationales Wir-Gefühl nur aufkommen kann, wenn die Beteiligten gerade von ihren praktischen Interessen absehen;

 dass der jeweils gültige nationale Zweck von einer Herrschaft definiert wird und von einem dienstbereiten Volk ohne prüfende Nachfragen akzeptiert und praktisch umgesetzt wird,

 dass sie polemisch gegen alle individuellen Berechnungen steht und umgekehrt als höchster Wert für alle ihre Mitglieder fungiert – ein Wert, der im Ernstfall die Aufopferung von Gut und Leben des gesamten Volks einfordert.3. Die Belange der Nation und kommunistische Politik lassen sich also eher schlecht miteinander vereinbaren. Das ist nicht sonderlich überraschend, sondern sehr folgerichtig – schließlich richtet sich die kommunistische Kritik genau gegen das Programm, das in »Nation« ideologisch verquast ausgedrückt wird. Während die bürgerlich-demokratischen Staaten mit der wahnhaften Irrationalität dieses nationalen Denkens nicht nur wenig Probleme haben, sondern ganz im Gegenteil in einer nationalen Leitkultur ein positives und zu förderndes Mittel kennen, ihren Gesellschaften den wünschenswerten Zusammenhalt zu verleihen, steht die kommunistische Bewegung der nationalen Ideologie kritisch gegenüber – sie definiert sich internationalistisch. In ihrer Geschichte hat sie sich mit dem Problem und der Frage der Nation allerdings von Anfang an sehr schwer getan.16 Das ist erklärungsbedürftig, ohne dass dies in diesem Rahmen geleistet werden kann. Es muss an dieser Stelle bei Andeutungen bleiben:a) Eine präzise und umfassende Bestimmung dessen, was Staat und Nation in den entstehenden kapitalistischen Gesellschaften ihrer Zeit sind, haben Marx und Engels nicht geleistet. Im »Kommunistischen Manifest« findet sich der Satz: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.« Das »nur« in dieser Aussage kann zumindest so gelesen werden, dass der Staat eigentlich mehr sein könne als Dienst an den Interessen der Bourgeoisie – zumal Marx/Engels betonen, dass sich die moderne Bourgeoisie selbst diesen Staat gegen seine vorherige feudale Verfasstheit erkämpft hat. Die proletarischen Kämpfe, die es seit den Anfangszeiten in den marktwirtschaftlich verfassten Staaten gegeben hat, und die wenigen praktischen Versuche, den Kapitalismus durch sozialistische Gesellschaften zu überwinden, haben sich jedenfalls mehrheitlich an dieser Vorstellung orientiert – der Idee, dass es auch eine bessere und letztlich für die Arbeiterklasse nützliche Staatsgewalt geben könne.b) Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Arbeiterbewegung, die den Staat bis dahin als puren Feind ihrer Lohnkämpfe und Gewerkschaftsorganisationen erlebt hatte, die ersten Ansätze einer rechts- und sozialstaatlichen Aufsicht über das Lohnarbeitsverhältnis als Zeichen dafür genommen, dass sie mit ihren Anliegen in diesem Staat nicht ganz fehl am Platz ist. Rechtliche Regelungen der Lohnarbeit (Arbeitszeit und -schutz, Sozialversicherung) hat sie nicht als Ausdruck davon begriffen, dass der Staat in der kapitalistischen Produktion den Nutznießern dieser Ordnung selbst noch das aufherrschen muss, was das Mittel ihrer Profitmacherei überhaupt auf Dauer erhält – ein paar elementare Rücksichten auf die Überlebensbedürfnisse der Arbeiterklasse. Gegen den Schluss, dass es der Staat mit seinem Recht und seiner Gewalt ist, der diese Produktionsweise mit ihren arbeiterfeindlichen Interessen durch den Schutz des Eigentums etabliert und am Leben hält, mit seiner Ordnung also all das Elend erzeugt, das er im zweiten Schritt dann eventuell abmildert, auf alle Fälle aber wirtschafts- und staatsnützlich betreut, hat sie die diesbezüglichen Aktivitäten lieber als (vermeintlich) bessere »soziale« Seite des Staats begriffen. (Ausführlich dazu Decker/Hecker 2002: 29ff.)Auch wenn sich sozialdemokratische und radikal-sozialistische Parteien in der Folge noch darin unterschieden haben, dass die einen »auf dem parlamentarischen Weg« eine genügend große Änderung des existierenden Staats für möglich, während die anderen immer noch einen regelrechten Umsturz der politischen Verhältnisse für notwendig gehalten haben – in einem sind sich »Reformisten« und »Revolutionäre« insofern ziemlich einig gewesen: in der Auffassung nämlich, Staatlichkeit überhaupt könne ganz anders und besser aussehen als der bis dato herrschende »Ausschuss der Bourgeoisie«. Die sozialdemokratischen Parteien versuchten seitdem, die Interessen der Arbeiterschaft in den demokratischen Parlamenten damit zu befördern, dass sie für Rechte und sozialstaatliche Betreuung dieser sozial benachteiligten Klasse kämpfen. Die sozialistisch-kommunistischen Parteien haben da, wo ihr Kampf erfolgreich war, realsozialistische Staatswesen organisiert, in denen den Arbeitern nach Beseitigung der bourgeoisen Ausbeuterklasse ein für allemal die ihnen zustehende Gerechtigkeit widerfahren sollte. Die ursprünglich präsente Vorstellung davon, dass staatliche Gewalt überflüssig wird, wo kein Klassengegensatz mehr existiert, der gewaltsam im Zaum gehalten werden muss, dass also in einer sozialistischen Gesellschaft »der Staat abstirbt« – diese eher kritische Ansicht über die Staatsgewalt hat sich immer mehr verloren zugunsten eines Lobs der Leistungen, die eine sozialstaatliche bzw. sozialistische Staatsgewalt erbringt. Am Ende ist eine vernebelt moralische, im sozialistischen Alltag von den Idealisten der Partei mit Inbrunst vor-, vom Rest eher opportunistisch taktierend nachgelebte Idee übergeblieben: Dann, wenn die sozialistischen Individuen sämtliche egoistisch-kleinbürgerlichen Antriebe in sich besiegt haben und sich ganz und gar eins wissen mit den Anliegen der sozialistischen Gemeinschaft, dann also, wenn jeder sich sozusagen zu einem Staat im Kleinen fortentwickelt hat, kann der Staat verschwinden.c) Diese Konsequenzen sind natürlich nicht dem kurzen, schlechten Satz im »Kommunistischen Manifest« geschuldet und auch nicht der fehlenden Staatskritik von Marx und Engels. Es verhält sich umgekehrt. Die sozialistisch-kommunistische Bewegung hat mehrheitlich trotz ihrer Kritik der kapitalistischen Ökonomie politisch weiter in den Kategorien von »guter Herrschaft« gedacht und gehandelt. Sie hat gegen die Klassengesellschaft und ihre Resultate opponiert; sie hat die unterdrückten Klassen aufgerufen, in ihrem Elend auf »kein höheres Wesen« zu vertrauen und sie hat die jeweils existierende, arbeiterfeindliche Haltung des Staats, mit dem sie es zu tun hatte, angeprangert. Aber Staat hat sie sich gleichzeitig auch anders, idealer vorstellen können – reformiert-sozialstaatlich oder gar sozialistisch-volksdemokratisch, auf alle Fälle eben gut fürs bis dahin geschundene Volk. In diesem Punkt ist die Kritik der kommunistischen Bewegungen bis zum heutigen Tag weitgehend idealistisch geblieben. (Rühmliche Ausnahme: Resultate der Arbeitskonferenz 1979)Zu diesem Standpunkt hat sich die kommunistische Opposition umso mehr vorgearbeitet, je mehr ihr in ihrem Kampf gegen nationale Bourgeoisie und Staatsgewalt als Gegner auch noch die entgegengetreten sind, deren Interessen sie eigentlich vertreten wollte. Die ausgebeuteten und unterdrückten Massen haben sich in ihrer großen Mehrheit als Volk präsentiert, d.h. als Menschen, die sich abhängig wissen von einer über ihnen stehenden Herrschaft, dieses Gewaltverhältnis für eine quasi-natürliche Lebensbedingung halten, sich eine Besserung ihrer Lebensverhältnisse bestenfalls in Form einer fürsorglichen Herrschaft vorstellen und die eigene auf alle Fälle besser leiden können als jede auswärtige. Bei den Kommunisten, die zum Kampf gegen die herrschenden Verhältnisse anstacheln wollten, hat sich dieses Volk dementsprechend vor allem danach erkundigt, ob es denn auch in Zukunft mit einer anständigen Ordnung rechnen dürfe und auf seine patriotischen Gefühle hingewiesen, zu denen der vaterlandslose Internationalismus schlecht passe. In Bausch und Bogen kritisieren wollten die Arbeiterparteien diese Anträge auf Dauer nicht – das hätte sie ganz und gar ins gesellschaftliche Abseits gestellt und ihre Position noch mehr marginalisiert – und wegen ihrer eigenen, euphemistisch gesagt, unvollkommenen Staatskritik konnten sie es auch gar nicht richtig. So hat das Bedürfnis, die arbeitenden Massen mit ihren staatsbürgerlich-patriotischen Gedanken für die eigene Bewegung zu nutzen, die staatsidealistische Seite der kommunistischen Bewegung weiter verstärkt.In diesem Kontext gibt es zwei wesentliche historische Wendepunkte. Der eine liegt in der Entscheidung der europäischen Arbeiter und eines Großteils ihrer Parteien, im Ersten Weltkrieg gegen ihre proletarischen Klassenbrüder und für ihre Nationen zu kämpfen. Das war der zu seinem bitteren Ende gebrachte Fehler, aus der eigenen Abhängigkeit von ein Eintreten für den Staat, in den es einen verschlagen hat, zu machen. Die kurz darauf stattfindende russische Revolution, deren bolschewistische Führer am Anfang noch fest davon ausgingen, dass ihr kommunistisches Projekt nur dann überleben könne, wenn es durch eine Welt- (mindestens aber europäische) Revolution unterstützt würde, sah sich in der Folge damit konfrontiert, dass ausgerechnet die Sozialdemokratien Westeuropas umsturzwillige Arbeiter bekämpften und für den Fortbestand kapitalistischer Staaten sorgten. Von der bürgerlichen Staatenwelt wurde das neue kommunistische Gebilde als nicht hinnehmbarer Unfall bekämpft; das Gebiet der Sowjets (Räte) wurde so behandelt, als müsse eine Art von »Schurkennation« aus der Welt geschafft werden. Ähnlich wie in heutigen Tagen griff man daher sowohl zu direkten militärischen Interventionen, überfiel die junge Sowjetunion von allen Seiten mit amerikanischen, britischen, deutschen Armeen. Und man unterstützte all jene, die wegen ihrer feudalen Stellung, ihren bourgeoisen Interessen oder ethnischen Gegensätzen bereit waren, gegen die rote Macht in den Bürgerkrieg zu ziehen. Alle Bewohner, gleichgültig wie sie zum Programm der Bolschewiki und ihren Versprechen von »Land und Frieden« standen, wurden in diesen Krieg hineingezogen. Das sorgte allerdings umgekehrt dafür, dass ein Teil der Betroffenen durchaus auch aus patriotischen Gründen zur neuen kommunistischen Regierung überlief. Auf dem Unterschied zwischen der Verteidigung ihrer Revolution und der der russischen Nation wollten die Bolschewiki in ihrer Not nicht kleinlich herumreiten; so aber wurde aus dem Opportunismus vorrevolutionärer Zeiten so etwas wie ein bewusst eingesetzter Hebel. Damit beginnt die zweite historische Wende.Lenin machte in diesem Sinne die Politik gegenüber den vom Zarismus unterdrückten Völkern zu einem konstruktiven Element der neuen Verfassung. Diese wurden als politisch autonome Einheiten in die »Union der sozialistischen Sowjetrepubliken« (UdSSR) aufgenommen. Sie erhielten damit die Gleichberechtigung und Anerkennung ihrer nationalen Besonderheit, die ihnen das alte Russland stets verweigert hatte. Ideologisch rechtfertigte Lenin das als neue Art von Klassenkampf, der bei rückständigen Völkern zunächst in ihrer nationalen Frage zu führen sei. Stalin vollendete diese zweite Wende, indem er mit seinem »Sozialismus in einem Land« dann auch offiziell Abschied nahm vom revolutionären Internationalismus. So sehr auch das ein offensichtliches Notprogramm war angesichts des Nationalismus, den die Arbeiterklassen Westeuropas an den Tag legten, so wenig wollte die sowjetische Politik diesen Tatbestand, für den sie nicht verantwortlich war, einfach eingestehen. Der von einem kommunistischen Gedanken aus auf der Hand liegende Mangel eines »Sozialismus in einem Land« wurde vielmehr umgedeutet und überhöht in die Vorstellung, in der Sowjetunion hätten die Proletarier ihr Vaterland gefunden. Das war einerseits Auftakt dazu, den Internationalismus auswärtiger Kommunisten auf harte Bewährungsproben zu stellen (vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen über Stalins Chinapolitik, S. 49f.). Andererseits hat gerade die Außenpolitik der sich konstituierenden Sowjetunion in der kommunistischen Weltbewegung Kategorien wie die vom Selbstbestimmungsrecht der Völker, das als eine Art Klassenkampf unter imperialistischen Bedingungen aufzufassen sei, üblich und salonfähig gemacht. Auf den Gedanken, dass sich sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaften zusammenschließen, dass vorgefundene Staatsgrenzen zwischen ihnen jedenfalls nichts zu suchen haben, ist nach dem Zweiten Weltkrieg kein führender Kommunist mehr verfallen – auch nicht in der Sowjetunion selbst. Die UdSSR hat sich einen Sicherheitskordon mit befreundeten sozialistischen Staaten geschaffen und die beiden kommunistischen Parteiführer, die sich aus eigener Kraft in ihren Ländern durchgesetzt haben – Tito und Mao – haben einen Anschluss an das Vaterland aller Werktätigen nach allem, was von ihnen bekannt ist, nicht eine Sekunde lang erwogen.4. Auch bei der chinesischen KP bezeugt der Widerspruch, sich gleichzeitig als kommunistische Revolutionäre und chinesische Nationalisten aufzustellen, dass diese Partei sich sowohl ihren Kommunismus wie ihren Nationalismus umgedeutet und so vereinbar gemacht hat. Den kommunistischen Teil ihres Programms, die Beseitigung von Armut und Elend, denken sich offensichtlich auch diese Kommunisten staatsidealistisch; sie verstehen darunter weniger die Beseitigung von Herrschaft als die Begründung eines sozial(istisch)en Staatswesens, das sich endlich wirklich seinem Volk verpflichtet weiß statt für die Bereicherung der herrschenden Klasse zu sorgen. Ein solches alternatives Staatsprogramm setzt voraus, dass China von den auswärtigen Imperialisten befreit wird. Das begründet aus Sicht der KP ihren anti-imperialistischen Kampf um die Wiederherstellung nationaler Einheit und Souveränität. Auch diesen nationalen Teil ihres Programms denken die Kommunisten idealistisch. Die Nation, um die sie kämpfen, stellen sie sich nicht als das vor, was Nation gemeinhin ist: der beschönigende Titel einer Klassengesellschaft, in der der Staat mit seiner Gewalt dem Eigentum Geltung verschafft und in der Gemeinwohl nichts anderes bedeutet als der dauerhaft gesicherte Vorteil der Eigentümer auf Kosten des Rests der Gesellschaft. Die neue, von auswärtigem Einfluss befreite Nation, das sozialistische China, das sie erst schaffen wollen, soll vielmehr Bedingung und Garant dafür sein, dass alle gesellschaftlichen Kräfte vereint die Produktivkräfte in dem rückständigen Land entwickeln und so einen für alle nützlichen Staat zustande bringen. Insofern füllen die chinesischen Kommunisten die dunstige Floskel von Nation mit einem neuen, fortschrittlichen Inhalt – anders gesagt: Sie wollen Ernst machen mit der Ideologie der Gemeinschaftlichkeit, die in Nation enthalten ist. Sie gehen davon aus, dass auch Grundeigentümer und Fabrikbesitzer als chinesische Patrioten an Modernisierung und Fortschritt des Landes interessiert sein müssten und wollen diese praktisch verpflichten auf ihre volksfreundliche Interpretation. Während die ideologische Wirkung des nationalen Gedankens also normalerweise darin besteht, die Geschädigten einer Klassengesellschaft auf Opfer für den Erfolg des großen Ganzen festzulegen, dessen Wahrheit im Nutzen der herrschenden Klasse und ihres Staats besteht, dreht die chinesische KP dieses Verhältnis um. Sie meint einen für die Mehrheit nützlichen Staat, tritt damit gegen die Nutznießer der bisherigen Ordnung an und will diese als chinesische Patrioten für ihre neue Gesellschaft gewinnen.Die chinesischen Kommunisten nehmen also kein taktisches Verhältnis zur nationalen Frage ihres Landes ein. Ganz im Gegenteil glaubt diese Partei ernsthaft an ihre historische Sendung, vor der die bürgerliche Regierung ihrer Ansicht nach auf breiter Front versagt. Weil die Guomindang darauf setzt, Finanzprobleme mit ausländischen Anleihen zu regeln und deshalb keinen Bruch mit dem Ausland riskieren will; weil ihre Führungskräfte aus der Klasse reicher Chinesen stammen, sie die nationale Reichtumsproduktion also nicht strikt in den Dienst einer nationalen und sozialen Entwicklung des Landes stellen, sondern für private Bereicherung »miss«brauchen; weil die Verflechtung der GMD mit der Klasse der Großgrundbesitzer auch eine Landreform in weite Ferne rückt, sind die Kommunisten nach eigener Einschätzung die einzigen, die wirklich die nationale Befreiung erkämpfen wollen und können – und auf dieser Basis dann die fällige soziale Revolution.175. In diesem Sinne kämpft die chinesische KP also tatsächlich und ernsthaft für das Projekt eines nationalen Kommunismus oder einer kommunistischen Nation. Für sie ist das kein praktizierter Widerspruch, sondern eine für beide Seiten – Nation wie Kommunismus – ebenso notwendige wie nützliche Verknüpfung. Die Gleichsetzung, zu der sich die sowjetischen Kommunisten seit der Oktoberrevolution mehr oder weniger mühsam hingearbeitet haben, ist bei den chinesischen Kommunisten also der Ausgangspunkt ihrer Politik. In den knapp 30 Jahren der sozialistischen Volksrepublik macht sich der Widerspruch dieser Idee allerdings praktisch immer mehr geltend. Am Ende führt er dazu, dass »das Nationale« über »das Kommunistische« des ursprünglichen Programms siegt. Nation beinhaltet notwendig ein Verhältnis der Abgrenzung und damit auch der Konkurrenz nach außen – sonst hätte die Nation als Besonderheit kein Existenzrecht. Wie Nation selbst kann auch diese Konkurrenz idealistisch-volksfreundlich gedacht werden, etwa in dem Sinne, dass sozialistische Staaten nicht mit Profitbilanzen, sondern mit der Versorgung ihrer Menschen und tollen Alphabetisierungsraten glänzen – und eben das haben die chinesischen Kommunisten auch zunächst getan. Nichtsdestotrotz ist damit das Anliegen in der Welt, als Nation teilzuhaben an einem Wettbewerb um Anerkennung und Positionen – in der gesamten Staatenwelt, im sozialistischen Verband der Bruderländer, unter den Entwicklungsländern usw. Maos neues China hat sich der Welt von Anfang an als anspruchsvolle Nation präsentiert, die mit ihrer neuen sozialistischen Gesellschaft die Jahre ihrer imperialistischen Unterdrückung schnell und eindrucksvoll überwinden will. Der darin enthaltene nationale Ehrgeiz tritt allerdings ziemlich schnell in Widerspruch zu dem, was die sozialistische, volksfürsorgliche Seite des Projekts ausmacht – dies ist an den einzelnen Etappen der maoistischen Kampagnen deutlich nachzuvollziehen, vor allem natürlich am legendären »Großen Sprung nach vorne«. Immer mehr ist den chinesischen KP-Führern offenbar klar geworden, dass die wirkliche Konkurrenz der Nationen, an denen die sozialistische Volksrepublik sich durchaus messen wollte, nicht als Kampf um die größtmögliche Volksbeglückung funktioniert, sondern mit Geld und Waffen ausgetragen wird. Dass sie mit ihrem Nationalkommunismus in dieser realen Konkurrenz nichts auszurichten vermochten und all ihre sozialen Errungenschaften dafür wenig hergegeben haben, hat ihnen dann so zu denken gegeben, dass sie nach nicht einmal 30 Jahren lieber ihren Kommunismus für ihren nationalen Erfolg weggeworfen haben als umgekehrt ihrer sozialistischen Volksfürsorge zuliebe das Programm einer weltweit erfolgreichen chinesischen Nation sein zu lassen.Das Ziel einer ebenso nationalen wie sozialen Revolution ist also der praktische Ausgangspunkt, von dem aus die Kommunistische Partei Chinas ihre theoretischen wie praktischen Bemühungen startet. Sehr schön bringt das ihr späterer Vorsitzender Mao zur Anschauung, der in einer seiner frühen Schriften 1926 »die Klassen der chinesischen Gesellschaft« analysiert.»Über die Klassen der chinesischen Gesellschaft: Wer sind unsere Feinde, und wer sind unsere Freunde? Das ist die Frage, die in der Revolution erstrangige Bedeutung hat. Der Hauptgrund, weshalb alle revolutionären Kämpfe in China in der Vergangenheit nur sehr unbedeutende Ergebnisse brachten, bestand in der Unfähigkeit der Revolutionäre, die wahren Freunde um sich zu scharen, um den Schlag gegen die wahren Feinde zu führen. (...) Um die wahren Freunde von den wahren Feinden zu unterscheiden, muss man in allgemeinen Zügen die ökonomische Lage der Klassen, aus denen sich die chinesische Gesellschaft zusammensetzt, und deren Einstellung zur Revolution analysieren.« (Mao Zedong 1956, Bd. 1: 11)Das ist schon eine eigenartige Frage, mit der der junge Mao seine Überlegungen beginnt. »Klassen« im ökonomischen Sinn kann und will er auf diese Art sicher nicht bestimmen; für ihn fällt der Begriff einer Klasse schlicht und einfach mit ihrer Rolle in den revolutionären Kämpfen, die er auf den Weg bringen will, zusammen. Ganz dieser Frage entsprechend fällt dann die Charakterisierung der einzelnen Klassen aus: Grundbesitzer und Kompradorenbourgeosie sind »konterrevolutionär«, Halbproletariat und arme Bauern sind »revolutionär«, »Halbpächter sind revolutionärer gestimmt als Bauern auf Eigenland, aber weniger revolutionär als die armen Bauern« usw. usf. Mao bezieht sämtliche Sozialcharaktere auf sein Ziel der angestrebten national-sozialen Revolution und schätzt ein, wie sie sich aus ihren ökonomischen Motiven heraus dazu stellen werden. Insofern enthält diese Frühschrift weniger eine Theorie darüber, wie es um die Klassen des damaligen China und ihre ökonomischen Gegensätze bestellt ist, als dass sie das Interesse eines entschiedenen Revolutionärs verrät. Zumindest auf dem Papier hat die fällige Revolution bereits eine denkbar breite Basis. Sie schließt im Prinzip die gesamte chinesische Gesellschaft ein, ausgenommen »Grundbesitzer« und »Kompradorenbourgeoisie«, die die »rückständigsten und reaktionärsten Produktionsverhältnisse« verkörpern. Alle anderen – von der nationalen Bourgeoisie bis hin zu den ärmsten Bauern – sind dagegen »revolutionäre« Klassen. Dass »Revolution« für aufstrebende chinesische Kapitalisten etwas anders aussieht als für seine kommunistische Partei, nimmt Mao dabei durchaus zur Kenntnis. Er sieht, dass sich diese Klasse ihrem Interesse entsprechend lediglich gegen »die schweren Schläge des ausländischen Kapitals und die Unterdrückung durch die Militärherrschaft« ausspricht und sofort von »Zweifeln über die Revolution gepackt wird«, wenn das »einheimische Proletariat beginnt, kühn und entschlossen an der Revolution teilzunehmen«. Weil er alle (bzw. möglichst viele) Kräfte für den Kampf um die nationale Befreiung mobilisieren will, erklärt er diesen Unterschied aber kurzerhand für momentan unerheblich. Selbstverständlich kann er auch dafür einen »guten« historisch-materialistischen Grund angeben: Über kurz oder lang werden sowieso alle Zwischenklassen zur Entscheidung zwischen weiß und rot gezwungen, »weil die gegenwärtige internationale Situation dadurch gekennzeichnet wird, dass in der Welt der Entscheidungskampf zwischen zwei gleich gigantischen Kräften – der Revolution und der Konterrevolution – im Gange ist«.Maos Klassenanalyse beschäftigt sich also inhaltlich mit der Frage, welche Kräfte in der chinesischen Gesellschaft für den eigenen Standpunkt vereinnahmt werden können. Das Interesse an einem möglichst breiten Bündnis für die zunächst anstehende nationale Revolution führt dabei sehr ersichtlich die Feder. Damit führt das junge Parteimitglied Mao Zedong zugleich regelrecht exemplarisch eine Unsitte in den Auseinandersetzungen damaliger Kommunisten vor.Theorie und PraxisUnter »Theorie« verstehen er und seine Genossen nämlich etwas Eigenartiges. Theorie ist für sie weniger die geistige Anstrengung, die es braucht, wenn man den Wunsch nach Verbesserung der vorgefundenen Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen will. Kommunisten sollten in der Tat erklären können, warum die kapitalistische Ökonomie notwendig auf Kosten der Massen funktioniert, warum der bürgerliche Staat die gewaltsame Klammer einer Klassengesellschaft ist, warum Imperialismus und Krieg notwendig zu dieser Sorte Wirtschaft und Staatmachen dazugehören usw. usf. Dieses Wissen beseitigt erstens Illusionen dahingehend, dass der Wunsch nach Weltverbesserung im kapitalistischen System gut aufgehoben sein könnte. Zweitens verhindert es bei entschiedenen und möglicherweise sogar erfolgreichen Revolutionären folgenschwere Fehler, wie etwa die, ausgerechnet die Ideale von Kapitalismus und Demokratie zur praktischen Leitlinie ihres sozialistischen Aufbaus machen (näher dazu siehe das »Zwischenfazit in polemischer Absicht« in Teil 1, Kapitel 4).Für Mao und seine Mitkämpfer besteht Theoriebildung dagegen vor allem darin, mit marxistisch-leninistischem Vokabular abzuleiten, welche politische Entscheidung, welche Bündnispartnerschaft, welche Linie die passende, historisch notwendige Antwort auf eine gegebene Lage ist. Dass sie über praktischen Auseinandersetzungen die Theorie vernachlässigt hätten, kann man den Kommunisten jener Tage nicht vorwerfen – ganz im Gegenteil. Sie haben erstaunlich viel gelesen, eigene Schriften produziert und engagierte Auseinandersetzungen geführt. Ihre Intentionen beim Nachdenken und Streiten sind allerdings eigenartig. Theoriebildung betreiben sie nämlich mit viel Verve ausgerechnet da, wo es der Sache nach gar nicht um theoretische Probleme geht und wo Fragen gar nicht oder gar nicht allein durch Stichhaltigkeit bzw. Widerlegung von Argumenten zu entscheiden sind. Die kommunistischen Revolutionäre schlagen sich mit Einschätzungen und Entscheidungen in ihrem praktischen Kampf herum. Das, was ihnen als nächster Schritt für den Erfolg der Revolution wichtig vorkommt, wollen sie ihren Genossen einsichtig machen, um möglichst viel Unterstützung in der Partei und bei der Komintern zu sammeln. Zu diesem Zweck berufen sie sich auf die in einer kommunistischen Partei anerkannten Lehren, die – so gebraucht – immer mehr den Charakter von Glaubenssätzen annehmen. Die Klassiker werden mehr und mehr deshalb studiert und zitiert, weil man mit ihrer Autorität den eigenen Standpunkt unwidersprechlich machen will. Und je mehr sich die Auseinandersetzungen praktisch aufs Feld von Strategie und Taktik, auf Fragen der erfolgreichen Durchsetzung usw. konzentrieren, umso mehr Wert legen die Parteimitglieder darauf, objektive Gesetzmäßigkeiten anzuführen, mit denen ihr Handeln im Einklang stehen soll. Ausgerechnet Revolutionäre, die sich daran machen, ihren Standpunkt gegen das bisher in der Welt Geltende durchzusetzen, halten es für ein Vergehen, ihrem Willen zu folgen. Voluntarismus will sich keiner vorwerfen lassen, stattdessen wird viel Wert darauf gelegt, mit seinen Gedanken und Taten einem sowieso waltenden historisch-materialistischen Prinzip zu entsprechen und darin realistisch zu sein.Theoretische Auseinandersetzungen dieser Art sind längst nicht nur in der chinesischen KP Usus. Sie haben ihren Ursprung in unterschiedlichen und konkurrierenden Ansichten über Wege zum gemeinsamen Ziel der Revolution. Deren Erfolg steht in den Augen der Kommunisten unverrückbar fest, er ist »historisch notwendig« – womit sie sich und möglichen Anhängern versichern, auch angesichts momentan widriger Umstände auf der richtigen Seite zu stehen. Erfolg ist damit aber auch so etwas wie ein Wahrheitskriterium: Nichts gibt einer Linie im Nachhinein mehr Recht oder bescheinigt einer Analyse, falsch zu liegen, als die Praxis. Ihr Sieg 1917 macht die russischen Revolutionäre schlagartig und für Jahrzehnte zur geistigen Autorität der kommunistischen Weltbewegung. Große Theoretiker werden nicht an ihren Argumenten gemessen. Genau umgekehrt werden ihre Gedanken in dem Maße zu Dogmen des Marxismus-Leninismus, wie sie sich praktisch parteiintern und gegen ihre Gegner im bürgerlichen Lager durchsetzen: Lenin, Stalin, Mao. Natürlich soll jeder das genau andersherum sehen. Nicht der Erfolg – wie immer er zustande gekommen ist – soll die Theorien adeln, sondern umgekehrt zeigt er ex post nur, welche präzisen Analysen und scharfen Gedanken der siegreichen Linie schon immer zugrunde gelegen haben. Von daher kommt unter den kommunistischen Genossen ein sehr gehässiges Bedürfnis auf, unterlegene Linien zu exkommunizieren. Bestenfalls werden ihren Vertretern theoretische Irrtümer nachgewiesen, schlimmstenfalls – und mit entsprechenden Konsequenzen – Verrat am Ziel der Revolution.Solche Techniken des Denkens beherrschen die Genossen in Moskau selbstverständlich auch – und zwar vorbildlich. Schon die Empfehlung der Komintern an die chinesische KP, sie solle sich mit der Guomindang verbünden, ist nach diesem Muster zustande gekommen. Praktisch liegt ihr der Wunsch der russischen KP nach einer verlässlichen Ostgrenze zugrunde. Die Sowjetunion hat gerade den konterrevolutionären Bürgerkrieg im eigenen Land überstanden und ist interessiert an Nachbarstaaten, die ausländischen Imperialisten und ihren Truppen kein Einfallstor bieten. Der zerrüttete Zustand der chinesischen Staatsgewalt ist dafür alles andere als günstig: Das Land von warlords beherrscht, die Ostküste bis teilweise tief ins Landesinnere von europäischen Mächten und Japan durchsetzt. Ihrer Schwesterpartei, die sich eben erst gründet, trauen die russischen Kommunisten nicht allzu viel zu. Die Guomindang hatte sich ihrerseits bereits unter Sun Yatsen an Moskau gewandt und von dort materielle und ideologische Unterstützung erhalten. Also fordert die Komintern, die zu dieser Zeit bereits mehr oder weniger den Standpunkt sowjetischer Außenpolitik vertritt, die fortschrittlichen Kräfte in China zur Zusammenarbeit auf. Begründet wird diese Anweisung dann historisch-materialistisch, nämlich damit, dass in China eine sozialistische Revolution momentan nicht anstehe, da das Land nach der Etappe des Feudalismus zunächst eine bürgerlich-demokratische Phase durchlaufen müsse.Von dieser Linie geht die Komintern auch dann nicht ab, als Ciang Caishek 1927 die Volksfront überraschend und mit harten Konsequenzen für die KPCh aufkündigt. Die KP hat ab 1925 in Shanghai und Kanton große Streiks und eine Welle nationaler Unruhe gegen die ausländischen Unternehmen und die halbkoloniale Verwaltung organisiert. Ciang Caishek sieht seine Guomindang in Gefahr, die Unterstützung der national-chinesischen Bourgeoisie zu verlieren und durch die Kommunisten, die bereits ein Drittel der GMD-Mitglieder stellen,18 übernommen zu werden – zumal sich diese überall als Aktivisten der Bewegung betätigen. 1927 marschiert er in einer Überraschungsaktion gegen die Kommunisten und schafft es in der Folgezeit fast, die Partei auszurotten.19 Auch wenn das im Zentrum der kommunistischen Weltbewegung als harter Schlag empfunden wird, führt es keineswegs dazu, dass die Sowjetregierung der GMD die Freundschaft kündigt. Für die gibt es nämlich – wie oben erläutert – die harte Grundlage eines sicherheitspolitischen Interesses. Was ex post in Zweifel gezogen wird, sind vielmehr die eigenen Deutungen und Einschätzungen. Das Massaker der Nationalisten lässt die russischen Kommunisten »einsehen«, dass sie sich die revolutionären Möglichkeiten in China viel zu rosig vorgestellt und dem chinesischen Proletariat viel zu viel zugetraut haben. Der Niederlage wird damit ex post eine gewisse Notwendigkeit zugesprochen: Linkes Abenteurertum muss am Werk gewesen sein, weil und wenn etwas schiefgegangen ist.Praxis und TheorieAllerdings raten weder die russischen Genossen noch die Komintern der chinesischen KP dazu, sich aufzulösen angesichts dieser widrigen Bedingungen (die sie ein Stück weit mitverursachen). Die Vorstellung einer gelungenen kommunistischen Revolution findet nach wie vor ganz selbstverständlich ihre Zustimmung. Mit dem kommunistischen Gewerkschaftler Li Li-san unterstützt Stalin die Linie eines in den Städten geführten proletarischen Kampfes. Gleichzeitig – sozusagen als realistische Rückversicherung – hält die Sowjetregierung allerdings auch an ihren guten Beziehungen zur Guomindang als real existierender nationaler Kraft fest. Sie unterstützt sie in den 1930er Jahren in ihrem Kampf gegen die Japaner erneut materiell. Dabei sieht sie großzügig darüber hinweg, dass die GMD ihrerseits den Kampf gegen die Kommunisten zur Hauptsache erklärt – »Die Japaner sind eine Hautkrankheit, die Kommunisten sind ein Herzleiden« (Ciang Caishek 1941, zit. nach White/Jacoby 1949: 155) – und mit mehreren Feldzügen gegen die inzwischen auf dem Land gegründeten Sowjetregierungen vorgeht. Hier hat man eines der ersten Beispiele für den Übergang von revolutionärem Internationalismus zu einer sowjetischen Außenpolitik. Für die russischen Kommunisten klafft ihr Wunsch nach möglichst vielen revolutionären Umtrieben auf der Welt und ihr Bedürfnis, die Revolution in ihrem Land zu verteidigen, auseinander. Auswärtige Kommunisten werden zunehmend unter dem Gesichtspunkt betrachtet und behandelt, was sie zur Verteidigung der russischen Revolution beitragen (können) – so als ob das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion ihr erster und wichtigster Zweck sein müsste, und nicht der Umsturz der Verhältnisse in ihrem Land. Damit setzt die russische KP sich und ihre Interessen in einen regelrechten Gegensatz zu den Zielen der diversen kommunistischen Bewegungen, indem sie diesen als internationale Solidarität Unterstützungsleistungen abverlangt, die nicht einfach mit deren eigenen Zwecken zusammenfallen und -passen. Die Sowjetkommunisten rufen einen Nationalismus dieser Parteien geradezu auf den Plan bzw. verstärken notwendigerweise einen sowieso vorhandenen. Gerade die kommunistischen Parteien Chinas und Jugoslawiens – die sich aus eigener Kraft in ihren Ländern durchgesetzt haben – haben den Aufbau ihres Sozialismus denn auch immer in Konkurrenz zu und Absetzung von der Sowjetunion betrieben.Nach dem ersten Angriff Ciang Caisheks organisiert sich die hart getroffene KP neu. Während ein Teil unter Li Li-san in den Städten erneut das industrielle Proletariat zu mehreren blutigen, letztlich allerdings erfolglosen Aufständen aufwiegelt, versuchen andere, die Bauern auf dem Land für die Revolution zu gewinnen. Mao Zedong hält das – vor allem angesichts der Niederlage von 1927 – für den einzigen in China möglichen Weg. Als KP-Beauftragter für die Bauernfrage hat er in den Jahren zuvor damit begonnen, Bauern in Südchina gegen die Eigentumsverhältnisse auf dem Land zu mobilisieren. Die Bürgerkriegswirren und die rücksichtslose Plünderungspolitik der warlords hat die Lage der Bauern stetig verschlechtert, sodass es überall im Land bereits zu kleineren verzweifelten Aufständen gekommen war. Schon vor 1927 hatte Mao deshalb versucht, in der KP eine Linie durchzusetzen, die die Bauern als »revolutionäre Klasse« anerkannte, war damit aber mehrmals gescheitert. Nun sammelt er, gegen die damals offiziell gültige, von der Sowjetunion und der Komintern genehmigte Parteilinie von Li Li-san, im wahrsten Sinne des Wortes alles ein, was er an Anhängerschaft bekommen kann: Arme Bauern, die er mit Enteignungs- und Strafaktionen gegen reiche Bauern und Grundherren gewinnt; Räuber- und Rebellenbanden, denen er angesichts der Aussichtslosigkeit ihres Lebens zumindest die Perspektive eines Kampfs um bessere Verhältnisse bietet; Gefangene gegnerischer Truppen usw. usf.Damit ist er immerhin so erfolgreich, dass er in Kiangsi eine erste Sowjet (=Räte)republik ausrufen kann. Das setzt seine Theorie innerhalb der KP und auch in den Augen der sowjetischen Kommunisten im Nachhinein ins Recht.20 Sein Erfolg ruft aber auch die Guomindang auf den Plan. Ciang Caishek führt insgesamt fünf Feldzüge gegen die Kiangsi-Republik, bis er die Kommunisten so in die Defensive drängt, dass sie Ende 1934 abziehen. Es folgen der ebenso verlustreiche wie legendäre »Lange Marsch«, der Aufbau der Sowjetrepublik in Shensi (Nordchina), die erneute Einheitsfront mit der GMD gegen die japanische Invasion. Ohne dass hier detailliert auf diese Ereignisse eingegangen wird,21 sollen einige Punkte hervorgehoben werden:Die Rote Armee steht am Ende des Kriegs gegen Japan für die Gleichung von Landreform und nationaler Befreiung. Die KP ist damit die Partei der chinesischen Bauern wie chinesischer Patrioten aller Klassen und Schichten. Mit ihrem Marsch nach Norden zeigt sie sich im Vergleich zur Guomindang als diejenige nationale Kraft, die den Kampf gegen die Japaner ernsthaft als ihr wichtigstes Ziel betreibt. Damit sichert sie sich patriotisch gesonnene Bündnispartner unter den warlords. Mit zunehmendem Erfolg erhält sie die Unterstützung Stalins und untergräbt allmählich auch ein Stück weit die Moral der GMD-Truppen, denen der Kampf gegen die »Roten« angesichts der Bedrohung des chinesischen Vaterlands immer weniger einleuchtet. Sie agitiert die Bauern, sich nicht weiter schicksalhaft in ihre elenden Verhältnisse zu ergeben, sondern gegen Grundherren ebenso wie gegen den eigenen Geisterglauben und religiöse Traditionen anzugehen. Diese mit Sicherheit eher grob politmoralischen Appelle gewinnen für ihre Adressaten in dem Maße an Überzeugungskraft, wie die Kommunisten die jeweils reichsten Grundherren und Bauern verjagen oder umbringen, das Land neu verteilen, eine bessere landwirtschaftliche Produktion anleiten, Alphabetisierungskampagnen durchführen etc. Die Kommunistische Partei zeigt damit praktisch, dass sie für ein Staatsprogramm einsteht, das erstmals in China die Bauern nicht als Masse begreift, an deren kümmerlichen Erträgen sich die herrschende Klasse parasitär bereichert. Sie will vielmehr »dem Volke dienen«.»Die acht Regeln der Roten Armee: Stelle alle Türen wieder an ihren Platz, wenn du das Haus verlässt;* Rolle die Strohmatten zusammen, auf denen du schläfst, und gib sie zurück; Sei höflich und zuvorkommend und hilf, wenn du kannst; Gib alle geliehenen Gegenstände zurück; Ersetze, was du beschädigt hast; Sei ehrlich in allen Verhandlungen mit den Bauern; Bezahle für alle gekauften Artikel; Sei hygienisch und lege alle Latrinen in sicherer Entfernung von bewohnten Häusern an.*Diese Regel hört sich rätselhafter an, als sie wirklich ist. Die Holztüren eines chinesischen Hauses sind leicht abnehmbar. Nachts nimmt man sie oft ab, legt sie auf Holzblöcke und benutzt sie als improvisierte Schlafstellen.«Snow 1974: 174All das erfordert eine disziplinierte und politisch geschulte Armee – mit der Soldateska der Anfangszeit wäre ein solches Programm nicht zu verwirklichen gewesen. Klar ist auch, dass die Volksbefreiungsarmee mit ihren Erfolgen von einem ziemlich harten Idealismus und einer enormen Rücksichtslosigkeit der Kämpfer gegen sich selbst lebt. Auch wenn Mao Zedong mit seiner Strategie des Guerilla-Kriegs Militärgeschichte geschrieben hat, kann seine Armee gegen einen technisch hoch überlegenen Gegner (sowohl GMD wie Japaner) letztlich nur auf die eigene Kraft, sprich die Opferbereitschaft ihrer Truppen bauen. Deren Basis liegt vor allem in der Hoffnungslosigkeit der Verhältnisse, die sie hinter sich lassen, und dem festen Glauben an eine bessere Zukunft.Unterstützung durch die Bauern bzw. die Sowjetunion bekommt die Rote Armee immer nur im Zuge des eigenen Erfolgs. Nur indem sie sich ein relevantes Stück des Landes erobert, nur indem sie sich allmählich militärisch zu einer beachtenswerten Kraft im Krieg gegen Japan aufbaut, kann sie auf Zustimmung und Hilfe rechnen. Auch innerhalb der Partei zählt mehr als jedes Argument der brutale Realismus des praktischen Erfolgs. Dass man diesem auch nachhelfen kann, indem man Konkurrenten um die Parteiführung desavouiert und sie mundtot macht, liegt in der Logik solcher Art Beweisführung für die richtige Linie.22***Angesichts der in jeder Hinsicht desolaten Verhältnisse in China einen sozialistischen Neuanfang zu starten – das ist auf alle Fälle ein hartes Unterfangen. Was auch immer sich die Führung der kommunistischen Partei zum Zeitpunkt ihres Siegs in Gedanken oder Visionen unter Sozialismus vorgestellt haben mag – ihr Vorhaben hat zunächst nichts wirklich Freies an sich: Nicht in Bezug auf die politischen Verhältnisse, die mit der militärischen Durchsetzung längst nicht eindeutig entschieden sind. Nicht in Bezug auf die ökonomischen Grundlagen, die man sich im China des Jahres 1949 bis auf ein paar Ausnahmen gar nicht vor-industriell genug vorstellen kann. Und schließlich auch nicht in Bezug auf das, was man den subjektiven Faktor nennt. Das chinesische Volk, das sich nach Maos Worten am Tiananmen-Platz »erhoben« hatte, ist in seiner großen Mehrheit unterernährt, krank, ungebildet und abergläubisch. Die Armee, die Mao und seinen Genossen den Sieg gegen die Guomindang erkämpft hat, ist nicht viel anders zu beurteilen – auch wenn sich die Führungskader der KP einige Mühe mit Alphabetisierung und rudimentären Schulungen gegeben haben.Vergleicht man die Volksrepublik des Jahres 1976, dem Todesjahr Maos, mit dieser Ausgangslage, müsste man dem Großen Vorsitzenden nach den Kriterien bürgerlichen Denkens ziemlich unverhohlen Beifall klatschen. Er hat die Sache seiner Nation nämlich nicht nur im Krieg gegen die japanischen Besatzer standhaft verteidigt und sich im Bürgerkrieg gegen seine innerchinesischen Gegner durchgesetzt – was für bürgerliche Historiker normalerweise lässig ausreicht, um dem Erfolg in Sachen Gewalt auch eine gewisse sachliche Notwendigkeit zu bescheinigen. Mao Zedong hat es darüber hinaus verstanden, den fragilen Zusammenhalt der befreiten chinesischen Nation zu stabilisieren, ihn gegen äußere Angriffe zu verteidigen (Koreakrieg, Rückeroberungsprogramm Ciang Caisheks) und sich innerhalb des Ostblocks zu behaupten. 1972 hat er der imperialistischen Weltmacht Nr. 1, den USA, eine gewisse Anerkennung seiner Volksrepublik abgerungen, Taiwan aus den UN verdrängt und seinem roten China einen Sitz im Weltsicherheitsrat erobert. Nach innen hat Maos Staatsprogramm innerhalb kürzester Zeit eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse in Stadt und Land zustande gebracht und die Industrialisierung Chinas enorm vorangetrieben – eine Leistung, die besonders im Vergleich zu Indien, einem Land mit ähnlich gelagerten Ausgangsbedingungen, eine Zeit lang im Westen allem Antikommunismus zum Trotz sogar eine gewisse Anerkennung findet. Die Fortschritte, die das große sozialistische Entwicklungsland in wenigen Jahren in der medizinischen Versorgung, der Alphabetisierung, bei der Befreiung der Frauen und der Herausbildung eines allgemein politischen Bewusstseins seines Volkes gemacht hat, sind historisch noch immer ohne Parallele. Vom heutigen Ende her könnte man sogar als bittere Ironie der Weltgeschichte vermerken: Die Voraussetzungen, auf die China heute bei seiner Karriere als kapitalistisch erfolgreiches Staatswesen zurückgreifen kann, verdankt es niemand anderem als dem Kommunisten Mao Zedong!In Sachen Sozialismus fällt die Bilanz der Mao-Zeit erheblich bescheidener aus. Eine geplante Produktion zum Nutzen ihrer Produzenten einzurichten; einen Staat überflüssig machen, der als gewaltsame Klammer die in seiner Gesellschaft existierenden Widersprüche zusammenzwingt und im Sinne des nationalen Erfolgs betreut; eine Gesellschaft von Zwang, Aberglauben und Dummheit zu befreien – das alles kann sich die sozialistische Volksrepublik nicht zugutehalten. Die KP Chinas hat, vor allem in den ersten Jahren der VR, viel existentielle Not beseitigt; dann aber hat sie ihre Massen zunehmend für ein nationales Kampfprogramm in Anspruch genommen, ihnen viel harte Arbeit aufgehalst und wenig an materiellem Ertrag geboten. Sie hat ihr Volk von alten familiären Zwängen, religiösem Aberglauben und Unwissenheit befreit; sie hat es allerdings sehr total, politisch wie moralisch, in die Pflicht genommen, sich am Aufbau des neuen China zu beteiligen, und dafür immer mehr an Dummheit und Zwang für nötig gehalten. Nachdem sich die sozialistische Volksrepublik mit der »Kulturrevolution« an den Rand eines Bürgerkriegs bewegt hat, hat die Führung der KP nach Maos Tod eine schnelle Wende zu außenpolitischer Öffnung und immer schnellerer Revision ihrer sozialistischen Wirtschaftsplanung vorgenommen.Warum hat das für viele Kommunisten so hoffnungsvolle und begeisternde Projekt des roten China diesen Weg genommen und warum ist es zu diesem Ende gekommen? Die Antwort auf diese Frage hat zwei wesentliche Bestandteile, die in einem inneren Zusammenhang stehen:1. Die chinesischen Kommunisten haben versucht, Vorstellungen zu Zielen und Wegen eines sozialistischen Aufbauprogramms in die Tat umzusetzen, die viel Respekt vor dem verraten, was doch radikal überwunden werden sollte: Respekt vor den vermeintlich guten Seiten kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Staatlichkeit. Chinas sozialistisches Experiment ist nicht an den immanenten Widersprüchen und angeblich notwendigen Verfallserscheinungen einer jeden sozialistischen Planwirtschaft gescheitert, sondern viel mehr daran, dass die chinesische Ökonomie eine Planwirtschaft nur in einer sehr halbherzigen, verballhornten Form war. Das Programm der chinesischen Kommunisten ist nicht die Beseitigung von Eigentum und Staat gewesen; statt dessen wollte die KPCh dafür sorgen, dass Eigentum und Staat »dem Volke dienen«.2. Die kommunistische Bewegung Chinas ist von Anfang an untrennbar mit dem Willen zu einem nationalen Wiederaufstieg verknüpft. Was in den Zeiten des Kampfs als Antiimperialismus auftritt, weil es um die Befreiung einer nicht souveränen Nation geht, bleibt nach dem Sieg existentieller Bestandteil des sozialistischen Aufbauprogramms: die polemische wie affirmative Ausrichtung an starken Nationen im Wettbewerb um Weltgeltung. Das ist in den verschiedenen Etappen und »Sprüngen« der maoistischen Zeit innen- wie außenpolitisch sehr deutlich nachvollziehbar.Der Nationalismus der chinesischen Kommunisten siegt letztendlich über ihren staatsidealistischen Sozialismus – beim Großen Vorsitzenden ebenso wie bei seinem kleinen Nachfolger Deng, der für diesen Zweck 1978 mit der Öffnung des Landes den Systemwechsel einleitet.

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