Buch lesen: «Termonia»
Renate Doms
TERMONIA
Band 3
Der Schleier der Schatten
KNABE VERLAG WEIMAR
Für alle meine Lieben
»Möge die Fantasie Euch Flügel verleihen«
Renate Doms
INHALT
Cover
Titel
Widmung
Karte
Prolog
Eins - Geheimnisvolle Geschäfte
Zwei - Pläne
Drei - Die Schattenjäger
Vier - Was lange währt …
Fünf - Landazar Eastvale
Sechs - Neuer Weltenwechsel
Sieben - Kein Ausweg
Acht - Leinen los!
Neun - Schicksalhafte Erkenntnis
Zehn - Unheimliche Gefilde
Elf - Stürmische Nacht
Zwölf - Neue Hoffnung
Dreizehn - Mond der Seefahrer
Vierzehn - Rätselhafte Begegnung
Fünfzehn - Todbringender Eisklotz
Sechzehn - Kalte Schönheit
Siebzehn - Nemelist
Achtzehn - ... wird endlich gut
Danksagung
Nachwort
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Impressum
Fußnoten
Prolog
Julius saß auf seinem Schaukelstuhl, die Pfeife im Mundwinkel, und paffte weiße Rauchschwaden in den Nachthimmel. Sein Blick folgte dem Qualm, der durchs halb geöffnete Fenster von einer leichten Brise erfasst und hinaus aufs Meer getrieben wurde. In stetem Takt streifte der Lichtkegel des Leuchtfeuers die Gebirgskette am Horizont. Der alte Leuchtturm von Pelenall war das stolze Wahrzeichen der kleinen Hafenstadt. Unzähligen Seeleuten hatte sein Licht über viele Jahre den Weg nach Hause gezeigt. Der Leuchtturmwärter sah weiter hinaus aufs Meer. Das Wasser lag ruhig vor ihm und glitzerte im Schein des Mondes, der vom sternenklaren Himmel schien. Doch in der Ferne türmten sich schwarze Wolken auf.
»Das Wetter wird schlechter, bevor der Göttermond am Himmel erscheint«, bemerkte Julius und blickte zu seinem Enkel Tamilo, der am Tisch mit einem hölzernen Drachen spielte.
»Dauert es noch lange, Großvater?«, fragte der Junge, stand auf und stellte sich neben Julius.
Der alte Mann strich seinem Enkel, der sich die Nase an der Fensterscheibe plattdrückte, lächelnd über den roten Schopf. »Nur Geduld. Die musst du haben, mein kleiner Tamilo, wenn du eines Tages Leuchtturmwärter werden möchtest. Geduld, gute Ohren und Augen wie ein Adler. Heute ist die Nacht von Nemelist, dem Wasserschloss der Götter. Ich bin ganz sicher. Wenn diese schwarze Wand sich auflöst und der Göttermond sich in den Wellen spiegelt, dann wird Nemelist aus der Gischt emporsteigen, so heißt es.«
»Gibt es denn keinen, der das Schloss gesehen hat? Du auch nicht?«
Julius legte seine Pfeife in eine Holzschale, die auf der Fensterbank stand, und drehte sich zu Tamilo um.
»Nemelist selbst hat noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen. Im Grunde weiß keiner, ob das Schloss tatsächlich existiert.«
»Glaubst du es denn, Großvater?«
»Wer seinen Glauben an Hedog nicht verliert, der glaubt auch an dessen Schöpfung. Nemelist ist eine davon, ebenso wie die Triade der drei Magier. Das Mädchen aus der Menschenwelt hat Großes vollbracht und die Magier wieder vereint. Die Kunde verbreitet sich in Windeseile durch unsere Welten. Ja, mein Sohn, ich glaube ganz fest daran, dass Nemelist existiert. Es liegt inmitten der Todesklippen, bewacht von einem Lauerfisch. Kein Kapitän würde freiwillig in einer solchen Nacht die Segel setzten – nicht einmal ein Piratenkapitän. Aber du kennst die Geschichte doch.«
»Erzähl sie mir trotzdem noch einmal, Großvater. Wohnt jemand in diesem Schloss?«
Julius lächelte, setzte sich in seinen Schaukelstuhl, stopfte sich erneut ein Pfeifchen und begann zu erzählen.
»Hedog, der Gott des Lichtes und Wächter über die magischen Welten, hat neben seiner Triade noch andere göttliche Wesen, die dabei helfen, alles im Gleichgewicht zu halten. So auch die Elementare Telluria, die Erde, Aqualovandor, das Wasser, Auris, die Luft, und Ignis, das Feuer. Obwohl die vier Geschwister sind, gab es nie für sie die Möglichkeit sich zu begegnen. Das machte die Elementare sehr traurig. Telluria wurde unfruchtbar, woraufhin kaum eine Pflanze überleben konnte, Auris wollte vor Gram keine Winde mehr über das Land schicken, ihr Bruder Aqualovandor hockte bewegungslos in seiner Meereshöhle, so dass sich keine einzige Welle mehr an Ufern und den Felsen brach, und Ignis züngelte nur noch lustlos vor sich hin. Für die Menschen war das katastrophal. Die Schiffe konnten nicht mehr in See stechen, weil kein Wind ihre Segel aufblies und keine Welle sie über das Wasser tragen würde. Die Früchte auf den Äckern verdorrten, weil kein Wind auch nur eine Regenwolke über den Himmel trug. Die Menschen froren, weil kein Feuer so recht lodern wollte. Die Menschen drohten an der Hungersnot zu sterben, weil die Pflanzen und Bäume nicht mehr gediehen … Hedog konnte das nicht zulassen. Er ist ein guter Gott, der die Menschen liebt. So beschloss er, den Elementaren zu helfen und eine neue Ordnung zu errichten. Er wollte einen Ort schaffen, an dem sich die Elementare treffen konnten, um für kurze Zeit vereint zu sein. So erschuf er Nemelist, ein Schloss ganz aus Wasser und Meeresschaum, das von nun an in den Todesklippen liegen sollte. Und damit nie ein Mensch dieses göttliche Bauwerk zu Gesicht bekam, würde es von einem riesigen Lauerfisch bewacht werden. Einmal im Jahr zum Göttermond sollte Nemelist aus den Fluten steigen und den Elementaren für eine Nacht Unterschlupf bieten. Aber Hedog wusste, das Ignis dieses Schloss nicht einfach so betreten konnte, denn das Wasser würde den Feuerelementar zerstören. Von den Wolkenkindern ließ Hedog einen schwarzen Schleier weben, der ganz und gar aus den Schatten der Nacht und dem Licht der Sterne gefertigt war. Die Wolkenkinder webten emsig und jedes von ihnen webte eine Gabe mit hinein – Unverwundbarkeit, ewige Jugend und unendliche Macht. Dieses Artefakt wurde von nun an im Schloss aufbewahrt und durch seine Magie schützte der Schleier den mächtigen Feuerelementar vor dem Wasser. Seit dieser Zeit taucht Nemelist an Göttermond aus den Fluten empor und öffnet seine Tore für die Elementare. Viele wagemutige Seefahrer haben versucht Nemelist zu finden, um den wertvollsten Gegenstand zu erbeuten. Der Schleier der Schatten, der sich im Schloss auf einem Altar befindet, ist der größte Schatz, den es zu besitzen gilt. Doch keines der Schiffe ist je aus den Todesklippen zurückgekehrt und so konnte auch kein Mensch berichten, ob Nemelist tatsächlich existiert«, beendete Julius die Geschichte und blickte zu seinem Enkel.
Tamilo war zu seinen Füßen eingeschlafen. Sachte hob er den Jungen auf und trug ihn hinüber auf die Pritsche, die im Nebenraum stand. Ohne zu erwachen rollte sich der Kleine auf die Seite. Julius deckte Tamilo zu und strich ihm zärtlich über den Kopf. Dann ging er zurück, steuerte auf eine alte Truhe zu, hob den Deckel und holte einen Krug Rum hervor. Julius schlurfte die schmale Treppe empor, die zum Lampenhaus führte. Er trat hinaus auf den Rundgang, der um den gesamten Leuchtturm verlief, stellte den Krug auf den Boden und kontrollierte im Inneren das Leuchtfeuer und die zwei großen Spiegel, die sich allein durch die Willenskraft des Leuchtturmwärters um das Feuer drehten und so den Lichtkegel bis weit in die Ferne seine Kreise ziehen ließ. Als Julius sich vergewissert hatte, dass die Flammen hoch und die Spiegel blank genug waren, trat er wieder hinaus, lehnte sich an die Brüstung und blickte aufs offene Meer. Die schwarzen Wolken lösten sich allmählich auf und der alte Leuchtturmwärter wusste, dass es nun nicht mehr lange dauern würde. Kein Lüftchen wehte, kein Vogel kreischte. Nur das stete Geräusch der rotierenden Spiegel, die sich unermüdlich um das Leuchtfeuer drehten, war zu hören. Mit den Zähnen zog Julius den Korken aus dem Krug und nahm einen kräftigen Zug.
»Die Ruhe vor dem Sturm«, flüsterte er …
Eins
Geheimnisvolle Geschäfte
Der Marktplatz von Pelenall war an diesem sonnenverwöhnten Morgen voller Menschen. Buntes Treiben herrschte an jedem Fleck, dicht an dicht drängten sich farbenfrohe Karren und Stände und der Geruch von Fisch und Kräutern lag in der Luft. Fahrende Gaukler, Feuerschlucker, Messerwerfer und ein echter Schlangenbeschwörer sowie unzählige Musiker und Puppenspieler lockten die Vorbeigehenden mit ihrer Kunst. Händler boten ihre Ware feil und feilschten um jeden Tibar. Zwei Fischer stritten lautstark mit einer alten Frau um eine der begehrten Zinnmünzen.
»Weib, ich sage dir, dieser Tibar ist meinem Bruder eben aus der feuchten Hand geglitten, also rück ihn wieder raus!«
»Ihr bezichtigt mich der Lüge? Vergesst nicht, wen ihr vor euch habt. Ich bin keine Geringere als Salenga. Wie könnte ich je die Unwahrheit sprechen? Dieser Tibar ist mir aus meinen zittrigen Fingern gefallen«, erwiderte die Alte und ließ das Geldstück in ihrem Bauchbeutel verschwinden. Der Fischer war außer sich. Wutschnaubend kletterte er von seinem Fischerkarren und stapfte auf die Alte zu.
»Warte nur, ich werde dir schon beibringen, was es heißt, zwei ehrbare Fischer zu bestehlen.« Doch bevor er die Frau erreichte, stellte sich ihm eine andere in den Weg.
»Halte ein, guter Mann! Du willst dich doch nicht unglücklich machen.«
Der Fischer schaute die Dame erschrocken an. Die schlanke hochgewachsene Frau lächelte sanftmütig und hielt ihm eine Münze hin. »Ist es dies, was du begehrst? Nimm es hin und lass die Alte ziehen!«
Der Fischer starrte sie sprachlos an. Ihr langes Haar, über das ein seidener Schleier fiel, schimmerte golden in der Morgensonne. Sie trug ein edles Gewand, das ihr ohnehin anmutiges Antlitz unterstrich. Ehrfürchtig nahm der Mann den Tibar an sich.
»Habt Dank, edle Dame, und nehmt euch in Acht. Die Alte ist eine Hexe«, flüsterte er und kletterte zurück auf seinen Karren.
»Schick dich, Alte. Du bist nichts weiter als eine Kräuterhexe«, spottete der andere Fischer. Ein heftiger Stoß seines Freundes in die Seite ließ ihn verstummen.
»Halt’s Maul, oder willst du uns unglücklich machen?«
»Ich verfluche euch und euren Karren. Möge sich ein Gestank von verfaultem Fisch daraus erheben!«, wetterte die Alte.
»Lass gut sein, Frauchen. Wie war doch gleich dein Name?«, fragte die schöne Frau.
»Wer will das wissen?«, knurrte die Alte misstrauisch und musterte die Unbekannte genau. Sie ahnte nicht, dass sie Youla, der mächtigen Zauberin aus Termonia, gegenüberstand.
Ein unsäglicher fauliger Gestank breitete sich urplötzlich aus. Erstaunt drehte Youla sich zu dem Fischkarren um und hörte die beiden Fischer wehklagen.
»Was hast du getan, du Hexe? Unser schöner Fisch. Alles faul.«
Salenga lächelte zufrieden und Youla legte sich ein Tuch vor die Nase. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen, diese Alte war nicht zu unterschätzen.
»Forderst du den Tibar nun von mir ein?«, fragte Salenga bissig und rümpfte ihre Hakennase.
»Wie käme ich dazu? Er soll dir gehören, ganz gleich, wie du an ihn gekommen bist.«
»Ich habe ihn nicht gestohlen, falls du das glaubst. Und diese elenden Gauner haben ihre gerechte Strafe erhalten. Niemand bezichtigt mich ungestraft der Lüge.«
Youla nickte stumm, dann brachte sie ihr Anliegen hervor: »Ich würde gern deine Dienste in Anspruch nehmen. Oder besser gesagt, ich könnte deine Hilfe gebrauchen.«
»Wieso sollte ich dir helfen?«
Youla hielt einen kleinen, prallgefüllten Lederbeutel vor das Gesicht der Alten. »Weil du dem hier nur schwerlich widerstehen kannst.«
Salengas Augen begannen zu leuchten. »Nun, bei diesem Argument, kann ich in der Tat schwer nein sagen.«
Die Alte grabschte gierig nach dem Geldsäckchen, doch die Zauberin zog es ruckartig zurück und ließ es wieder verschwinden.
Salenga schaute sich verschwörerisch um und bedachte die beiden Fischer mit einem garstigen Blick. »Folge mir! Wir gehen besser in meinen Karren. Hier treibt sich allerlei Gesindel herum, was ich nie zuvor gesehen habe. Der Pöbel strömt neuerdings aus allen Himmelsrichtungen nach Pelenall.«
Youla folgte der Alten quer über den Markt, vorbei an unzähligen Ständen, Marktschreiern, Waschfrauen und weiteren Händlern. Sie alle traten einen gehörigen Schritt nach hinten und senkten furchtsam die Köpfe, als die Frauen an ihren Ständen vorbeieilten. Sobald ihnen die beiden jedoch den Rücken zukehrten, starrten sie der alten Salenga und ihrer Begleitung neugierig hinterher.
»Ein edles Tuch aus zarter Seide für die schöne Dame?«, rief plötzlich ein Tuchmacher aus vollem Halse, als Youla seinen Marktstand passierte. Die Zauberin würdigte ihn keines Blickes.
»Welch arrogantes Gehabe. Und was hat die wohl mit der alten Kräuterhexe zu schaffen?«, schnaubte er verbittert und legte das Seidentuch zurück auf den Stapel.
»Lass sie lieber ziehen, Skolar. Du weißt, was beim letzten Mal geschehen ist«, riet ihm der Kerzenzieher vom Nachbarstand.
»Diese Hexe schnappt uns die erhabene Kundschaft vor der Nase weg und für uns bleibt kein Tibar übrig. Ich lasse mir das nicht länger gefallen.«
Salenga hatte des Händlers Worte vernommen und blieb abrupt stehen. Sie drehte sich zu ihm um und funkelte ihn mit glühenden Augen bösartig an.
»Kusch dich, Tuchmacher, oder ich belege dich mit einem Fluch«, zischte sie in seine Richtung.
Der untersetzte Mann zog es nun doch vor zu schweigen und tauchte hinter seinem Tuchstapel unter.
Die Zauberin hielt in ihrer Bewegung inne. »Mir scheint, die hiesigen Leute zollen dir gehörigen Respekt«, bemerkte sie anerkennend.
»Der Lohn jahrelanger Arbeit. Komm weiter!«, drängte Salenga und hielt auf die Mitte des Platzes zu, auf dem ein kleiner, aber sehr ansehnlicher Verkaufskarren stand. »Beerenweine & feinste Elixiere« stand in geschwungener Schrift auf einem Tuch, das vom Dach des Wagens über den Verkaufstisch gespannt war. Darunter reihten sich unzählige Flaschen, Phiolen, Gläser, Krüge eng aneinander und überall hingen duftende Kräuterbüschel von der Decke. Doch Youlas Aufmerksamkeit galt etwas anderem. Zwei weiße Spitzhorn-Omihyns waren vor den Karren gespannt und mümmelten an einem Heuhaufen, der vor ihnen lag.
Langsam ging Youla auf die Tiere zu, hielt jedoch respektvoll Abstand. Das Fell der Tiere glänzte silbrig in der Morgensonne. Eins der Omihyns hob den stolzen Kopf, auf dem ein goldenes Horn aus der langen Mähne hervorstach, und schaute Youla mit stahlblauen Augen an. Es legte seine Ohren an und gab ihr mit einem grimmigen Knurren zu verstehen, dass sie besser nicht näher kommen sollte. Fasziniert starrte Youla auf die Fabelwesen, die als lange ausgestorben galten. »Ich habe ja schon viel gesehen, Alte, aber das … Wie ist das möglich?«
»Geh besser nicht so dicht ran. Sie mögen es nicht, wenn Fremde sich ihnen nähern. Es sind die letzten dieser Art, deshalb hüte ich sie wie meinen Augapfel.« Die unausgesprochene Warnung in diesen Worten war nicht zu überhören. Die Alte ging an die hintere Seite des Karrens und kam schlurfend, einen weiteren Heuballen hinter sich her ziehend zurück. Die Tiere schreckten hoch, als die Alte an sie herantrat, ließen sie aber gewähren.
Salenga kraulte das eine Tier hinterm Ohr und es entspannte sich augenblicklich. »Nur die besten Kräuter sind in diesem Heu und sie danken es mir mit ihrer Zuneigung«, erklärte Salenga nicht ohne Stolz, während sie das Heu vor den stetig kauenden Mäulern ausbreitete. »Gehen wir rein und reden übers Geschäft.«
Youla folgte der alten Kräuterhexe zur Rückseite des Karrens, die nun die zu einer kleineren Tür führende Trittleiter hochstieg.
»Hereinspaziert, meine Schöne, und setz dich!« Salenga wies mit einer ausladenden Geste in den dunklen Innenraum.
Als Youla den Wagen betrat, schlug ihr ein starker Kräutergeruch in die Nase, der ihr fast den Atem raubte.
Unmengen von Kräuterbüscheln hingen mit Haken befestigt an der Wand oder von der Decke herab, einige lagen auf kleinerenund größeren Haufen. In zahlreichen Fläschchen brodelten Tinkturen, Arzneien und Säfte. Youla wagte nicht sich vorzustellen, was noch alles in den Gläsern und Gefäßen vor sich hin gärte und betrachtet angewidert ein Glas, das auf der Fensterbank stand. Ein Augenpaar schwamm in einer gelben Flüssigkeit und die Pupillen folgten gespenstig jeder ihrer Bewegung. In anderen Gläsern krabbelten hunderte von Käfern, Fliegen, Spinnen und anderes Kleingetier. Eine Kiste, die unter dem wackligen Tischchen stand, bewegte sich ruckartig.
Salenga fegte mit dem Fuß eine staubige Decke von der Bank und schob ein paar Gläser und Töpfe, die auf der Tischplatte standen, beiseite. »Du musst das Durcheinander schon entschuldigen, aber ich versuche immer, so viel wie möglich in den Karren zu stopfen, wenn ich auf den Markt fahre. Nimm doch Platz.«
Salenga wollte die Tür schließen, doch Youla hob abwehrend die Hand. »Lass sie offen, der Gestank ist ja unerträglich«, bestimmte die Zauberin und fügte mit einem unbehaglichen Seitenblick auf die sich bewegende Kiste hinzu: »Ich stehe lieber.«
»Wie du willst.« Salenga zuckte mit den Schultern und ließ die Tür offen stehen, vergewisserte sich aber gründlich, dass sie vor neugierigen Augen und Ohren verschont bleiben würde, während sie mit der feinen Dame Geschäfte machte.
»Nun, was kann ich für dich tun?«
Youla wusste, dass sie hier genau richtig war. Diese alte Kräuterhexe konnte ihr ganz sicher das geben, was sie begehrte. Die Zauberin nahm das Glas mit dem Augenpaar von der Fensterbank, drehte sich zur offenen Tür und hielt es gegen die Sonne.
»Mir scheint, dass du neben der Kräuterheilkunde auch eine Menge über, sagen wir mal, einzigartige Wesen weißt.« Youlas Augen glühten kurz auf und das Augenpaar im Glas schloss die Lider.
Entsetzt riss Salenga ihr das Glas aus der Hand. »Was hast du mit ihnen gemacht? Wer bist du?« Verstört klopfte die Alte gegen den Deckel, doch die Augen blieben geschlossen.
»Ich mag es nicht, wenn man mich beobachtet. Keine Bange, sie schlafen nur. Mein Name ist Youla und ich komme von weit her, um dich aufzusuchen.«
Beim Klang dieses Namens hoben sich Salengas müde Lider, teils aus Angst, teils aus Ehrfurcht.
»Youla?? Die Youla?«
Youla lächelte zufrieden. Es überraschte sie nicht, dass sie auch hier nicht unbekannt war, trotzdem gab sie sich bescheiden. »Wie mir scheint, eilt mein Ruf mir voraus.«
»Bei Hedog und das mir! Du bist eine der mächtigsten Zauberinnen. Wie könnte ich dir denn helfen?« Untertänigst beugte Salenga ihren betagten Rücken.
»Ich mag in der Tat eine gewisse Macht besitzen, dennoch gibt es etwas, dass ich nicht vermag. Aber du kannst das.«
»Was sollte das sein? Ich habe meine Kräuter und braue Tinkturen und Heilmittel daraus. Nicht mehr und nicht weniger.«
Youla ging einen Schritt auf das kleine Fenster zu, durch das man den Kutschbock und die zwei davor gespannten weißen Omihyns sehen konnte, die noch immer genüsslich das Heu mit ihren Zähnen zermahlten.
»Du bist im Besitz dieser edlen und einzigartigen Geschöpfe da draußen …« Die Zauberin wandte sich vom Fenster ab und warf einen sorgenvollen Blick auf den noch immer zuckenden Korb am Boden. »… und ich möchte lieber nicht erfahren, was sich in dieser Kiste verbirgt. Magische Geschöpfe waren mir schon immer ein Rätsel und ich ziehe es vor, ihnen weitestgehend aus dem Weg zu gehen. Es gibt allerdings ein Geschöpf, das ich aufzusuchen gedenke. Und damit dieses Zusammentreffen gut ausgeht, benötige ich deine Hilfe.«
»Welches Geschöpf sollte das denn sein?«
Youla schaute Salenga fest in die Augen. »Ein Lauerfisch.«
Salenga lachte spitz auf, aber dadurch konnte sie nicht verhindern, dass Youla ihr angsterfülltes Gesicht sah.
»Der Lauerfisch ist ein Mythos. Jeder weiß das. Ebenso wie Nemelist. Glaubst du tatsächlich an das Märchen von diesem Wasserschloss und dem Schleier der Schatten? Schleier, Schloss und Lauerfisch existieren nicht«, behauptete die Alte felsenfest, doch etwas an ihr zeigte, dass da ein Fünkchen Glaube an diese Dinge aufkeimte.
»Du weißt, dass sie existieren, Alte. Und du weißt, wie man dieses Ungetüm lahm legen kann, um ungehindert das Schloss zu betreten.« Youlas stechender Blick durchbohrte die Alte.
Salenga fühlte sich mehr und mehr unwohl in Gegenwart dieser Zauberin, denn sie spürte die schwarze Magie, die durch Youlas Adern floss. Angst überkam die Kräuterfrau und schließlich brach sie ein. Keine Sekunde länger hätte sie diesem Blick standhalten können, und Youla wusste das sehr genau.
»Ja, du hast recht, ich weiß um Nemelist und auch was es beherbergt. Ich weiß aber auch, dass es besser für uns alle ist, dass das, was im Schloss aufbewahrt wird, an seinem angestammten Platz verbleibt. Oder willst du den Zorn der Elementare auf dich ziehen?«
»Lass die Elementare meine Sorge sein. Brau du mir nur einen Trank, der den Lauerfisch außer Gefecht setzt«, erwiderte die Zauberin.
Salenga beäugte Youla nun argwöhnisch. Trotz Furcht witterte sie ein großes Geschäft … Größer als alle Geschäfte, die sie je abgewickelt hatte. Hiernach würde sie sich zur Ruhe setzen können. Sie durfte jetzt nur keinen Fehler machen. Sie stand auf, ging ein paar Schritte auf Youla zu und reckte sich zu voller Größe, was nicht viel nützte, denn Youla überragte sie um einen ganzen Kopf.
Die hochgewachsene Zauberin schaute hochmütig auf das Kräuterweib herab.
Salenga räusperte sich. »Was springt für mich dabei heraus? Mit ein paar lumpigen Tibar wirst du meine Dienste für dieses Vorhaben nicht bekommen«, tönte sie und mühte sich, ihre Stimme fest und fordernd klingen zu lassen, was Youla jedoch kaum beeindruckte. Die halbherzige Forderung rang der Zauberin nur ein müdes Lächeln ab. Sie packte die Alte an ihrem Tuch, drängte sie in eine Ecke des Wagens und drückte sie gegen die mit Haken bestückte Wand. Knisternd zerbröselten die Kräuter in abertausend Stückchen und rieselten zu Boden. Der Geruch von Salbei, Melisse und Minze breitete sich aus. Die metallenen Spitzen der Haken drückten sich durch Salengas Kleid und stachen sie in den Rücken. Die Alte stöhnte auf.
»Ich denke nicht, dass du in der Position bist, Forderungen an mich zu richten«, gab Youla ihr unmissverständlich zu verstehen, dann ließ sie sie los. »Die Bedingungen unserer Geschäftsbeziehung stelle ich.«
Salenga sackte zusammen, japste nach Luft und kroch von Youla weg.
»Ich gebe dir genau zwei Tage Zeit, dann komme ich wieder und hole den Trank. Und lass dir ja nicht einfallen zu verschwinden. Ich werde dich aufspüren«, drohte Youla und verschwand in einer weißen Rauchwolke.