Buch lesen: «China – ein Lehrstück», Seite 5

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Umgekehrt werden Fakten, die das negative Bild dieses Staats etwas ins Wanken bringen könnten, nicht so gerne in den wichtigen Medien thematisiert. Chinas außerordentliche Erfolge bei der Bekämpfung absoluter Armut oder bei der Zurückdrängung von Wüsten durch Aufforstung passen offenbar nicht so richtig in das Bild, das die Mainstream-Medien vermitteln wollen.49 Ebenso wenig wollen deutsche Journalisten sich und ihr Publikum im Falle Chinas mit Analysen und Hintergrundinformationen belasten, die das klare Bild von der bösartig-repressiven Staatsmacht 50 gegen liebenswerte Uiguren oder Hongkonger Studenten erschüttern könnten. Die Redaktionen der großen Medienhäuser könnten leicht auch selbst herausfinden, was einige linke Journalisten recherchiert haben: Terroristische Aktionen uigurischer Fundamentalisten, deren geistige Führer als „Exilregierung“ seit den 1970er-Jahren in München sitzen; die zweifelhaften Ziele und das rüde Vorgehen der Demonstranten in Hongkong (Erstürmung und Verwüstung des Parlamentsgebäudes. Man vergleiche einmal die Berichterstattung zum „Sturm auf das Capitol“, der „Herzkammer der amerikanischen Demokratie“!); die Merkwürdigkeiten um die dortige Galionsfigur Joshua Wong, der seit bereits fünf Jahren Verbindungen zu US-amerikanischen Thinktanks und zur CIA unterhält.51

Einige Bemerkungen zu den Uiguren

Mit den „China Cables“, geleakten Dokumenten chinesischer Behörden über staatliche „Umerziehungslager“ für Uiguren im westchinesischen Autonomen Gebiet Xinjiang, wurde seit Ende 2019 die Behandlung der uigurischen Minderheit durch den chinesischen Staat zum Thema der „Weltöffentlichkeit“ gemacht. Seitdem gelten Vorwürfe in dieser Frage als mehr oder weniger „bewiesen“; sogar von „Konzentrationslagern“ ist immer wieder die Rede. Der Journalist Jörg Kronauer schreibt dazu, dass die „China Cables“ in der Tat bestätigen, dass „Menschen in den Lagern ohne gerichtliches Urteil, gegen ihren Willen und über lange Zeit festgehalten, zur Veränderung ihres Verhaltens veranlasst und penibel überwacht werden.“ Aber: „Weitere Vorwürfe, insbesondere den, dass in den Einrichtungen Gewalt und Folter angewandt würden, belegen sie nicht.“ („Junge Welt“, 5.12.2019) In einer ausführlichen und lesenswerten Recherche bemüht er sich anschließend um die nötige Klärung der „Hintergründe, die die Behörden der Volksrepublik überhaupt erst veranlasst haben, die Lager zu errichten.“

Hier soll deshalb nur in aller Kürze festgehalten werden:

 Das Aufhetzen von Stämmen bzw. Völkern gegen ihre Herrschaft – ob „kolonial“ oder im Fall von Vielvölkerreichen – war schon immer ein probates Mittel in der Konkurrenz von Staaten.

 Im Fall der Uiguren wurden deren Bemühungen um Befreiung vom „chinesischen Joch“ seit dem 19. Jahrhundert berechnend angefeuert von wechselnden Mächten: Großbritannien, USA, Deutschland und Türkei.

 Heute tritt der uigurische Separatismus als dschihadistischer Islamismus auf: Juli 2009 Pogrom in Urumqui gegen Han-Chinesen mit 134 Toten (viele von ihnen brutal erschlagen); 2013 Selbstmordattentat auf dem Tienamen-Platz in Beijing mit einem SUV (3 Tote); 2014 Massaker am Bahnhof von Kunming, bei dem acht Attentäter 31 Passanten umbringen; Überfall auf ein Regierungs- und Polizeigebäude in Kashgar, bei dem 37 Zivilisten sterben; Überfall auf eine Kohlemine in Aksu mit 50 toten hanchinesischen Arbeitern. (Zu den Aktivitäten uigurischer Dschihadisten, deren Organisation ETIM von Al Quaida finanziert wurde, in Syrien, Indonesien, Thailand und Afghanistan s. Kronauer ebenda.) Auf das Pogrom in Urumqui reagierte China1 mit einem Einsatz seines Militärs, angesichts der sich wiederholenden Anschläge dann mit einer grundsätzlichen Änderung seiner Politik gegenüber den Uiguren. Zuvor hatte sich die Regierung in Beijing darauf verlassen, dass die ökonomische Entwicklung der Provinz (sprich: ihre kapitalistische In-Wert-Setzung, siehe Link) auf Dauer ein genügend großes „Integrations-Angebot“ auch an die bisher traditionell wirtschaftenden, zum Teil noch nomadisierenden Uiguren darstellen und die vorhandene Unzufriedenheit, die den Nährboden für die ethnisch-religiösen Konflikten darstellt, mindern würde. Mit den „Lagern“ setzt die chinesische Regierung nun offensichtlich auf eine Mischung von direktem Zwang und Angeboten: „Chinesische Stellen erklären stets, es handle sich um Einrichtungen, in denen Uiguren von ‚terroristischen und extremistischen Gedanken‘ abgebracht und zugleich in der Landessprache unterrichtet wie beruflich fortgebildet werden sollen; es gehe darum, dem uigurischen Terrorismus langfristig den Nährboden zu entziehen.“ (Kronauer)

Den Vergleich mit den Antiterror-Maßnahmen westlicher Staaten möchte ich an dieser Stelle den Lesern überlassen …

PS: Im Januar 2021 erfährt die Sache eine diplomatische Neuauflage: US-Außenminister Mike Pompeo hat China an seinem letzten Amtstag „Völkermord“ (!) an den Uiguren vorgeworfen und verlangt, dass die „kommunistische Führung zur Rechenschaft gezogen werden müsse“; sein Nachfolger Antony Blinken bestätigt bei seiner ersten (!) Pressekonferenz, dass ein „Genozid“ (!) an den Uiguren begangen werde. Der chinesische Außenamtssprecher sieht sich daraufhin bemüßigt, die Vorwürfe entschieden zurückzuweisen: „Ich werde das jetzt dreimal sagen, weil es wirklich wichtig ist: Es gibt keinen Genozid in China, es gibt keinen Genozid in China, es gibt keinen Genozid in China“, sagte der Pekinger Außenamtssprecher Zhao Lijian am Donnerstag.“2

Um ein letztes Beispiel aus der jüngsten Zeit zu bringen: China hat im Frühjahr 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, viele Staaten mit Atemmasken, medizinischer Schutzkleidung und Beatmungsgeräten ausgestattet und auch medizinisches Personal dorthin geschickt: Spanien, Italien, Serbien und viele andere. Die Kommentare hier enthielten durchgängig den Vorwurf, dass diese Hilfe nicht selbstlos stattfinde, China sich damit Freunde machen und davon ablenken wolle, dass die Pandemie ihren Ursprung in China hatte. Die Kritik „nicht selbstlos“ ist wirklich bemerkenswert. Welcher Staat leistet eigentlich selbstlos Hilfe? Wie sieht es im Fall der Bundesrepublik aus? Deutschland hatte Italien in seiner schlimmsten Krisenzeit den Export dringend benötigter medizinischer Schutzkleidung gestrichen und hat mit „Hilfe“ (demonstrative und von großer medialer Aufmerksamkeit begleitete Aufnahme einiger italienischer Corona-Patienten in deutschen Kliniken) erst begonnen, nachdem die Stimmung in diesen Ländern sehr anti-europäisch und anti-deutsch geworden war.

Zwischenfazit: Selektive Wahrnehmung, parteilich-missgünstige Vergleiche, deren Maßstab wie selbstverständlich das bei „uns“ Gültige, Übliche oder Erwünschte ist, kampagnenartige Wiederholungen – all das kennzeichnet ein veritables Feindbild. Die Verurteilung des chinesischen Staates als Fall von „bad governance“, als autoritäres „Regime“, hat vor allem die Funktion der Delegitimation eines lästigen Konkurrenten, gegen den man sich alle Maßnahmen vorbehalten will.51x

Nun ein paar Gedanken zu den deutschen Linken. Neben der Vorstellung, dass China immer noch als sozialistischer Staat einzuordnen sei, der sich international durch besondere Friedfertigkeit auszeichnen würde, existiert auch die kongenial entgegengesetzte Variante. Für diverse linke Gruppen ist China ein besonders abzulehnendes Staatswesen. Gewerkschaftler und Anarchisten haben ansonsten eine vermutlich eher kleine Schnittmenge; dass aber Chinas kapitalistisches System extra-ausbeuterisch ist und dass der chinesische Staat extrem repressiv auftritt – darin sind sie sich durchaus einig. Hier einige Überlegungen zu den Vorstellungen und Urteilen, die mir in diesem Zusammenhang begegnet sind.

a) China als besonders ausbeuterischer Kapitalismus

Natürlich werden in China Arbeiter_innen ausgebeutet – und zwar systematisch.

Die regierende KP hat schließlich ab 1978 kapitalistisches Wirtschaften durchgesetzt – kopiert hat sie dieses Prinzip übrigens vom Westen, der in diesem Fall kein geistiges Eigentum verletzt sah! China ist damit sehr spät in einen bereits fix und fertig organisierten Weltmarkt eingestiegen, den die erfolgreichen westlichen Staaten seit mehr als 150 Jahren durch die Ausbeutung ihrer Arbeiter_innen für das Wachstum ihrer Kapitale benutzt hatten (Ausplünderung der Kolonien inbegriffen!). Um westliches Kapital anzulocken, musste der asiatische Neueinsteiger vor allem zu Beginn (solange China selbst noch kein attraktiver Markt darstellte) besondere Angebote machen: Billigkeit seiner Arbeitskräfte, lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen.

Wer diese „Extra-Ausbeutung“ kritisieren will, hat insofern zwei Adressen: 1. den chinesischen Staat, der seine Leute als Sonderangebot für westliche Unternehmen herrichtet (siehe dazu Kapitel 2, 3, 4 und 5 in Teil 2 des Buchs) und 2. die hiesigen Kapitale und Staaten, die das mit Kusshand wahrgenommen haben.

Die letzteren haben sich dann übrigens mit Hinweis auf die von ihnen genutzten chinesischen Billiglöhne erpresserisch gegen das Lohnniveau und die sozialstaatlichen Standards in ihren westlichen Heimatländern gewandt und das Verhältnis von Lohn und Leistung in ihrem Sinne erfolgreich gesenkt. Und im Jahr 2008 haben sich vor allem US-amerikanische Firmen gegen ein chinesisches Arbeitsgesetz gestellt, das allgemeine Arbeitsverträge und Kündigungsschutz auch für die in Joint Ventures eingesetzten Wanderarbeiter vorsah.

An all dem wird vor allem eines klar: Die Vorstellung von „schlimmen“ und „weniger schlimmen“ kapitalistischen Unternehmen oder Staaten führt zu geistigen Irrwegen. Es ist vielmehr das eine und unteilbare Sachgesetz der kapitalistischen Konkurrenz, das bei den verschiedenen nationalen Standorten zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. Im Falle Chinas (wie übrigens durchgängig in der sog. Dritten Welt, die darum konkurriert, Ziel westlicher Kapitalinvestitionen zu werden) sind Billigkeit und relative Rechtlosigkeit seiner Arbeiter entscheidende Pluspunkte für die Anlageentscheidungen westlicher Kapitale. Mit der bitteren Konsequenz, dass der weltweite Zugriff auf billige Arbeitskräfte die Lage der westlichen (Industrie-)Arbeiter massiv verschlechtert: Entweder verlieren sie ihre Arbeitsplätze oder sie müssen Lohneinbußen/schlechtere Arbeitsbedingungen und Sozialstandards hinnehmen – diese Auswirkungen der „Globalisierung“ genannten Expansion des Kapitals sind in den entsprechenden Sozialstatistiken gut abzulesen.

Die Kritik an China sollte also m.E. nicht lauten, dass es ökonomisch etwas anderes (oder besonders „Schlimmes“) macht, sondern dass es dasselbe System eingeführt hat wie das, das hier bei uns herrscht! Die Kritik zielt auf das System, nicht auf das besondere Land China.

Übrigens: Wenn sich in diesem Kontext Staaten, die von diesem System seit 150 Jahren erfolgreich leben, und ihre bezahlten Journalisten, die nichts für Veränderung übrig haben, geschweige denn für Revolutionen, als Hüter der Menschenrechte aufspielen und „brutale Ausbeutung“ in China anprangern, dann sollten einige Alarmknöpfe losgehen …

b) China als besonders repressiver Staat

Linke sind in vielen Dingen nicht einverstanden mit dem deutschen Staatswesen; den chinesischen Staat aber finden die allermeisten von ihnen schlicht indiskutabel und auf alle Fälle wesentlich „schlimmer“ als den hiesigen. Und natürlich: In einem Vergleich der politischen Systeme schneidet der chinesische Staat schlecht ab. Er lässt keine freie Presse zu und erkennt den Wunsch nach einer institutionalisierten Opposition neben der regierenden Einheitspartei nicht an; sein Herrschaftspersonal wird – zumindest oberhalb der kommunalen Ebene – nicht über eine öffentliche Wahl zwischen mehreren Kandidaten bestimmt; er zensiert seine Bürger und ihre sozialen Medien, er gängelt sie – inzwischen sogar mit einem ausgeklügelten „Sozialkreditsystem“ –, sich an Gesetze und Anstand zu halten.

Auffällig ist, dass Feststellungen dieser Art gar nicht den Auftakt zu Fragen bilden – etwa danach, wie das politische System in China aussieht (denn die Feststellung, was es alles nicht gibt, stellt ja keine Auskunft darüber dar, wie politische Entscheidungen in der VR zustande kommen), ob es von der westlichen Demokratie nichts wissen will, was seine Gründe dafür sind usw. usf. Umgekehrt könnte man auch fragen, was die große Masse der Bevölkerung in den westlichen Staaten eigentlich davon hat, dass es in ihren Ländern all das gibt … Für all diese Fragen gibt es bemerkenswert wenig Neugier. Es sieht so aus, als sei das Resultat des Vergleichs – China sieht schlecht aus – bereits alles, was man wissen wollte. Nehmen wir den Vergleich trotzdem einmal ernst.

Ein solcher Vergleich unterstellt eine qualitative Gemeinsamkeit; es ist nicht schlecht, diese festzuhalten, bevor man sich den Differenzen widmet. Dafür ist zunächst einmal – auf der abstraktesten Ebene – festzuhalten, dass es sich in beiden Fällen um staatliche Gewaltmonopolisten handelt, die ihren Bürgern die kapitalistische Konkurrenz um Eigentum als die Art und Weise vorschreiben, in der sie ihre (Lebens-)Interessen verfolgen dürfen.

Die dabei notwendig auftretenden antagonistischen Gegensätze verwalten dann ebenfalls beide mit dem Ziel, ein möglichst großes Wirtschaftswachstum und einen möglichst großen Zuwachs an staatlicher Macht und staatlichen Machtmitteln zu erzeugen.

Angesichts dieser essenziellen Gemeinsamkeiten ist es nicht verwunderlich, dass Bürger, die sich um den Erwerb ihrer privaten Einkommen kümmern (müssen) und die das mehr oder weniger mühsam erworbene Geld anschließend für ihren privaten Konsum ausgeben, keinen wesentlichen Unterschied zwischen den „inkompatiblen Systemen“ sehen. Die große Masse der gesetzestreuen Menschen, die sich „nicht groß um Politik kümmern“ (wie hier wie dort viele von sich selbst sagen), gerät im Normalfall außer bei Verkehrsdelikten weder in Deutschland noch in China mit der Staatsgewalt aneinander; deutsche Touristen sind übrigens immer wieder erstaunt, wie „normal“ doch alles in China aussieht (während sie auf Basis der heimischen Informationspolitik an jeder Ecke das Arsenal des Unterdrückungsstaats erwarten).

Anders sieht es bei der Organisation des politischen Systems aus. Hier sind in der Tat Unterschiede in der Art und Weise zu erkennen, wie die westlichen Demokratien Herrschaft regeln und wie China es macht.

In den westlichen Demokratien ist – wiederum abstrakt gefasst – die Besetzung der politischen Macht als Konkurrenz mehrerer Parteien organisiert. Dieses Verfahren sorgt dafür, dass sich die verschiedenen und entgegengesetzten gesellschaftlichen Interessen äußern können und gleichzeitig am „Machbaren“ der alternativlos feststehenden Staatsräson (Wirtschaftswachstum/Staatserfolg) relativieren. Die „geteilten Gewalten“ Legislative und Jurisdiktion kontrollieren sich und die staatlichen Exekutivorgane daraufhin, ob die ausgeübte Macht pur und effektiv diesem Zweck dient. Die Presse berichtet über gesellschaftliche Missstände und klagt wechselnd Bürger, Unternehmer und Politiker als Verursacher an. Ihre Hauptbotschaft lautet, dass alles, was zu Unzufriedenheit führt (Armut, Lebensmittelskandale, Krisen, Klimawandel), nicht sein müsste, wenn sich nur jeder an seinem Platz verantwortungsbewusst verhalten würde – und ist darin so notorisch kritisch wie ungemein affirmativ. In China liegt die politische Macht in den Händen der Kommunistischen Partei. Sie hat die Hoheit über die Frage, wer die wichtigen Entscheidungen im Land treffen darf und welche gesellschaftlichen Interessen für Wirtschaftswachstum und Staatserfolg berücksichtigt werden. Um diese Frage zu beantworten, organisiert sie einen Meinungsbildungsprozess innerhalb ihrer, den „Staat tragenden“ Partei, mit ihren 90 Millionen Mitgliedern und den dazu gehörenden gesellschaftlichen Verbänden bzw. Organisationen (Bauern, Gewerkschaften, Unternehmer, Frauen etc.).

Sind dann die Entscheidungen in den obersten Gremien gefallen, ergehen sie in Form zentralstaatlicher Direktiven; Provinzen und nachgelagerte Entscheider nutzen dabei Spielräume zur eigenen Interpretation/Gestaltung (die nicht immer im Sinn des Zentralstaats sind). Von Journalisten/Autoren verlangt die KP, dass sie sich bei ihrer Berichterstattung und ihren Analysen klar auf den Standpunkt stellen, was zum weiteren Fortschritt von Wirtschaft, Partei und Staat beiträgt. Konstruktive Kritik ist erlaubt und erwünscht; Vorschläge für eine alternative Organisation ihres politischen Systems fallen allerdings nicht darunter – in diesem Sinne zensiert sie und verbietet Meinungen, mit denen sie ihre „Autorität“ unterminiert sieht.

Das sind in der Tat unterschiedliche Methoden, „Staat“ zu machen und eine kapitalistische Gesellschaft zu regieren (die hier nur abstrakt angedeutete Analyse wird in Teil 2 des Buchs, Kapitel 9, genauer und ausführlicher durchgeführt!).

Ihren Grund haben diese in unterschiedlichen historischen Ausgangspunkten: Die Durchsetzung demokratischer Prinzipien (Freiheit, Gleichheit, Eigentum) in den westlichen Ländern war das Mittel der freien Bürger gegen die alte Feudalordnung. Damit ist es diesen gelungen, ihr Interesse – Konkurrenz um Eigentum – zum herrschenden Prinzip der neuen „bürgerlichen“ Gesellschaft zu machen.

In China dagegen hat eine regierende kommunistische Staats-Partei ihr früher planwirtschaftlich organisiertes Land Stück für Stück in eine kapitalistische Wirtschaft transformiert, um damit Entwicklung und Aufstieg der chinesischen Nation zu befördern. Sie ist das Subjekt dieses Projektes – und sie will es bleiben, weil sie seinen Erfolg gegen Gefährdungen von innen und außen sicherstellen will.

Der Zusammenhang von Geschäft und Gewalt in China

Wer sich ernsthaft erklären will, warum die staatliche Gewaltanwendung in China oft härter und anders ausfällt als in den westlichen Demokratien und nicht mit Erklärungen zufrieden ist, die den Grund in Herrscherfiguren suchen (der aktuelle Staatspräsident Xi Jinping bspw. wird als besonders autoritäre Persönlichkeit gehandelt), muss seinen Blick auf das aktuelle Staatsprogramm richten.

Die Einführung des Kapitalismus in China beinhaltet nicht weniger als die erneute Einführung einer Klassengesellschaft: Es gibt nun diejenigen, die fremde Arbeitskraft erfolgreich anwenden, deren Leistungen aneignen und seitdem gut davon leben (darüber handelt Kapitel 7 im zweiten Teil des Buchs). Für die meisten anderen aber gilt: Sie haben in den letzten Jahren ihre alten, vielleicht bescheidenen, aber doch zumindest überlebenstauglichen Ansprüche als sozialistische Bauern oder Werktätige verloren und sind in eine Freiheit der Konkurrenz geworfen, für die sie keine Mittel haben; für sie wird „das Leben“ wieder – wie weltweit üblich – ein „Kampf“.

Dieses Programm ist der Sache nach eine gewaltsame Angelegenheit, weil damit die Freiheit der Konkurrenz um Eigentum in diesem Land etabliert wird.

Zugespitzt könnte man sagen: Gerade weil in China Freiheit durchgesetzt wird (Freiheit des Eigentums), ist so viel Zwang notwendig. Überall werden gesellschaftliche Gegensätze der härteren Art aufgeworfen (es ist eben nicht so, dass die staatliche „Unterdrückung“ vorwiegend bei den Künstlern und Journalisten zuschlägt – wie es sich die Linken oft vorstellen). Beispiele: Bauern werden gezwungen, die Enteignung des ihnen vorher zugesprochenen Landes zugunsten von Gewerbeflächen anzuerkennen; Anwohner sollen die Existenz einer giftigen Chemie-Fabrik und die für deren Rentabilität notwendige Verseuchung der Flüsse akzeptieren, Wanderarbeiter rebellieren wegen nicht gezahlter Löhne usw. usf. Das ist der Grund dafür, dass der Einsatz staatlicher Gewalt gegenüber dem Volk im Zuge der flächendeckenden Ausbreitung marktwirtschaftlicher Prinzipien nicht geringer geworden ist, sondern ganz im Gegenteil stetig zugenommen hat – ein Zusammenhang, den die Freunde der Marktwirtschaft nie so gern erkennen wollen: Wie notwendig Gewalt zu dieser Produktionsweise gehört, in der um Eigentum konkurriert wird! Wenn westliche Stimmen bedauern, dass in China „trotz wirtschaftlicher Öffnung keine politische Liberalisierung“ zu verzeichnen sei, würden chinesische Politiker insofern antworten, dass das gerade wegen der wirtschaftlichen Öffnung und ihren Risiken innen wie außen nicht sein könne (vgl. dazu das Kapitel zum „Jahr 1989“ im zweiten Teil des Buchs). Die erste Option der chinesischen Führung angesichts zunehmender Beschwerden (die Zahl der Arbeitskonflikte und anderer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen steigt rapide an), besteht im Niederschlagen dieser Proteste, wo immer sie sich rühren. Auf der anderen Seite versucht die Beijinger Zentralregierung zu unterscheiden, wo die Beschwerden ökonomischen oder politischen Zuständen gelten, die sie selbst als dysfunktional einstuft (Fälle von Sklavenarbeit will sie z. B. nicht haben in ihrem Land und hat selbst eine Pressekampagne dagegen gestartet. Oder die Fälle von unrechtmäßiger Enteignung von Bauern durch ihre eigenen Parteifunktionäre, die sie als „Korruption“ verfolgt; usw.).

Sie versucht also, allgemein gesagt, systemnötige von unnötiger, bloß „persönlicher“ Brutalität bzw. illegaler „Habsucht“ zu trennen. Solche Versuche haben allerdings notwendig den Charakter eines Kampfs gegen Windmühlen. Schließlich sind die „Auswüchse“ die Konsequenzen eines Prinzips – Produktion für Profit –, das ausdrücklich von der Regierung selbst gewünscht ist und das deshalb immer wieder (und natürlich nicht nur in China! Man denke an die deutschen Schlachthof-Arbeiter!) diese Art von „Skandalen“ hervorbringen wird.

Auf die unvermeidlichen Verwerfungen bei der Einführung der kapitalistischen Staatsräson und auf ihre hässlichen Dauerphänomene deuten die westlichen Kritiker mit ihrem menschenrechtlichen Zeigefinger und rühmen sich ihrer „Zivilgesellschaften“.

Es ist allerdings so, dass die westlichen Staaten ihren Weg hin zu „etablierten Weltmächten“ sicher nicht mit den sprichwörtlich „gewaltfreien Diskursen“ gemacht haben. Sie haben erstmals ganze Arbeitergenerationen verschlissen und Widerstand aller Art, Klassenkampf, regionalen Separatismus usw. gewaltsam niedergemacht; dann haben sie sich nach langen Kämpfen, in denen sie die Protagonisten von Gewerkschaften, SPD und Kommunisten verfolgt und kaltgestellt haben, ein paar Rücksichtnahmen auf die Arbeiter und deren Lebensnotwendigkeit als funktionale Maßnahmen zur effektiven Indienstnahme des Proletariats einleuchten lassen, um heute, wo die angefeindete „Systemalternative“ nicht mehr existiert, ihren Sozialstaat von allen „unnötigen Kosten“ zu befreien oder ihn selbst zur Geschäftssphäre umzugestalten. Von Kriegen, faschistischen Sonderetappen und deren erzieherischer Wirkung auf die Arbeiterklasse gar nicht zu reden. Politisch sind Geheimdienste, Partei- und Berufsverbote, die Verfolgung und Drangsalierung abweichender Standpunkte und Personen etc. in den menschenrechtlich perfekten Demokratien fest beheimatet. Wenn auf dieser Basis alles fest im Griff der Herrschaft ist und auch die Beherrschten im Staat die unerlässliche Bedingung ihrer zur Konkurrenz genötigten Existenz begreifen, sodass sie sich als Patrioten für den Erfolg der Nation interessieren, gibt es tatsächlich Wahlen und Meinungs- und Pressefreiheit! Und letztere funktioniert tatsächlich auch noch ganz von selbst und viel besser als jede Zensur. So nämlich, dass sie politische Einreden, die nicht die konstruktive Sorge um den Erfolg der Nation zum Inhalt haben, wie von selbst als nicht befassungswürdig totschweigt oder ins Leere laufen lässt – von gestern, unrealistisch, utopisch … heißt es dann.

Das theoretisch Unlautere an den entsprechenden Vorwürfen an die Adresse Chinas ist ein sehr schräger Vergleich: Die eine Seite des Vergleichs betrifft ein Land, das damit befasst ist, mit aller dafür nötigen Gewalt den Maßstab kapitalistischer Gewinnproduktion zur gültigen gesellschaftlichen Maxime zu machen und die dazu passende Zentralgewalt herzustellen. Die andere sind Staatswesen, die genau das die letzten 200 Jahre mit aller Härte durchgesetzt, ihre Gesellschaften von A – Z gleichgeschaltet und jede Art von Interessenverfolgung auf sich, ihr Recht und ihr demokratisches Procedere verpflichtet haben und die zu Nutznießern der von ihnen geschaffenen Weltordnung samt ihres Weltmarkts geworden sind. Deren Propagandisten rechnen China die notwendigen Gewaltakte seiner „ursprünglichen Akkumulation“ vor, die ihre Staaten so erfolgreich schon lange hinter sich gebracht haben – das ist ebenso selbstgerecht wie verlogen.

Soviel in aller Kürze zu Gemeinsamkeit und Unterschied dieser beiden Varianten kapitalistischer Staaten. Die Vergleiche, die üblicherweise angestellt werden, sind anderer Art. Die Gemeinsamkeit kommt gar nicht erst in den Blick; stattdessen vermisst man am chinesischen Staat alles (angeblich) Wesentliche: Wahlen, Parteien, Opposition 52, freie Presse, Demonstrationen etc. Das Interessante: Die Messlatte dieses Vergleichs liegt – ebenso selbstverständlich wie selbstbewusst – „bei uns“, im politischen System der westlichen Länder.

Einerseits ist das die bornierte Art, in der Nationalisten immer über „das Eigene“ und „das Fremde“ urteilen. Andererseits haben die westlichen Nationen ihre historisch besondere Art der Herrschaftsorganisation von Anfang an als universelles Prinzip deklariert: Menschenrechte. Ausgerechnet diese harte Anmaßung wird überhaupt nicht als solche wahrgenommen – ganz im Gegenteil. Auf dem Feld der Menschenrechte in China (!) finden Linke und deutsche Politik ganz gut zusammen, auch wenn sie Verschiedenes meinen.

Politiker in den westlichen Erfolgs-Staaten sind nämlich (im Unterschied zu Journalisten und Linken) keine Demokratie-Idealisten; das ist unschwer daran zu erkennen, dass sie problemlos mit Autokraten und Diktatoren zusammenarbeiten und, solange diese Zusammenarbeit klappt, menschenrechtliche Verbesserungen und bürgerrechtliche Reformen kein Anliegen ihrer Außenpolitiker und Diplomaten darstellen.53 Diese Überlegung führt zur Rolle der Menschenrechtsdiplomatie im Verhältnis zu China. In diesem Fall hat man es mit einem Staatswesen zu tun, auf das die westliche Außenpolitik wenig Einfluss hat. China ist nicht eingeordnet in die westlichen Allianzen, steht westlichen Initiativen distanziert und frei kalkulierend gegenüber und verfolgt seine eigenen Anliegen „mit zunehmendem Selbstbewusstsein“, wie die hiesige Presse etwas verärgert feststellt. Anders formuliert: In diesem Land vermisst man die üblichen Einflussmöglichkeiten für westliche Interessen. NGOs54 werden inzwischen von den chinesischen Behörden registriert und in ihren Aktivitäten kontrolliert; es gibt keine oppositionellen Parteien oder Gruppierungen, die man fördern oder bestechen könnte, um den eigenen Interessen Einfluss zu verschaffen, kurz: es herrscht „Betonkommunismus“. Das zu durchbrechen und über Kanäle, wie sie in anderen Ländern üblich sind, den westlichen Berechnungen einen Weg in den politischen Betrieb der Volksrepublik zu bahnen – das ist der tiefer liegende Kern der westlichen Menschenrechts-Bemühungen.

Davon wollen Linke allerdings nichts wissen, wenn sie sich mit ihrer Regierung gegen den „gruseligen“ chinesischen Staat zusammenschließen. Sie werfen der Politik höchstens vor, dass sie sich in ihrem Kampf für Menschenrechte mal wieder durch miese ökonomische Berechnungen bremsen lässt. Und die ehemals friedensbewegten Grünen machen mit Menschenrechts-Vorwürfen zurzeit den ideologischen Vorreiter im neuen Kalten Krieg gegen die Volksrepublik. Da kommt für sie ganz ideal viel zusammen: Sie beweisen realpolitischen Durchsetzungswillen, und treten gleichzeitig im Namen höchster Werte an – gegen ein Land, das dem deutschen Ehrgeiz in Sachen Weltgeltung erheblich zu schaffen macht.

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