Buch lesen: «China – ein Lehrstück», Seite 10

Schriftart:

Kapitel 4
Prinzipien staatlich geplanter Wertproduktion und ihre praktische Umsetzung: Ein Fehler und viele Widersprüche

Auf dem Land gerät die Bodenreform sehr bald in eine Krise. Die kleinbäuerlichen Eigentümer bleiben im Zustand bloßer Subsistenzwirtschaft, immer knapp an der Grenze zum Verhungern. Ein Grund dafür liegt gerade im relativen Erfolg der Anfangsjahre im Hinblick auf Ernährung, medizinischen Fortschritt und Sicherheit der Lebensumstände: Die Kindersterblichkeit geht drastisch zurück, die Lebenserwartung steigt, Seuchen und Kriege, die zuvor ganze Generationen dezimiert haben, bleiben aus. Das damit einhergehende Bevölkerungswachstum droht nun seinerseits, die Erfolge zunichtezumachen. Dabei macht sich zunehmend auch der Umstand bemerkbar, dass die bloße Neuaufteilung des Landes an die Bauernfamilien natürlich nicht wie von selbst einhergeht mit einer Steigerung der Produktivität. Die dafür notwendigen Mittel (Traktoren etc.) sind nicht vorhanden, ebenso wenig wie eine Industrie, die sie herstellen könnte. Mittel, die ihre Landwirtschaft wenigstens auf kleiner Stufenleiter ergiebiger machen (besseres Saatgut, Zugtiere, Düngemittel) können sich die wenigsten leisten – das private Eigentum wirkt dabei als Schranke, weil die kleinen Bauern auf eigene Rechnung und im Rahmen der in Kraft gebliebenen Geldwirtschaft produzieren. Von dem sowieso schon kümmerlichen Resultat der bäuerlichen Produktion verlangt der sozialistische Staat per Steuern und Naturalabgaben einen Teil, den er für Ernährung und Kleidung seines städtischen Proletariats braucht. Als Folge setzen bereits Anfang der 1950er Jahre erste Wellen von Notverkäufen der in der Bodenreform zugeteilten Äcker ein; ansatzweise bilden sich erneut Großgrundbesitz und Lohnsklaverei auf dem Land.

Deshalb treibt die kommunistische Regierung nun genossenschaftliche Zusammenschlüsse voran. Angesichts der beschränkten materiellen Ausgangsbedingungen sollen so mit einfacher Kooperation der Arbeitskräfte und gemeinsamer Nutzung von Tieren und Arbeitsmitteln bessere Ergebnisse erzielt werden. Wegen ihrer Erfahrungen aus der Bürgerkriegsphase und auch mit Blick auf das Desaster der Zwangskollektivierung in der frühen Sowjetunion wird in dieser Phase noch viel Wert auf Einsicht und Freiwilligkeit gelegt. Die ersten Genossenschaften arbeiten auf Basis des eingebrachten Eigentums, das erhalten bleibt und dessen Nutzung den Bauern ebenso vergütet wird wie ihre individuelle Leistung. Die Genossenschaften erhalten zudem staatliche Kredite und Hilfe durch Unterweisung in Agrartechnik; so wird den nicht-genossenschaftlich weiter wirtschaftenden Bauern vor Augen geführt, wie nützlich und vorteilhaft sich ein Zusammenschluss auswirkt. Zudem tritt der Staat als größter Auf- und Verkäufer der wichtigsten Agrarprodukte auf, vor allem von Getreide. Damit will er der wieder aufflammenden Spekulation und Preissteigerung die Grundlage entziehen; andererseits sollen die Bauern über garantierte Aufkaufpreise zur Produktion angeregt und Bauern und Städter über die staatlichen Verkaufspreise mit lebensnotwendigen Getreiderationen versorgt werden.

Im nicht-staatlichen Bereich von Industrie und Handel sieht sich die kommunistische Regierung damit konfrontiert, dass das private Gewinnstreben, das sie den kleinen und mittleren Kapitalisten gestattet, keineswegs dazu führt, dass diese sich »staatsnützlich« verhalten und das produzieren, was am nötigsten gebraucht wird. Die private Industrie verkauft ihre Produkte am freien Markt, statt staatliche Aufträge zu erfüllen; der Handel unterläuft die staatliche Planung, indem er Waren aufkauft und zu Spekulationszwecken hortet, etc.

Die staatlichen Industrie- und Handelsbetriebe sind bereits unmittelbar in die Planung einbezogen. Sie werden sukzessive direkt dem Industrieministerium unterstellt und arbeiten nach zentralen Direktivziffern. Andererseits müssen sich diese Betriebe aber auch noch auf eine ökonomische Umwelt mit ihren ganz anders gearteten Kalkulationen beziehen, zu denen ihre sozialistische Rechnungsführung überhaupt nicht passt.

An all diesen Phänomenen bemerken die chinesischen Kommunisten zunehmend, dass privat- und staatskapitalistische Wirtschaft nicht sonderlich gut zueinander passen – auch wenn sie sich viele der aufkommenden Widersprüche weniger ökonomisch als moralisch erklären: Den Beteiligten soll es schlicht am guten Wille fehlen, sie halten an ihren alten »egoistischen« Manieren fest, statt sich dem neuen gemeinsamen Aufbruch zur Verfügung zu stellen. Praktisch ziehen sie aus der Situation jedenfalls den Schluss, dass der sozialistische Staat seinen Einfluss auf die Ökonomie so weit wie möglich verstärken muss: »Blindheit und Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft wurden zum größten Hindernis für den Staat, den sozialistischen Aufbau planmäßig durchzuführen.« (BR: 119)

1953 wird der erste Fünfjahresplan aufgelegt, in dem China eine gesamtwirtschaftliche Planung nach dem Vorbild der Sowjetunion einführt. Er weist zwei Hauptmerkmale auf:

 Die Verstaatlichung in allen Branchen und dem Handel wird massiv vorangetrieben: »1956 war der Anteil der staatlichen, genossenschaftlichen und der gemischt staatlich-privaten Wirtschaft am gesamten Nationaleinkommen von 21,3% 1952 auf 92% gestiegen« (BR: 225), sodass der chinesische Staat die meisten Unternehmen in seinen Plan einbeziehen und über seine staatlichen Großhandelsunternehmen als sozusagen dominanter Marktteilnehmer entscheidenden Einfluss auf die meisten Preise ausüben kann. Im Rahmen der Verstaatlichung werden Vermögen, Aktien und Schulden der Unternehmen »gerecht und wahrheitsgemäß« taxiert; von 1956 bis in die 1980er Jahre zahlt die Volksrepublik an über eine Million Unternehmer- und Aktieninhaber feste Kapitalzinsen als Ausgleich für ihre Enteignung; die ehemaligen Unternehmer und ihre leitenden Angestellten werden »nach Möglichkeit« in ihren alten Betrieben weiterbeschäftigt.

 Wie in der Sowjetunion soll der Ausbau der Schwerindustrie im Mittelpunkt stehen. Die chinesischen Kommunisten wollen, dass ihr sozialistischer Staat möglichst bald über die Fähigkeit verfügen soll, die »wesentlichen« modernen Güter selbst herzustellen. Deshalb ist es für sie ganz selbstverständlich, den Aufbau einer Schwerindustrie in den Mittelpunkt der staatlichen Planung zu stellen und damit den gleichen Weg einzuschlagen wie zuvor Stalin.

Klar ist, dass die sozialistischen Planungsbehörden angesichts der vorgefundenen Verhältnisse vor einem ziemlichen Dilemma standen. Die unproduktive Landwirtschaft wirft nicht die Mittel ab, mit denen eine Schwerindustrie aufgebaut werden kann – umgekehrt fehlt die Schwerindustrie, um die Produktivität der Landwirtschaft zu steigern. Wenn der erwünschte schnelle Fortschritt beim industriellen Aufbau nicht gegen die Lebensbedürfnisse der bäuerlichen Massen, auf Kosten ihrer Versorgung und mit den Mitteln ausufernder Arbeitseinsätze erzwungen werden soll, sind die Alternativen bescheiden. In Anbetracht fehlender Mittel und angesichts dessen, dass ein sozialistisches Land wenig Hilfe zu erwarten hat (oder in Anspruch nehmen will), ist nur eine langsame Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktivität möglich. Kunstdünger, kleine Landwirtschaftsmaschinen, Werkzeuge, einfache Transportgeräte usw., Erzeugnisse also, mit denen die vorgefundene mangelhafte Produktivität der Landwirtschaft zunächst einmal auf gegebenem Niveau verbessert werden könnte, wären in den Mittelpunkt der Planung und der Mittelzuweisung zu stellen.40 An diesem Bedarf der Landwirtschaft hätten sich auch die jeweils möglichen (schwer-)industriellen Aufbau-Projekte zu orientieren. Insgesamt – darüber müssten sich alle Beteiligten klar sein – wäre ein solches Programm eine mühselige und durchaus langwierige Angelegenheit.

Dieses Dilemma – dass sich gerade wegen der Lebensinteressen der beteiligten Menschen Fortschritt und Tempo der erwünschten Industrialisierung verlangsamen können – ist für die chinesischen Kommunisten offensichtlich kein Anlass für eine ernsthafte interne und schon gar nicht für eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung gewesen. Für sie scheint die Notwendigkeit eines bevorzugten Aufbaus der Schwerindustrie, an der sich sämtliche Entwicklungsalternativen relativieren müssen, von vornherein festgestanden zu haben. Dass die 156 sowjetischen Projekte, die Stalin China nach und nach zugestanden hat (Ölförderanlagen, Fahrzeug- und Flugzeugbau, Rüstungsfabriken) einen großen Teil ihres Akkumulationsfonds beanspruchen (51,5% der gesamten geplanten Industrieinvestitionen des 1. Fünfjahresplans, die aus Landwirtschaftssteuern und Gewinnen der staatlichen Betriebe finanziert werden), nehmen sie in Kauf. Ebenso, dass diese Anlagen mit ihrem hohen technischen Stand gar nicht recht zum sonstigen chinesischen Produktivitätsniveau passen und vergleichsweise wenig Arbeitskräfte benötigen, was in dieser Phase des industriellen Aufbaus nicht unbedingt günstig ist.41 Die staatlichen Berechnungen lassen einer alternativen Entwicklungsplanung, die mehr Rücksicht auf die Masse der Produzenten nimmt und eine schnelle Verbesserung von deren Lebensumständen ins Zentrum der Entscheidungen und Mittelvergabe stellt, keine Chance.

Prinzipien der staatlich geplanten Produktion

Mit seiner Planung will der sozialistische Staat – als Voraussetzung gesamtgesellschaftlicher Versorgung, gerechter Verteilung und nationaler Entwicklung – eine Produktion von Reichtum, die das gesamte Volk einbezieht sowie verlässlich und durch technische Revolution beschleunigt wächst. Diese sozusagen alles weitere bedingende Bedingung erscheint ihm zu wichtig, als dass er sie dem Zufall privater Berechnungen überlassen möchte.

In den genannten Punkten grenzen sich sozialistische Staaten eindeutig vom Programm bürgerlicher Staatsgewalten ab. Letztere setzen mit dem Eigentum die Freiheit ihrer Gesellschaft in Kraft, mit privatem Egoismus nach Wohlstand zu streben. Die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums42 ist – mit wenigen Ausnahmen – das Abfallprodukt privater Gewinnrechnungen; ebenso ist die individuelle Konsumtion wie der dafür nötige Gelderwerb reine Privatsache. Die bürgerliche Staatsgewalt betreut dieses ökonomische Treiben ihrer Bürger, indem sie die Gültigkeit des Rechts garantiert, ein staatlich emittiertes und umsorgtes Kreditgeld zur Verfügung stellt und sich um nötige Voraussetzungen kapitalistischen Produzierens kümmert, von der Ausbildung der Arbeitskräfte bis zu ihrer sozialstaatlichen Verwaltung, von der Infrastruktur über Kommunikationsmöglichkeiten bis hin zum Außenhandel. Durch die Erhebung von Steuern partizipiert sie am Wachstum des in ihrer Gesellschaft produzierten Geldreichtums, das sie mit aller Macht fördert – ist aber selbst nicht dessen Subjekt.

Der sozialistische Staat erklärt demgegenüber Produktion wie Konsumtion zur unmittelbar gesellschaftlich zu regelnden Angelegenheit und damit zu einer Aufgabe, die direkt seiner Aufsicht und Kontrolle unterliegt. Der unter seiner Obhut produzierte bzw. zu produzierende Güterreichtum interessiert ihn in doppelter Hinsicht:

a) Er begutachtet die Güter unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlich erwünschten Funktion im arbeitsteiligen Zusammenhang

– für die produktive Konsumtion (wie viel Stahl? Energie? Kohle?)

– und individuelle Konsumtion (wie viele Lebensmittel? Wohnungen?)

b) Er registriert die geschaffenen Güter als Warenansammlung, die insgesamt eine in Geld gemessene Wertsumme repräsentiert, deren Zuwachs – Wachstum abstrakten Reichtums – angestrebt wird.

Und er setzt seine Macht dafür ein, dass Bauern und Betriebe die von ihm gewünschten Resultate in beiden Hinsichten, gebrauchswert- wie wertmäßig, zustande bringen.

Der staatliche Plan schreibt den staatlichen Unternehmen einen (stetig wachsenden) Bruttoproduktionswert vor, den sie erzielen sollen, und legt Art und Menge der von ihnen herzustellenden Produkte fest; den Betrieben wird eine bestimmte Belegschaftsgröße zugestanden; die insgesamt zu zahlende Lohnsumme und ihre jährliche Steigerung sind ebenso vorgegeben wie eine Kostensenkungsrate. Investitionen müssen von höherer Stelle genehmigt werden; ein Anstieg der Arbeitsproduktivität ist vorgeschrieben, ebenso das Erzielen eines Gewinns, der an den Staat abzuliefern ist.

»Bis 1957 wurden den Betrieben folgende zwölf Kennziffern vorgegeben:

 als naturalwirtschaftliche Kennziffern (in stofflichen Einheiten):die Produktionsmengen der Hauptproduktedie Gesamtzahl der Beschäftigten (vermutlich im Jahresdurchschnitt)die Gesamtzahl der Beschäftigten am Jahresendetechnisch-ökonomische Normen (Verbrauchsnormen, Nutzungskennziffern der Produktionsmittel u.a.m.)die versuchsweise Produktion neuer Erzeugnisse

 als finanzwirtschaftliche Kennziffern (in Wertgrößen):die Bruttoproduktion des Betriebesder Gewinndie prozentuale Kostensenkungdie absolute Kostensenkungdie Lohnsummeder Durchschnittslohndie Arbeitsproduktivität.«

Kosta/Meyer 1976: 67

Die einzelnen Bestandteile der Planvorgaben machen deutlich, um welche Korrektur an der kapitalistischen Produktion es dem sozialistischen Staat zu tun ist. Der produzierte Reichtum soll stetig und beschleunigt wachsen, als Produktmenge wie als Wertmasse. An der Produktion soll nach Möglichkeit die gesamte arbeitsfähige Bevölkerung beteiligt werden: Weder soll es eine Klasse geben, die ihr Leben auf Kosten anderer bestreitet (und damit vom Standpunkt der Gesamtgesellschaft aus ohne eigene produktive Leistung), noch sollen diejenigen beschäftigungslos bleiben, die von ihrer Arbeit leben müssen, es aber unter den bisherigen Verhältnissen nicht können. Den Arbeitern, die den gesellschaftlichen Reichtum schaffen, soll ein verlässlicher Lohn zufallen, der mit den Fortschritten der Produktion wächst; die Arbeit selbst soll rationeller organisiert, verschwenderischer Umgang mit Rohstoffen, Maschinen etc. eliminiert werden, so sollen – als Dauerprogramm – »unnötige« Kosten gespart werden; die Produktivität der Arbeit soll ebenso beständig wachsen wie der Gewinn, den der Betrieb an den staatlichen Haushalt überweisen kann, um den weiteren sozialistischen Aufbau zu finanzieren.

Insgesamt zielt die »Sozialisierung« der Betriebe also darauf, die als »verschwenderisch« wahrgenommenen Momente kapitalistischer Produktion – die Bereicherung der privaten Eigentümer sowie der Nicht-Gebrauch erheblicher Teile der Arbeitsbevölkerung – ebenso zu eliminieren wie die »ungerechte« Ausbeutung der Arbeiter: Unter staatlicher Aufsicht soll die gesamte Produktion effektiver und gerechter laufen.

Gerecht – das bedeutet für die in den staatlichen Unternehmen beschäftigten Lohnarbeiter: Ihre Löhne sollen den Produzenten einen gerechten Anteil an dem, was gesellschaftlich hergestellt wird, bescheren – auch wenn es sachlich ein solches Entsprechungsverhältnis gar nicht gibt. Die sozialistische Regierung hat nicht den Standpunkt, die Löhne ihrer Arbeiterschaft nach Möglichkeit zu »drücken« und nötigt ihr auch nicht einen jedes Jahr neu zu führenden Kampf um ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Reichtum auf. Ganz im Gegenteil, zu diesen aus der kapitalistischen Marktwirtschaft bekannten Sitten plant der sozialistische Industrieminister ein vielleicht bescheidenes, aber ständiges Steigen der Löhne aus freien Stücken direkt mit ein. Andererseits tauchen die Löhne in den betrieblichen Bilanzen doppelt auf. Sie existieren schließlich auch als Kosten und schlagen in dieser Eigenschaft negativ zu Buche – sie addieren sich zu den übrigen Posten, die für die Produktion nötig sind (Gebäude, Maschinerie, Rohstoffe). Den Lebensunterhalt ihrer Produzenten definiert insofern auch die sozialistische Finanzbuchhaltung als Abzug vom zu erwirtschaftenden Gewinn – so schreibt sie den Gegensatz der Betriebs- bzw. staatlichen Bilanzen zu dem Posten, der den Lebensunterhalt der Produzenten, ihren Anspruch auf Teilhabe am von ihnen hergestellten Reichtum beinhaltet, prinzipiell fest. Statt der Lohnkostenkalkulationen kapitalistischer Unternehmer ist es jetzt der sozialistische Staat, der mit seiner Wachstumsvorschrift einen neuen, systemeigenen Grund für einen stetigen Gegensatz zwischen Betriebs- und Arbeiterinteresse, sowohl nach der Seite des Lohns wie der Leistung, erzeugt.

Auch in den staatseigenen Betrieben, die nach sozialistischer Rechnung geführt werden, organisiert die Zahlung von Lohn damit ein Produktionsverhältnis, in dem die Lohnarbeiter von der Verfügung über den von ihnen produzierten Reichtum ausgeschlossen sind. Eine mit ihrem Lohn und ihrer Arbeitsleistung in Gang gesetzte Wertproduktion ist die Basis dafür, dass erstens möglichst viel Reichtum produziert wird – weshalb die sozialistische Ökonomie ganz prinzipiell auf dem Standpunkt steht, dass sich möglichst alle Mitglieder ihrer Gesellschaft produktiv betätigen sollen. Mit dem »Recht auf Arbeit« verknüpft die sozialistische Ökonomie also auch so etwas wie eine »Pflicht zur Arbeit«. Darin reproduziert der Sozialismus einerseits das kapitalistisch absurde Verhältnis von Arbeit und Ertrag, das im »Wert« als Maß des Reichtums steckt.43 Chinas Ökonomie der ersten Jahre nach 1949 leidet andererseits geradezu am umgekehrten Phänomen: Sowohl auf dem Land wie in den Städten gibt es nicht genügend Betätigungsmöglichkeiten für alle, die Arbeit und darüber Verdienstmöglichkeiten suchen. Die im Land herumreisenden ausländischen Delegationen berichten, dass überall Leute herumstehen oder eher herumlungern, die mit vergleichsweise unanstrengenden, im Grunde aber auch ziemlich unsinnigen Tätigkeiten beschäftigt sind (fegen, wischen, Türen halten, große Zahlen von Zimmermädchen in Hotels usw.). Das drückt aus, dass am prinzipiellen Zusammenhang von Arbeit und Lebensunterhalt festgehalten und dieser sozialistisch modifiziert wird: Den aktuell überflüssigen wird ihre ärmliche Verdienstquelle nicht gestrichen. Von ihren unsinnigen Beschäftigungen befreit, nach Hause geschickt und schlicht mit ernährt werden sie aber auch nicht – hier gilt der moralische Fundamentalismus, dass jeder für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten hat.

Zweitens wird den Werktätigen dann nach Maßgabe staatlicher Abwägungen ein Anteil an diesem Reichtum zugestanden. Das schlägt sich in der staatlichen Preispolitik nieder, die die Entlohnung der Arbeiter komplettiert. Niedrige Preise für Lebensmittel und Wohnungen sorgen dafür, dass die gezahlten Löhne den Arbeitern und ihren Familien zum Leben reichen, statt dass wie bisher das Lebensnotwendige infolge von Inflation und Spekulation unerschwinglich und das Leben der Arbeiterschaft zum dauerhaften Kampf gegen das Verhungern gerät. In den staatlichen Betrieben der Volksrepublik kombiniert sich das mit lebenslanger Arbeitsplatzgarantie zu dem berühmt gewordenen Bild von der »eisernen Reisschüssel«, in dem in aller chinesischen Anschaulichkeit das Niveau klar wird, auf dem die Garantieleistungen für einen sozialistischen Arbeitsplatz angesiedelt sind.44 Mit den ökonomischen Fortschritten wachsen die sozialen Leistungen der staatlichen Betriebe. Sie werden in der VR mit dem Begriff »Danwei« umschrieben. Zu einer guten Danwei zu gehören, gilt als gesellschaftliches Privileg; deren flächendeckender Ausbau umgekehrt als sozialpolitisches Ziel der Volksrepublik. Ihr Kennzeichen ist »als erstes die Verantwortung für Familienplanung und Geburtenkontrolle, Eheregistrierung und Ehescheidung. Ein zweites Ziel besteht in der Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Drittens hat sie Bildungsaufgaben zu erfüllen, und viertens übernimmt sie zahlreiche Aufgaben in den Bereichen soziale Sicherung und soziale Wohlfahrt sowie im Dienstleistungsbereich. Hierzu zählen vor allem die Alters-, Kranken und Unfallversicherung und die Bereitstellung von Wohnraum, aber auch vielfältige Subventionen und Beihilfen. Darüber hinaus stellt die Arbeitseinheit kollektive Einrichtungen bereit, angefangen von Kantinen, Kindergärten und Badehäusern bis hin zu Kureinrichtungen und Sanatorien.« (Staiger 2000: 194)45

Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (später die Volkskommunen) Chinas funktionieren als ökonomische Einheiten im Prinzip wie die staatseigenen Betriebe. Sie werden zur Ablieferung bestimmter Produktionsmengen verpflichtet, für die sie staatlich festgelegte Preise erhalten; jede Genossenschaft oder Volkskommune führt einen Teil ihrer Gewinne als Steuern ab. Nach innen arbeiten sie relativ autark: Sie planen ihre Produktion und die dafür notwendigen Vorarbeiten selbst; sie verkaufen ihre Produkte (an die staatlichen Handelsgesellschaften oder andere Produktionsgenossenschaften) und entscheiden über die Verwendung ihrer Gewinne (Ankauf von Pumpen, Traktoren etc.). Die Mitglieder der Produktionseinheiten legen über ein Arbeitspunktesystem zusammen fest, wie hoch der Lohn eines jeden gerechterweise ausfällt. Dabei zählen Kraft (Männer können schwerer arbeiten als Frauen), Kenntnisse und Einsatzbereitschaft. (Vgl. dazu Bettelheim/Macciocchi 1969: 76ff.) Alte, Alleinstehende und Kranke werden vom jeweiligen Kollektiv mitversorgt.

Effektiver soll die Produktion der sozialistischen Betriebe gleich in mehreren Hinsichten sein. Erstens entfällt die private Bereicherung der bisherigen Eigentümer; die erwirtschafteten Gewinne sollen ab sofort ungeschmälert dem sozialistischen Staat zur Verfügung stehen, der damit die Entwicklung des Landes und weitere gesamtgesellschaftliche Verteilung in Angriff nehmen kann. Zweitens – so die Annahme der Sozialisten – fallen die aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit herrührenden »Reibungsverluste« in den Fabriken selbst weg. In einem Betrieb, der »dem Volk« gehört, interessiert sich eben dieses Arbeitsvolk selbst für einen adäquaten Umgang mit »seinen« Maschinen, Rohstoffen etc. und hat ein eigenes Interesse an Ablauf und Ziel der Produktion, weshalb Stechuhr, Aufseher usw. sowie die dafür nötigen Kosten ebenso der Vergangenheit angehören wie Streiks als Mittel von Lohnkämpfen.

Drittens soll der sozialistische Plan die Produktion gesamtgesellschaftlich rationalisieren. Die »Anarchie des Markts« soll überwunden werden, indem die bisher unabhängig voneinander produzierenden und gegeneinander konkurrierenden Unternehmen als Teile einer gesellschaftlichen Produktion in einen sachlichen Zusammenhang gestellt werden. Indem der »parasitären« Bereicherung der privaten Eigentümer und Grundherren der Boden entzogen wird, soll der erarbeitete Reichtum im vollen Umfang der Entwicklung der Gesellschaft zufallen. Darüber hinaus sollen Unkosten der Konkurrenz (Technologieentwicklung, Überproduktion, Krisen) entfallen, im Transport und ähnlichen Bereichen sollen durch eine zentrale Planung erhebliche Kosten eingespart werden usw. In China, einem Land, das nur rudimentär industrialisiert und »erschlossen« ist (Elektrifizierung, Eisenbahnwesen, Straßenbau), steht die Planungsbehörde vor der Aufgabe, entsprechende Aufbauleistungen in Gang zu bringen und den bisher gültigen Standpunkt einer selektiven Nutzung der vom kapitalistischen Interesse her günstig gelegenen Landesteile (Mandschurei, Ostküste) zu überwinden.

In ihrer praktischen Umsetzung bringt es die chinesische Wirtschaftsplanung nie zu den detailliert ausgearbeiteten zentralen Plänen, wie es sie in der Sowjetunion und dem restlichen Ostblock gegeben hat. »Unzureichende Planungskapazitäten und Defizite im Statistiksystem, die eine anspruchsvolle Input-Output-Planung verhinderten, reduzierten die Qualität der Planaufstellung und -durchdringung, die damit auf einem deutlich geringeren Niveau als in der UdSSR erfolgte.« (Stichwort Wirtschaftsplanung, CL: 857) Die Planung der 42 Ministerien, die innerhalb der staatlichen Planungskommission arbeiten, besteht im Wesentlichen aus allgemeinen Vorgaben über den geplanten Anstieg der einzelnen Wirtschaftszweige; lediglich die Produktion in den großen staatseigenen Unternehmen wird detailliert geplant. »Die Zahl der Produkte, die tatsächlich zentral vom Staat verteilt und bilanziert werden, stieg von 28 (1952) auf 235 Produkte im Jahr 1956.« (Kosta/Meyer 1976: 68)

Mit der weitgehend abgeschlossenen Verstaatlichung und dem ersten Fünf-Jahres-Plan haben die chinesischen Kommunisten sich ihre Ökonomie schon in vielen Dingen ihren Kriterien und Vorstellungen gemäß eingerichtet. Natürlich gilt auch für diese Etappe ihrer sozialistischen Gesellschaft: Sie sind konfrontiert mit einer enormen Rückständigkeit der Produktion auf dem Land wie in der Industrie und sie sehen sich einer virulenten Kriegsdrohung der USA gegenüber (vgl. dazu zum »Koreakrieg« in Teil 1, Kapitel 8). Insofern ist bei ihnen – wie übrigens auch bei der sowjetischen Politik vom ersten Tag an – unentscheidbar, wie sich ihr sozialistisch-kommunistisches Projekt ohne diese praktischen Hindernisse und Bedrohungsszenarien weiterentwickelt hätte. Ihrem Volk gegenüber haben die chinesischen Kommunisten allerdings nie in der gebotenen Nüchternheit die Misslichkeiten ihrer Lage eingestanden und deutlich gemacht, aus welchen Gründen das Programm der nächsten Jahre sowohl ökonomisch wie politisch gezwungenermaßen meilenweit entfernt ist von allem, was sie sich möglicherweise »eigentlich« unter einer sozialistischen oder gar kommunistischen Gesellschaft gewünscht hätten. Stattdessen haben sie das Etikett sozialistisch bzw. kommunistisch durchaus als moralisches Gütesiegel ihrer Politik gebraucht. Insofern wird es dann aber auch so gewesen sein, dass das, was die Kommunistische Partei ins Werk gesetzt hat, ihrem Verständnis von Planwirtschaft und sozialistischem Staat ziemlich entsprochen hat. Weil in den eben behandelten ökonomischen Prinzipien die einleitend angedeuteten »Halbherzigkeiten« dieser Kapitalismus-Kritik bereits sehr deutlich werden, noch bevor sich ihre Widersprüche entfalten und zu vielen praktisch feststellbaren Mängeln führen, hier ein

Der kostenlose Auszug ist beendet.

12,99 €