Termonia

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Zwei
Pläne

Das monotone Piepsen des Weckers holte Cathy Punkt 5 : 30 Uhr aus einem unruhigen Schlaf. Ohne sich groß aufzurichten, suchte sie mit ausgestrecktem Arm im Dämmerlicht nach der nervenden Uhr, um sie zum Schweigen zu bringen. Der Inhalt des Bechers, den sie tags zuvor auf dem Nachttisch abgestellt hatte, ergoss sich über ihrer linken Schulter. Nun schnellte Cathy hellwach empor.

»So ’n Mist«, wetterte sie und schlug ihre Bettdecke zurück. Sie verpasste dem Wecker, den sie aus Watford mitgebracht hatte und der noch immer nervtötend piepste, einen kräftigen Schlag und er verstummte augenblicklich. Es war noch dunkel und Cathy horchte in die Stille. Sie hoffte, dass ihre Großeltern nicht wach geworden waren, was bei dem Lärm, den der Wecker und ihr Gepolter veranstaltet hatten, sehr unwahrscheinlich war. Cathy sollte sich nicht täuschen, denn Sekunden später pochte es ganz sachte an ihrer Tür.

»Komm rein, ich bin wach«, rief sie leise und ihre Großmutter trat ins Zimmer. Unter ihrem langen gelben Nachthemd schauten lustige bunte Pantoffeln hervor.

Perl hatte eine große Stola um ihre Schultern gelegt. Ihr graues Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der über ihrer Schulter hing.

»Was in Hedogs Namen veranstaltest du denn so früh schon hier drin?«, flüsterte Perl verschlafen.

»Entschuldige, ich wollte euch nicht aufwecken. Ich habe den Wasserbecher umgestoßen, als ich den blöden Knopf vom Wecker nicht gleich gefunden hatte. Jetzt ist mein Bett ganz nass.«

Perl entzündete die kleine Lampe an der Wand über der Waschschüssel, woraufhin sich ein gemütliches Licht in der kleinen Kammer ausbreitete.

»Wo willst du denn um diese Uhrzeit hin?«

»Ich wollte mit Annabelle und Finn zu Hesekiel. Wir wollen schauen, wie weit er mit dem magischen Spiegel ist.«

Perl schüttelte ungläubig ihren Kopf. »Magischer Spiegel. So ein Unfug und dann auch noch mitten in der Nacht, als ob das nicht bis zum Tagesanbruch Zeit hätte.« Perl schüttelte müde den Kopf. »Der alte Hesekiel schafft es aber auch immer wieder, euch Kinder in seinen Bann zu ziehen. Kein Wort glaub ich ihm. Ich geh Frühstück machen.«

»Nein, warte, Großmutter, das brauchst du nicht. Leg dich wieder hin. Ich komm schon allein zurecht«, beteuerte Cathy, doch Perl winkte nur ab.

»Soweit kommt es noch, ich bereite seit Jahrzehnten das Frühstück in diesem Haus und das wird sich nicht ändern«, erklärte Cathys Großmutter lächelnd und verschwand nach unten.

Nachdem Cathy sich gewaschen und angezogen hatte, fand sie sich in der Küche ein. Ihre Großmutter schüttete gerade heiße Milch in einen Becher und stellte ihn zu dem Topf Honig auf dem Tisch. »Bei aller Magie um diesen Spiegel, Cathy, vergiss nicht, dass du deine Mutter und Onkel Milo heute noch holen musst«, erinnerte Perl ihre Enkelin und schob ihr die Brötchen hinüber.

Cathy gab einen Löffel Honig in die Milch und begann zu rühren. »Keine Sorge, das vergess ich nicht, Großmutter.«

»Cathy, willst du dir das mit der Schule nicht doch noch einmal überlegen? Nicht, dass wir dich nicht sehr gern hier haben, aber ich habe doch Bedenken, ob das alles so richtig ist, was wir hier tun.« Nachdenklich füllte Perl einen weiteren Becher mit Milch und setzte sich an den Tisch.

»Keine Chance, du kannst aufhören, Großmutter. Ich geh nicht zurück. Ich werde Youla suchen und ich werde sie aufspüren. Sobald Hesekiel eine Möglichkeit gefunden hat, wie Mom und Onkel Milo ohne das Amulett zwischen Watford und Termonia hin und her reisen können, mache ich mich mit Finn und Annabelle auf den Weg.« Cathy war entschlossen und Perl wusste, dass daran nicht zu rütteln war.

»Aber wo wollt ihr eure Suche beginnen?«

»Zunächst werden wir uns nach einem weiteren Portal umsehen. Das am Brunnen ist ja leider nur im Winter zu sehen. Aber es gibt sicher noch andere. Wir müssen nur die Augen offen halten.« Voller Zuversicht schaute Cathy ihre Großmutter an. »Ich finde diese Hexe und bringe sie zur Strecke. Und wenn es das Letzte ist, was ich tun muss. Sie wird nicht ungestraft davonkommen, nicht solange ich das verhindern kann.« Cathy stopfte sich den letzten Bissen ihres Brötchens in den Mund und stand auf. Sie ging zu ihrer Großmutter hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Danke, du bist die Beste. Ich hab dich lieb. Muss jetzt los, Finn und Annabelle warten. Bis später.« Sie schlüpfte in ihre Jacke und die Schuhe, nahm den Bogen und die Pfeile und trat vor die Tür. Ein frischer Wind blies ihr um die Nase.

Cathy sog die Frische des Morgens in sich hinein. Es roch nach Frühling und sie liebte diesen Duft. Die ersten Frühlingsboten steckten ihre farbenfrohen Köpfe bereits aus der Erde und ein paar Vögel zwitscherten munter durcheinander. Cathy blickte zufrieden nach oben. Am Himmel über dem Berg zeichnete sich die Morgenröte ab.

»Hallo Frau Sonne, na, schälst du dich auch langsam aus deinem Bett?«, begrüßte Cathy den Tag, schloss ihre Jacke und überlegte kurz, ob sie den Weg zu Annabelles und Finns Haus zu Fuß oder durch die Luft beschreiten sollte. Sie entschied sich zu laufen. Obwohl sie das Fliegen in letzter Zeit für sich entdeckt hatte, ging sie auch gern zu Fuß. Sie liebte dieses Land und es fühlte sich an, als sei sie nie irgendwo anders gewesen. Cathy konnte sich nicht mehr recht vorstellen, wie es vorher gewesen war, als sie nichts von der Existenz Termonias ahnte. Sie spürte, dass dieser Ort ihr zu Hause war und dass es vorherbestimmt war, dass sie hier lebte. Als sie bei ihren Freunden ankam, begann Cathys Herz ein bisschen schneller zu pochen. Sie blickte in den liebevoll angelegten Garten. Annabelle hatte sich große Mühe gegeben, den Garten so schön wie möglich zu gestalten, und Cathy fand, das war ihr gelungen. Man konnte an der Farbenpracht der Blütenspitzen, die sich bereits über der Erde zeigten, erahnen, wie sich in wenigen Wochen ein Meer bunter Blüten rechts und links des Weges entfalten wird. Hyazinthen, Tulpen, Krokusse, Narzissen und viele andere Blumen, solche die Cathy völlig unbekannt, aber nicht minder schön waren, warteten hier vor dem Haus auf weitere wärmende Sonnenstrahlen, dazu der helle Anstrich am Haus, den Finn angebracht hatte. Cathy gefiel die wundervoll frische, junge und sehr gepflegte Oase. Viel Arbeit hatten die drei in den letzten Wochen in das Haus gesteckt, und es hat sich gelohnt. Cathy verbrachte fast jede freie Minute bei Annabelle und Finn, denn das Haus war in einem bedauernswerten Zustand gewesen, als die drei aus Itros zurückkamen. Das Geschwisterpaar Quinx hatte vorher jahrelang im Tempel gelebt und Barkasan und Youla gedient. Nach der Befreiung Termonias und der Zerstörung des Tempels kehrte die beiden in ihr Elternhaus zurück. Cathys Großeltern hatten über die Jahre zwar versucht, das Haus vor dem gänzlichen Zerfall zu bewahren, aber ein unbewohntes Haus verlor im Laufe der Zeit seinen Glanz, ganz gleich, ob man kleinere Reparaturen durchführte oder nicht. Doch nun sah das Haus wieder belebt und frisch aus und Cathy war sehr stolz, dass sie dazu beigetragen hatte. Sie mochte Annabelle unheimlich gern und ihren Bruder erst recht. Noch immer hatte sie das Gefühl, dass Heerscharen von Ameisen in ihrem Bauch zu tanzen begannen, wenn sie Finn Quinx näher kam.

Annabelles Bruder hatte ihr gehörig den Kopf verdreht und Cathy war verliebt bis über beide Ohren. Diese Verliebtheit machte es ihr jedoch schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Noch hatte sie ihre neu erworbenen Fähigkeiten nicht jederzeit voll und ganz im Griff und Finns Anwesenheit während ihrer Übungsstunden lenkte sie immer wieder aufs Neue ab. Annabelle rollte dann stets genervt mit den Augen und scheuchte ihren Bruder fort, damit sie mit Cathy in Ruhe trainieren konnte.

Noch einmal atmete Cathy tief ein, um sich ein bisschen zu beruhigen, dann klopfte sie an die Tür.

»He, du bist ja überpünktlich«, wurde sie von Annabelle begrüßt. »Komm rein! Mein Bruder liegt noch immer in den Federn. Er hat gestern bis in die tiefe Nacht in dem Buch gelesen, dass du ihm geschenkt hast. Eigentlich tut er kaum noch was anderes, wenn du nicht hier bist.«

Cathy lächelte zufrieden. Als sie das letzte Mal in Watford gewesen war, um noch ein paar Sachen zu holen, hatte sie beschlossen, einige ihrer Bücher nach Termonia mitzunehmen. Ein paar ihrer Märchen und Fabeln hatte sie Finn gegeben, der sichtlich begeistert über die Drachenbuchreihe war, aber die Geschichte des jungen Zauberers hatte es ihm besonders angetan. Er schaffte es nur mit Mühe, das Buch wegzulegen, doch Annabelle bestand darauf, dass erst die Pflichten erledigt wurden.

»Hm, wenn ich geahnt hätte, dass er sich die Nächte um die Ohren schlägt, hätte ich ihm wohl besser keine Bücher geben sollen«, sagte Cathy und marschierte geradewegs an Annabelle vorbei die Treppe hoch. »Keine Sorge, ich schmeiß ihn aus dem Bett.«

»Tu das, ich mach derweil das Frühstück. Hast du Hunger?«, fragte Annabelle ihrer Freundin hinterher.

»Nein, danke, Hunger hab ich seit Omas leckerem Frühstück nicht mehr. Aber eine Tasse Tee, die trinke ich noch mit.«

Wenig später stand Cathy mit klopfendem Herzen vor Finns Tür, atmete noch einmal tief durch und trat dann leise ein.

Die Decke bis an die Nasenspitze gezogen schnarchte Finn vor sich hin. Cathy musste schmunzeln, als sie die knarzenden Töne vernahm, die ihr Freund von sich gab. Das Buch, das er gelesen hatte, lag aufgeschlagen auf dem Boden. Es hatte den Anschein, als war Finn über dem Lesen eingeschlafen und das Buch war heruntergerutscht. Leise ging sie hinüber zum Bett, hob das Buch auf und legte es auf den kleinen Tisch, der neben Finns Schrank stand. Dabei stieß sie gegen den Wasserkrug, der bedrohlich zur Seite kippte. In letzter Sekunde konnte Cathy verhindern, dass er umfiel, jedoch nicht ohne Geräusche zu machen.

 

»Annabelle, lass mich schlafen und hör auf, solchen Lärm zu machen«, moserte Finn unter seiner Decke hervor und drehte sich ohne aufzuschauen an die Wand.

»Ich bin’s. Wach auf du Schlafmütze«, lachte Cathy und zuppelte an der Bettdecke. Dann setzte sie sich auf die Bettkante.

Verschlafen drehte Finn sich zu ihr um und grinste. »Ach, du bist das. Na dann …«, freute er sich, griff nach ihrer Hand und zog sie zu sich herunter.

Die Ameisen in Cathys Bauch schienen ein Wettrennen zu veranstalten. Ihr Herz pochte so schnell, dass sie befürchtete, es könnte sich überschlagen. Sie lag neben ihrem Freund und ihre Gedanken rasten wie Kugelblitze durch ihren Kopf.

Finn hielt sie in seinem Arm und strich ihr zärtlich über den Rücken. »Von dir lass ich mich gerne wecken«, hauchte er leise und küsste ihren Hals.

Ein wohliger Schauer nach dem anderen huschte über Cathys Körper. Sie lag ganz still, mochte sich weder rühren noch atmen, aus Angst, das himmlische Gefühl könnte zu schnell verstreichen. Dann schaute sie ihn verliebt an. Einen Bruchteil einer Sekunden blickten sich beide in die Augen, dann küsste Finn seine Freundin. Finn hatte Cathy schon oft geküsst, aber dieser Kuss, das spürte sie tief in ihrem Herzen, war anders als alle anderen zuvor. So hatte er sie noch nie geküsst und Cathy wusste, wohin das führen könnte, wenn sie es zulassen würde. Doch so neu, schön und aufregend dieses Gefühl war, und so sehr sie Finns Nähe genoss, Cathy war noch nicht bereit für den nächsten Schritt. Befangen hangelte sie sich aus seiner Umarmung.

»Hab ich was falsch gemacht?«, fragte Finn nervös.

»Nein, hast du nicht«, sagte sie etwas atemlos und zupfte ihren Pulli zurecht. »Annabelle wartet mit dem Frühstück. Ich geh besser wieder runter zu ihr. Und du sieh zu, dass du aus den Federn kommst. Wir wollen Hesekiel nicht warten lassen.«

»Cathy …« Finns Stimme hatte einen seltsamen Klang.

Cathy stand an der Tür mit der Klinke in der Hand. Sie hielt in der Bewegung inne und drehte sich zu ihm um.

»Ich lieb dich. Ich will, dass du das weißt.« Das Gesicht ihres Freundes spiegelte die Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit seiner Worte wider.

Cathy spürte ein Glücksgefühl in sich aufsteigen. »Ich dich auch.« Lächelnd verließ sie das Zimmer und lief in Gedanken versunken die Stufen hinab.

Annabelle empfing sie fröhlich: »Na, hast du den Langschläfer wach bekommen?«

»Ja, kein Problem«, erwiderte Cathy und hoffte, dass Annabelle ihr nichts anmerkte. So unbekümmert es ihr möglich war, plapperte sie los: »Was glaubst du, wie weit wird Hesekiel sein? Ob er etwas gefunden hat, das er magisch beeinflussen kann, um meine Mom und Milo sicher durch die beiden Welten zu bringen?«

»Ich weiß es auch nicht, aber wie ich Hesekiel kenne, wird er sich ganz sicher etwas einfallen lassen. Hier dein Tee.« Annabelle schob Cathy einen dampfenden Becher über den Tisch.

»Danke.« Cathy setzte die Tasse an den Mund und pustete leicht hinein. Dann nippte sie und eine kleine Geschmacksexplosion offenbarte sich ihrem Gaumen. Cathy schmeckte Kamille und Minze, aber auch einen angenehmen blumig süßen Geschmack, den sie nicht zuordnen konnte. Sie stellte den Becher ab und lächelte zufrieden.

»Schmeckt ja klasse. Was ist das für ’ne Sorte?«

»Ich nenne ihn Tränenmeer.«

»Tränenmeer? Muss ich gleich weinen, oder was?«

Annabelle lachte. »Nein, ganz sicher nicht. Ich habe die Mixtur selber hergestellt. Zum einen ist es der Saft der Meerweide und zum anderen ein paar Silbertränen. Die wiederum schützen vor Gluroxgeifer, wie wir, dank Hesekiel, wissen. Und noch ein paar andere Kräuter wie Minze, Salbei und Kamille. Schön, dass er dir schmeckt«, freute sich Annabelle.

Cathy schaute Annabelle skeptisch an. »Gluroxgeifer? Ich bitte dich, Annabelle. Wo sollen wir denn mit diesem Schleim noch in Berührung kommen? Es gibt keine Glurox mehr.«

»Man kann nie vorsichtig genug sein. In Itros gab es sie schließlich noch, oder was waren das für Viecher, die auf und um Schloss Torvitas Wache standen? Nein, meine Liebe, ich bin vorsichtig, gerade, was diese Monster angeht.«

Cathy spürte die Anspannung, die Annabelle jedes Mal dann überkam, wenn sie nur über diese furchtbaren Kreaturen sprachen.

»He, Annabelle. Da sind keine Glurox mehr. Ganz bestimmt. Zytra ist tot und mit ihr starben diese Monster«, versuchte Cathy, ihre Freundin zu beruhigen.

»Was ist los? Habt ihr alles alleine aufgefuttert?« Finn kam die Treppe herunter und stoppte augenblicklich, als er das ängstliche Gesicht seiner Schwester sah. »He Annabelle, was ist mit dir? Hast du einen Geist gesehen?«

Cathy gab ihm durch einen strengen Blick zu verstehen, dass er ruhig sein und sich setzen sollte.

Finn jedoch rollte mit den Augen, während er zum Tisch ging, nahm die Kanne und goss sich Tee ein. Dann brach er ein Stück vom Brotlaib ab, tauchte es in ein Honigglas und stopfte sich das süße Stück Brot in den Mund.

»Nicht schon wieder, Schwesterchen. Dir jagen diese Teufel doch nicht immer noch Angst ein?«, schmatzte er.

»Doch, das tun sie. Und ihr zwei tätet gut daran aufzuhören, mich wie ein Kleinkind zu behandeln! Ich weiß, dass es keine Gluroxkrieger mehr geben dürfte. Ich war ja schließlich dabei, als wir ihnen den Garaus gemacht haben. Und doch sollten wir nicht allzu sicher sein. Immerhin werden wir uns auf die Suche nach dieser Hexe machen und glaubt mir, ich kenne Youla besser als jeder andere. Diese Zauberin besitzt große magische Fähigkeiten, und ich rede hier von der verbotenen Sorte der Magie.« Unwirsch begann Annabelle den Tisch abzuräumen.

»He, lass den Honig hier. Ich war noch nicht fertig«, protestierte Finn.

»Jetzt schon«, zischte Annabelle ihren Bruder an.

»Lass gut sein, Finn. Essen kannst du später auch noch. Du bist manchmal so unsensibel, weiß du das«, wies Cathy ihren Freund zurecht und half beim Aufräumen. »Wir sollten jetzt aufbrechen.«

»Unsensibel? Ich? Alles klar, ich versteh schon.« Kopfschüttelnd stand Finn auf und ging nach draußen. Krachend fiel die Tür ins Schloss, wodurch die beiden Mädchen erschrocken zusammenzuckten.

Cathy ging zu Annabelle hinüber und legte ihr den Arm um die Schulter. »He, er meint es nicht so, Annabelle. Komm schon, du hast ja recht, und dein Tee ist wirklich allererste Sahne. Wenn er dann noch schützt, was wollen wir mehr.« Cathy trocknete die letzen Teller ab und sah durchs Fenster, wie Finn draußen derweil ein paar Holzscheite zusammenraffte.

»Schon gut. Du brauchst ihn nicht in Schutz zu nehmen. Er ist manchmal eben plump, wie ein Grullop.«

In diesem Moment kam es Cathy in den Sinn, dass sie, obwohl sie schon seit gut vier Monaten in Termonia lebte, noch immer nicht wusste, was genau ein Grullop war.

»Sag mal, Annabelle, wo findet man diese Grullops? Und was sind das eigentlich für Viecher? Von Milo weiß ich nur, dass sie wohl gut schmecken sollen.«

»Ich selbst hab auch noch keins gesehen, aber von Glox weiß ich einiges über diese Tiere. Sie sollen sehr scheu sein, und größer noch als ein Omihyn. Sie haben sechs Gliedmaßen, die hinteren vier dienen zur Fortbewegung und die beiden vorderen nutzen sie wie Greifarme. Ihr Fell schimmert golden und sie stellen sich auf die Hinterbeine, um an die besten Blätter zu gelangen. Glox erklärte mir, wer einem Grullop einmal in die schwarzen Augen geschaut hat, dem soll ein langes Leben bestimmt sein. Angeblich leben sie in den Wäldern von Termonia. Was den Geschmack angeht, so denke ich, dass Milo dir einen Bären aufbinden wollte. Nie im Leben hat er eines dieser Tiere zu Gesicht bekommen. Ich jedenfalls würde es nie übers Herz bringen, eins zu verspeisen, wenn es mir über den Weg liefe. Es sind sehr magische Wesen, die sich nur dort ansiedeln, wo sie sich in Sicherheit glauben. Die Glurox haben Jagd auf sie gemacht und wahrscheinlich die restlichen hier lebenden Grullops ausgerottet. Das jedenfalls befürchtet Glox, und dass die, die ihnen nicht in die Falle gegangen sind, die Wälder und Termonia für immer verlassen haben.«

»Was meinst du, hat Glox einem Grullop ins Auge geschaut? Zumindest würde das sein hohes Alter erklären«, vermutete Cathy und stellte den letzten Becher in den Schrank.

»Ich weiß nicht, wir können ihn ja fragen. Er ist ganz sicher auch bei Hesekiel.«

Eine halbe Stunde später waren die drei auf dem Weg nach Jorba zu Hesekiel.



Drei
Die Schattenjäger

Eine frische Brise wehte vom offenen Meer in die Hafenbucht von Pelenall und ließ die Schiffe, die draußen am Kai vor Anker lagen, seicht schaukeln. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich glitzernd auf der Wasseroberfläche, als hätten die Götter selbst sie dort platziert. Im Hafen herrschte reges Treiben. Youla flanierte an den großen Handelskoggen entlang und suchte ein Schiff, welches für ihr Vorhaben geeignet war. Um sie herum wirbelten Hafenarbeiter, Matrosen und Schiffskapitäne hektisch auf und ab, als das Wetter schlagartig wechselte. Dunkle Wolkenberge zogen am Horizont auf und kamen bedrohlich auf Pelenall zu. Der Schatten eines riesigen Schiffes zeichnete sich vor der grauen Wolkenwand ab. Es sah ganz so aus, als würde der Dreimaster, der Kurs auf den Hafen nahm, die Schlechtwetterfront hinter sich her ziehen, um sie auf der Stadt niedergehen zu lassen. Die weißen Totenköpfe, die auf gekreuzten Säbeln thronten und sich deutlich von den schwarzen, vom Wind aufgeblähten Segeln abzeichneten, konnte man trotz der großen Entfernung, die noch zwischen dem Kai und dem Schiff lagen, deutlich erkennen. An der Mastspitze des Schiffes wehte eine schwarze Flagge, auf der ein weiterer Totenkopf hässlich grinste. Das weit aufgerissene Maul und die rotglühenden Augen der Galionsfigur ließen die Menschen im Hafen fiebrig durcheinander laufen.

»Das ist die Schattenjäger! Sie wird sich an der Starfire gütlich tun! Seht doch! Das Handelsschiff wird nicht weit genug im Bogen um die Schattenjäger fahren können!«, schrie ein Schiffsjunge aufgeregt und zeigte auf eine Handelskogge, die gerade abgelegt hatte und Kurs aufs offene Meer nahm. Panisch bahnte sich der Bursche einen Fluchtweg durch die Menschenmenge.

Youla fuhr erschrocken herum und schaute ihm ärgerlich nach. Er hatte sie in seiner Hektik übersehen und angerempelt. Solche unvorhersehbaren Berührungen mit dem Pöbel, wie die Zauberin die Einheimischen hier und andernorts stets zu nennen pflegte, mochte sie gar nicht und so überlegte Youla für den Bruchteil einer Sekunde, dem Burschen einen Fluch hinterher zu jagen. Jedoch war dieser zu flink und längst in der Menge verschwunden. Youla strich sich angewidert ihr Gewand glatt und blickte wieder in Richtung Kai hinaus. Die Handelskogge fuhr direkt auf den Dreimaster zu. Immer mehr Schaulustige drängten sich nun nach vorn, um Zeuge dessen zu werden, was gleich geschehen sollte.

Youla sah sich den Dreimaster genauer an und stellte fest, dass dieses Schiff zwar bedrohlich aussah, aber gänzlich unbewaffnet schien.

»Hm, das ist sehr untypisch für Piraten«, platze es amüsiert aus der Zauberin heraus.

»Lassen Sie sich nicht von dem, was sie sehen täuschen, Gnädigste. Dieser Dreimaster ist die Schattenjäger und ihr Kapitän kein geringerer als Landazar Eastvale selbst. Ein übler Bursche, sag ich Ihnen, und erst seine Mannschaft … Eine Dame Ihres Standes sollte sich jetzt nicht hier aufhalten«, riet ein Mann, der neben ihr stand und dessen Uniform erkennen ließ, dass es sich um einen Kapitän handelte.

Youla betrachtete den Mann argwöhnisch. Sein Bauch war so gigantisch, dass die Knöpfe seiner Jacke drohten, jeden Moment wie Geschosse auf die Menge niederzugehen. Vorsorglich trat die Zauberin einen Schritt zur Seite, blieb aber dennoch in seiner unmittelbaren Nähe. Er wartete darauf, dass die Ladung im Bauch seines Schiffes gelöscht wurde, bevor er seine gesamte Aufmerksamkeit den beiden Schiffen zuwandte.

 

»Wie soll ich das verstehen? Und was ist mit der Mannschaft?«, wollte Youla wissen.

»Wie meinen, Gnädigste?« Der Dicke hatte Mühe seinen Blick vom Geschehen abzuwenden.

Youla packte den Mann grob an seinem Arm, riss ihn herum und bohrte ihren Blick in seine Augen. Der füllige Kapitän zuckte schmerzvoll zusammen und starrte die Zauberin im nächsten Moment benebelt an.

»Ich habe dich etwas gefragt!«

Ohne es wirklich zu wollen, brabbelte er drauf los. »Die Mannschaft des Schiffes, das sind keine Menschen. Und auf dem Kapitän lastet seit jeher ein böser Fluch«, hauchte er und japste nach Luft, als würde er gleich ersticken.

Youla lockerte ihren Blick etwas, packte den Mann aber am Schlafittchen: »Ein Fluch? Rede!«

Der Dicke holte tief Atem und starrte Youla in die Augen. »Es gibt einen Guhl mit hohlen Augen und rissigen Lippen«, begann er, löste sich aus Youlas Griff und zuppelte sein Halstuch zurecht. Youla ließ den Mann gewähren.

»Auch wenn er seine Gestalt ändern kann, wie es ihm beliebt, so verrät er sich doch durch den Leichengestank, der von ihm ausgeht. Des Kapitäns rechte Hand ist eine Harpyie mit messerscharfen Krallen und Zähnen. Sie ist nicht so groß, wie die üblichen Harpyien, aber nicht minder gefährlich. Sie hält die Mannschaft in Schach. Ein Gobblin hockt meist im Krähennest, und dann gibt es noch zwei riesige, echsenähnliche Kerle. Die reden nie viel, aber ihr Geifer, den sie ständig absondern, soll hochgiftig sein.«

»Glurox. Interessant.«

In diesem Augenblick schien die Menge gemeinschaftlich den Atem anzuhalten und Youla schaute zum Hafen. Je näher die Schattenjäger kam, umso mehr Menschen suchten eilig das Weite. Eine ältere Dame neben ihr hielt ein Fernglas vor ihre Augen und blickte zu den Schiffen. Youla entriss es ihr, um selber sehen zu können, was da geschah.

»Unverschämtheit. Geben Sie mir sofort mein Glas zurück!«, forderte die Dame, doch Youla winkte nur abwertend in deren Richtung. Die Zauberin blickte zum Kai und sah, dass die beiden Schiffe derweil dicht aneinander vorbeifuhren. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Youla allerdings, dass die Mannschaft der Handelskogge fast komplett verschwunden war. Nur ihr Kapitän befand sich noch immer auf der Brücke und hielt sein Steuerrad fest in den Händen.

»Ich sagte, Sie geben mir sofort mein Glas wieder!« Die Dame griff nach ihrem Glas, riss es Youla vom Gesicht, öffnete ihren Sonnenschirm und verschwand kopfschüttelnd im Gedränge. Youla wandte sich erneut an den dicken Kapitän, der angespannt aufs Wasser starrte.

»Was weißt du noch!?«

Der Kapitän druckste herum: »Da gibt es noch einen, einen einäugigen Riesen unter Deck in der Kombüse, und hin und wieder findet sich ein schwarzer Engel an Deck ein. Letzterer ist aber nicht ständig an Bord.«

»Du sagtest etwas von einem Fluch, der auf dem Kapitän lastet. Was kannst du mir darüber erzählen?«, fragte die Zauberin weiter, hielt den Mann am Arm fest und schaute zum Dreimaster.

Noch war die Schattenjäger nicht am Kai angelangt. Als ein Raunen durch die Menge ging, lösten sich die ersten Ansammlungen schnell auf. Die, die am Hafen zurückblieben, nahmen wieder ihr geschäftiges Treiben auf. An den sehr viel hektischeren Bewegungen der Marktleute und Hafenarbeiter bemerkte die Zauberin, dass die Anspannung jedoch weiter anhielt. Der Dreimaster flößte offenbar allen hier Furcht ein. Jeder wollte so schnell es eben ging fertig werden, um diesen Ort vorerst verlassen zu können.

Youla hakte bei dem fetten Kerl nach: »Was ist mit dem Fluch? Und wieso weißt du so viel über das Schiff und die Mannschaft?«

»Ich war einst unfreiwilliger Passagier an Bord der Schattenjäger. Und dieses Schiff trägt nicht umsonst diesen Namen. Landazar hat keinen eigenen Schatten. Den braucht er aber, um sein Schiff verlassen zu können. Dieses Handelsschiff, die Starfire, segelt bereits ihrem Verderben entgegen. Denn alle Schatten, die es je auf diesem Schiff gab, befinden sich nun auf der Schattenjäger«, berichtete der Mann nicht ganz freiwillig.

Youla horchte auf. »Aber wie um alles in der Welt kann jemand Schatten stehlen?«

»Wie er es tut, weiß ich nicht, nur dass er es tut. Unter Deck der Schattenjäger befinden sich viele Fässer. Jedes einzelne ist mit Pech verschmiert, sodass kein einziger Lichtstrahl hindurchdringen kann. In diesen Fässern bewahrt Landazar die gestohlenen Schatten auf. Und wenn er einen Landgang plant, so wie heute, dann braucht er sich nur zu bedienen. Sein Vorrat ist schier unerschöpflich, denn auf den Meeren gibt es jede Menge Schiffe, die ihm Nachschub liefern. Wenn sie mich nun entschuldigen würden, ich muss mich um mein eigenes Schiff kümmern und schauen, dass ich fortkomme, denn ich möchte meinen Schatten gern behalten und wenn Sie schlau sind, tun Sie das Gleiche«, legte der Mann ihr nahe, hob kurz seinen Hut zum Gruß und verschwand in der Menge.

Youla schenkte ihm keine große Beachtung mehr, denn sie hatte genug in Erfahrung bringen können. Dieser Kapitän kam ihr wie gerufen. Was passte perfekter in ihren Plan als ein Mann, der über keinen eigenen Schatten verfügte. Er würde sicher nur zu gern Kurs auf Nemelist nehmen, um in den Besitz des Schleiers zu gelangen.

Die Zauberin blickte zufrieden zum Kai. Das Objekt ihrer Begierde lief gerade in den Hafen ein. Youla steuerte auf den Kai zu, der nun nahezu menschenleer war, um dem Kapitän des Schiffes ihre ganz persönliche Aufwartung zu machen. Jetzt konnte sie die Umrisse des Piratenkapitäns ausmachen, der ohne jede Regung hinter seinem Steuerrad stand und unbeirrt Kurs auf den Hafen hielt. Eine Handbewegung seinerseits und auf der Schattenjäger wurden die Segel eingeholt und an der Takelage befestigt.

Das ist genau der Richtige für mein Vorhaben, dachte die Zauberin zufrieden und beobachtete, fast ein wenig ungeduldig, wie die merkwürdig anmutende Mannschaft der Schattenjäger die dicken Taue an der Kaimauer befestigte und sich dann mit aller Kraft in die Riemen legte, um den Dreimaster längsseits zu vertäuen.

»Eilt euch gefälligst, lahmer Haufen. Ich will in diesem Kaff nicht übernachten«, brüllte der Kapitän und kam langsam von der Brücke herab. Youla erreichte das Schiff in dem Moment, als das Laufbrett befestigt wurde. Kapitän Landazar stand oben und setzte einen Fuß auf das Holz. Youla legte ihr schönstes Lächeln auf und wollte den Kapitän in Empfang nehmen, als eine Harpyie mit weit aufgerissenem Maul und ausgefahrenen Krallen schreiend auf die Zauberin herabstürzte. »Geh aus dem Weg, Frauenzimmer!«

Im letzten Moment konnte Youla ihren Kopf in Sicherheit bringen. Aufgeregt beäugte der Guhl die Situation und der Gobblin, der gerade aus dem Krähennest kletterte, feuerte die Harpyie lachend an.

»Los Onori, mach sie alle. Fando kann sie dann für uns zubereiten. Das gibt ein köstliches Mal.«

Die beiden Glurox standen reglos an den Tauen, die sie gerade vertäut hatten, und beobachteten das Geschehen stumm.

Youlas rotglühender Blick haftete nun auf der Harpyie und im nächsten Augenblick schoss ein feuriger Blitz aus den Augen der Zauberin. Geschickt schlug die Harpyie einen Haken und Youla verfehlte das Biest um Haaresbreite. Krachend schlug der Zauber in den Bauch des Schiffes und hinterließ ein unschönes Loch im Holz. Schlagartig verging dem Gobblin das Lachen. Die Harpyie aber drehte ab und startete den nächsten Angriff auf die Zauberin.

»Halte ein, Onori!«, donnerte die raue Stimme Landazar Eastvales, der sich auf der mittleren Höhe des Laufbretts befand. Die Harpyie stoppte augenblicklich, flog zu ihrem Herren und setzte sich auf dessen Schulter.

Youla blickte den Kapitän an. Landazar Eastvale war eine imposante Erscheinung. Was auch immer für Gründe es sein mochten, dass sich manche Menschen Haare im Gesicht wachsen ließen, bei diesem Kerl war es ganz sicher Ausdruck seines Charakters. Diese ungeheure Menge schwarzer Haare, die wie Zweige eines Baumes wucherten, ließen selbst die Zauberin für einen kurzen Augenblick ins Wanken geraten. Dieser Bart war pechschwarz und der Kapitän hatte ihn zu einer unglaublichen Länge heranwachsen lassen. Die Breite des Gesichtshaares war auch nicht zu verachten, es stand ihm bis an die Augen und war mit Bändern zu kleinen Zöpfen gezwirbelt worden, die der Kapitän sich um die Ohren gewickelt hatte. Unter seinem Hut wucherte sein Haupthaar, das seitlich vom Kopf abstand und sein Gesicht und seine Augen rahmte. Diese wild und grausam schauenden Augen ließen den Kapitän wie eine Furie, die mitten aus dem tiefsten Itros stammte, erscheinen. Youlas Blick wanderte weiter und entdeckte die Pistolen … vier Stück an der Zahl, die in Holstern über seinen Schultern hingen. In der Tat, dachte Youla, dieser Mann weiß, was er will und was nicht. Und was er nicht hatte, war ein eigener Schatten. Genau das war es, was die Zauberin suchte.