Buch lesen: «Himmlisch frei»
RENATA SCHMIDTKUNZ HIMMLISCH FREI WARUM WIR WIEDER MEHR TRANSZENDENZ BRAUCHEN
Renata Schmidtkunz:
Himmlisch frei
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 edition a, Wien
Cover: JaeHee Lee
Satz: Isabella Starowicz
ISBN 978-3-99001-319-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Für meine Mutter Marianne Antonie
und meine Tochter Lena Marie Antonie
Inhalt
Die Entvölkerung des Himmels
Der Zauber der Welt
Die entzauberte Welt
Alles Gute und Schöne
Mein neuer Gott
Himmlische Freiheit
Dank
Fußnoten
Literaturliste
Die Entvölkerung des Himmels
∞
Wie mir das Thema dieses Buches bewusst wurde
Heutzutage, schreibt der deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk in seinen unter dem Titel Neue Zeilen und Tage erschienenen Notizen, rückt jeder, der lesen und schreiben kann, mit seinem Befund über die kranke »Gesellschaft der Gegenwart« heraus. Die »Gesellschaft« wird so zu dem meist-überdiagnostizierten Patienten. Wäre ich »die Gesellschaft«, ich wüsste nicht, woran zu leiden ich mir aussuchen würde.
Auch ich rücke in diesem Buch mit meinem Befund heraus. Allerdings bezieht er sich nicht auf »die Gesellschaft«, denn unsere Gesellschaften waren bis vor kurzem, sagen wir bis vor zehn oder fünfzehn Jahren, eigentlich ganz in Ordnung. Zumindest an der Oberfläche.
Vielmehr geht es mir um jene, die diese pluralistische, demokratische, soziale und menschliche Gesellschaft angreifen, und vielleicht sogar zerstören wollen. Ihre treibenden Motive sind Herrschsucht und Gier. Ihre Taktiken und Strategien sind Aushöhlung, Spaltung, Lüge, das Überschreiten aller ethischen Grenzen, die Zerstörung von ethischen Vorbildern, die permanente Attacke auf öffentlich-solidarische Institutionen, auf Religionen, auf Kunst und Bildung, Militarisierung und gezielte Verarmung ganzer Bevölkerungsteile.
Was wir dem politisch entgegenhalten können und müssen, darüber schreiben im Moment viele Autorinnen und Autoren. Ich möchte in diesem Buch danach fragen, was uns seelisch bestärken kann, woran wir uns in dieser Zeit der absichtsvollen Vernebelung und Infragestellung aller bisher gültigen humanen Werte halten können und sollen.
Denn irgendwann spürte ich ihn, diesen Bruch mit der Welt, in der ich aufgewachsen war. Natürlich ging dem plötzlichen Verstehen ein langer Prozess von kleinen und größeren Beobachtungen voraus. Dinge, die mich irritierten, mich vielleicht auch verunsicherten oder verängstigten. Ordnungen, die mein Leben eingerahmt und gehalten hatten, zerbröselten langsam, aber merkbar.
Die Erfindung der Alternativlosigkeit
Es begann Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre. Die – wie mir schien – Selbstverständlichkeiten, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut war, gerieten irgendwie aus dem Gleichgewicht. So zum Beispiel der Sozialstaat, von dem es plötzlich hieß, er sei nicht mehr leistbar. Die Menschen könnten nicht länger in den »sozialen Hängematten« liegen. Leistungsfähig sei nur, wer in ständiger Konkurrenz zu anderen lebe.
Weil ich das nicht glauben wollte und konnte, war ich im Jahr 2001 eine der Mitinitiatorinnen des Volksbegehrens Sozialstaat Österreich1. Wir befürchteten, dass sich der österreichische Staat in Richtung einer liberalen Armenversorgung entwickeln könnte, die Almosen verteilt, ohne dass ihre Empfänger ein verbrieftes Recht darauf hätten.
Sozialpolitik ist aber nicht nur für sozial Schwache wichtig, sondern auch für die Mittelschicht. Lebensstandard und der soziale Friede hängen von einem gefestigten und funktionierenden Sozialstaat ab. Der wiederum ist eine politische und gesellschaftliche Übereinkunft und Entscheidung.
Wir ahnten damals nicht, wie recht wir mit unseren Befürchtungen hatten. Damals lebten wir noch in der Fülle des Sozialstaates, Denker und Wissenschaftler sahen aber voraus, was kommen würde. Auch sie ahnten allerdings nicht, wie schnell.
Eine andere Attacke zielte auf die Alten. Sie, die immerhin die Welt, in der meine Generation aufwuchs, geschaffen hatten, wurden bezichtigt, den Gesellschaftsvertrag zu sprengen. Mit ihren unbotmäßigen Renten, ein über Jahrzehnte erkämpftes probates Mittel gegen Altersarmut, würden sie den Jungen die Zukunft stehlen, hieß es vermehrt.
Zu diesem fundamental unsolidarischen Angriff gab es auch einen passenden Werbespot der Wiener Städtischen Versicherung. Ein Vater sitzt mit seinem kleinen Sohn im Kaffeehaus. Der Sohn – er ist vielleicht sechs Jahre alt – bekommt ein großes Stück Torte, welches er um keinen Preis mit seinem Vater teilen möchte. Dazu eine sonore Stimme:
Wollen Sie wirklich von der Großzügigkeit Ihrer Kinder abhängig sein?
Ich erinnere mich lebhaft an die Empörung, die dieser Werbespot bei vielen und auch bei mir auslöste.
Auch die Kirchen, die, trotz aller berechtigten Kritik, gerade in ethischen Fragen eine essenzielle Ordnungsfunktion haben, werden nun zur Zielscheibe von Medien und Politik. In Punkten wie der Unbeweglichkeit der römisch-katholischen Dogmenlehre beim Priesteramt für Frauen, bei Missbrauchsfällen oder der Abtreibungsdebatte, oder bei den politischen Verwerfungen in der Geschichte Europas, wie etwa der Kollaboration der Evangelischen Kirche Österreichs mit dem Nazi-Regime, völlig zu Recht.
Aber, fragte ich mich, muss man das Kind mit dem Bade ausschütten? Stehen die religiösen Traditionen Europas nicht auch ohne jedes Fragezeichen für die Würde des Menschen ein? Erinnern sie uns mit ihrem karitativen und seelsorglichen Engagement nicht auch an die Unantastbarkeit der Menschenrechte und daran, dass jeder Mensch wertvoll ist und ein unbedingtes, nicht hinterfragbares Lebensrecht hat? Etwa wenn es um Euthanasie, Flüchtlingshilfe oder das Engagement für Behinderte, Obdachlose und alleinerziehende Frauen geht?
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher sagte im Mai 1980 auf der Conservative Women’s Conference, der jährlichen Konferenz der Conservative Women’s Organisation:
We have to get our production and earnings in balance. There’s no easy popularity in what we are proposing, but it is fundamentally sound. Yet I believe people accept there is no real alternative. (Wir müssen unsere Ausgaben und Einnahmen ins Gleichgewicht bringen. Das, was wir vorschlagen, wird unpopulär sein, aber es ist ganz grundsätzlich vernünftig. Ich glaube, dass die Menschen akzeptieren werden, dass es keine wirkliche Alternative gibt).
Damit war das sogenannte TINA-Syndrom (There Is No Alternative) geboren, und diese seither von vielen Politikerinnen und Politikern gebetsmühlenartig wiederholte »Alternativlosigkeit« sickerte über die Jahre und Jahrzehnte in die Gehirne der Menschen in ganz Europa ein.
Die aufgrund dieser angeblichen Alternativlosigkeit verwirklichten »Reformen« (Rückbau des Sozialstaates, der Bildungssysteme, Liberalisierung der Wohnungsmärkte, Privatisierung von Gesellschaftseigentum, und so weiter) verursachten und verursachen immer wieder große Protestwellen, was aber nichts an dem seit Beginn der 1990er Jahre vollzogenen Umbau unserer europäischen Gesellschaften änderte.
Das Diktat der Effizienz
In dieser Phase tauchte am Horizont des öffentlichen Diskurses auch das Effizienz-Gespenst auf. Evaluierung und Qualitätskontrolle, eigentlich wichtige Werkzeuge eines demokratischen Rechts- und Sozialstaates, mutierten zu Beherrschungsinstrumenten zugunsten der Ökonomie.
Ein zum Teil unbarmherziger Kapitalismus veränderte mit seinem Diktat der »Bezifferung der Welt«2 unsere westlichen Gesellschaften bis zur Unkenntlichkeit. Westeuropäer, die sich hier »Humanisten« und »von den Gedanken der Aufklärung geprägt« nannten, verdienten im völlig deregulierten und von einer Goldgräberstimmung erfassten Osten Europas mit Privatisierungen Milliarden. Die Osteuropäer, die dem Versprechen der »blühenden Landschaften« geglaubt hatten, sahen sich nicht nur der westlichen Entwertung ausgesetzt, sondern auch einem brutalen Lebenskampf. Zwangsprostitution und Sklavenwesen waren im Herzen Europas wieder möglich geworden3.
Kritikerinnen und Kritiker nennen diese neue Art des Effizienzdenkens »Neoliberalismus«. Eines der wichtigsten Merkmale des Neoliberalismus ist ein ausgeprägtes Nutzen- oder Gewinndenken: Was nichts bringt, wird nicht mehr gemacht.
Die Philosophin Hannah Arendt weist 1972 in ihrem Buch Vita activa oder Vom täglichen Leben unter Bezugnahme auf Karl Marx darauf hin, dass die Entwertung der Werte einer Gesellschaft damit beginnt, dass man alles zu Werten beziehungsweise zu Waren macht.
Dieses Denken führt dazu, dass etwas, das man nicht in Geld bemessen kann, seine Gültigkeit, mehr noch, seine Existenzberechtigung und Wertschätzung in der Gesellschaft verliert. So zum Beispiel alle menschlichen Eigenschaften, oder, um dieses altmodische Wort zu verwenden, Tugenden, die sich in selbstlosem Tun anderen oder der Gesellschaft gegenüber ausdrücken.
Doch das, was uns zu menschlichen Menschen macht, lässt sich nicht in Geld bemessen. Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Aufmerksamkeit, Liebe, Fürsorge, jemanden etwas lehren, das Nachdenken, Solidarität und Mitgefühl, Barmherzigkeit und Freude, um nur einige Beispiele zu nennen, sind im Denksystem des Neoliberalismus wertlos. Denn niemand kann sich den Ertrag von Menschlichkeit auf sein Privatkonto verbuchen. Jene, die gerne alles, außer das von ihnen verursachte Elend, privatisieren würden, bestimmen heute den öffentlichen Diskurs.
Wie kann ein lebendiges Lebewesen an diese uns täglich präsentierte Alternativlosigkeit glauben, begann ich mich zu fragen. Wir sehen jeden Tag an uns selbst, an anderen Menschen und allem, was uns umgibt, dass es immer Alternativen gibt. Man kann sich immer entscheiden, für das eine oder das andere. Leben bedeutet geradezu, Alternativen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Dazu gibt es dann noch so vieles, worüber wir keine Macht haben, und womit wir trotzdem umgehen müssen. Wie können Menschen, die wir wählen und die in unserem Namen verantwortlich handeln sollten, also von Alternativlosigkeit sprechen? In wessen Sold stehen sie, wessen Agenda verfolgen und wem nützen sie? Und was ist ihnen entgegenzustellen?
Die Folgen des Religionsverlustes
Diese Frage führte mich zum Thema des Buches, das Sie in Händen halten.
Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen. Mein Vater und meine Mutter betrachteten ihren Beruf mehr als Berufung und ordneten daher auch unser Familienleben dieser Aufgabe unter. Eines der Grundprinzipien, die ich in diesem Elternhaus lernte, war, dass wir als Mensehen Verantwortung zu übernehmen und uns für eine bessere Welt einzusetzen haben. Eine bessere Welt war für uns eine Welt der Gerechtigkeit, der Liebe, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung, um es plakativ zu formulieren.
Das Fundament dieser Überzeugungen meiner Eltern bildete der Glauben an einen Gott der Liebe, der die Welt geschaffen und den Menschen geschöpft hat. Leben hieß und heißt in der Welt meiner Eltern, in der Welt des Protestantismus, in der ich aufgewachsen bin, aktiv an einer besseren Welt mitzuwirken und sich gegebenenfalls zu diesem Zwecke auch politisch zu engagieren.
Mit dieser Mitgift begann ich 1983 ein Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Wien. Ein Auslandsjahr am Centre universitaire protestant in Montpellier trug nicht nur zur Verbesserung meiner Französischkenntnisse bei, sondern brachte mir auch Geschichte und Gegenwart des französischen Protestantismus näher. Er war gekennzeichnet von blutigen Verfolgungen und dem Widerstand gegen jede Art von ungerecht handelnder Obrigkeit.
In diesem Studium der Theologie lernte ich, strukturell zu denken und eine der zentralen Fragen kritischen Denkens zu stellen: »Cui bono?« Auf Deutsch: »Wem zum Vorteil?« Das verdanke ich zuallererst meiner Wiener Professorin Dr.in Susanne Heine, die mich förmlich anstachelte, kritische Fragen zu stellen und selbst zu denken.
Außerdem lernte ich, dass der Mensch fähig ist, über sich selbst hinaus zu denken und zu hoffen, dass er Ideen und Ideologien erdenken kann, dass manche »Wahrheiten« den Moden der Zeit geschuldet sind und sich die Fragen der Menschheit trotz aller Erkenntnisse und Erfindungen wenig ändern: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Warum gibt es Leiden? Was ist gut? Was ist böse? Warum müssen wir sterben?
Dass ich trotz meiner elterlichen Vorbilder nicht Pfarrerin werden wollte, war mir schnell klar. Zu lange hatte ich im Glashaus gesessen, denn Pfarrersfamilien wurden vor vierzig Jahren von den Gemeinden noch als öffentliches Gut betrachtet und genau beobachtet.
Durch Zufall, aber dann dafür mit umso größerer Leidenschaft, wurde ich Religionsjournalistin. Zwar würde ich mich selbst heute nicht mehr als religiös im traditionellen Sinn bezeichnen und schon gar nicht bin ich missionarisch motiviert, die Welt der Religionen ist aber wegen ihrer Vielfalt und philosophisch-theologischen Buntheit nach wie vor mein Steckenpferd, vielleicht sogar meine Leidenschaft. Denn ohne ein Wissen über Geschichte und Gegenwart der Religionen ist unsere Welt kaum zu verstehen.
Die Ideen- und Geistesgeschichte der vergangenen Jahrhunderte hat dazu geführt, dass die europäischen Gesellschaften sich mehr und mehr von den Kirchen, die mindestens bis in die 1980er Jahre auch über viel gesellschaftliche Macht verfügt haben, distanzierten. Ethische und moralische Grundsätze werden nicht mehr nur religiös, sondern überwiegend humanistisch begründet.
Den Religionsverlust, der sich auch in schwindenden Mitgliedszahlen, vor allem, aber nicht nur, in den protestantischen Ländern Europas zeigt, empfinden aber viele Menschen auch als persönlichen Verlust und Kränkung, weil sie Sehnsucht nach Religiosität haben und sie als menschliches Grundbedürfnis erleben.
Angefeuert durch die »There is no alternative«-Rufe der Politik macht sich in unserem transzendenzlosen Alltag Orientierungslosigkeit und Verzagtheit breit.
Der gebeugte Konsument
2010 drehte ich in Budapest einen Film für den europäischen Kultursender 3sat. Zwischen Humor und Verzweiflung. Ungarns Weg durch die Krise lautete der Titel. Ich hatte mir vorgenommen, nach der Wiederwahl Viktor Orbáns und dem sofort einsetzenden Umbau der ungarischen Gesellschaft, Künstlerinnen und Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler danach zu fragen, wie sie mit den Veränderungen umgehen und wie jene sich auf Kunst, Politik und Gesellschaft auswirken.
So kam ich unter anderem in die Kunsthalle am Platz der Helden im Zentrum Budapests. Man zeigte die Ausstellung Over the Counter (Über den Ladentisch)4. Künstlerinnen und Künstler aus vielen Ländern des ehemaligen sogenannten Ostblocks stellten aus. Sie thematisierten die völlige Ökonomisierung der osteuropäischen Gesellschaften. Und auch 21 Jahre nach der sogenannten Wende schienen sie noch unter Schock zu stehen, war es ihnen offensichtlich noch nicht gelungen, sich im neuen System zu beheimaten.
Ein Kunstwerk blieb mir besonders in Erinnerung: Auf einer weißen Wand waren mit einer einfachen schwarzen Linie zwei menschliche Figuren gemalt. Eine stand aufrecht und hielt, offensichtlich demonstrierend, ein Schild hoch. Darunter war geschrieben: »Citoyen« (»Bürger«). Aber das Wort war durchgestrichen. Daneben stand eine zweite Figur, gebeugt, mit hängenden Armen, links und rechts mit schweren Einkaufstüten behängt. Darunter stand das Wort: »Consumer« (»Konsument«).
Mit wenigen Strichen hatte es diese Grafik geschafft, zu zeigen, wie die ökonomischen Veränderungen auch die politischen Strukturen und die Rolle des Individuums in ihnen verändert haben. Aus dem Bürger, der Bürgerin wurde der Konsument, die Konsumentin. Zu konsumieren ist seine und ihre Lebensaufgabe und die einzig zulässige Rechtfertigung seines, ihres Daseins.
»Wir haben eine Gesellschaft, in der es kein Vertrauen gibt und keine Idee vom Gemeinwohl, keinen Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit. Die Tradition ist zerstückelt, die Zukunft existiert nicht. Also, was wollen wir?«, sagte mir der rumänisch-ungarische Philosoph Gáspár Miklós Tamás, Mitinitiator der »Runden Tische« während und nach der Wende in Ungarn, damals im Interview.
Mit den Füßen auf der Erde und dem Kopf im Himmel
Ja, was wollen wir?
Der Himmel ist leergeräumt, die Gottheiten haben ausgedient. Und wenn nicht, sind sie Konsumgüter im Supermarkt möglicher Weltanschauungen und Religionen. In seinem Buch Nach Gott schreibt Peter Sloterdijk, dass in der klassischen Antike die Götter unsterblich waren und die Menschen als irdischer Widerpart der Götter den Namen »die Sterblichen« trugen. Aber längst ist uns klar geworden, dass der am Ende des 19. Jahrhunderts diagnostizierte »Tod Gottes« wirklich stattgefunden hat. Und dieser Tod hat nicht zuletzt mit unseren ökonomischen und technologisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen und Rahmenbedingungen zu tun. Was für das einzelne Individuum die Sterblichkeit ist, ist für Zivilisationen und deren Gottheiten ihre Geschichtlichkeit. Beide haben immer auch ein Ablaufdatum.
Die Tatsache, dass die Moderne eine über uns thronende, uns belohnende und bestrafende Allmacht abschaffte, macht im Umkehrschluss den Menschen zum allmächtigen Wesen. Der Mensch als allmächtiger Schöpfer und Zerstörer tut der Menschheit aber nicht gut. Wir sehen es jeden Tag. Ein Blick in die Medien genügt.
Transzendenz zu denken, sich darin zu üben, davon auszugehen, dass es einen Bereich gibt, der jenseits unseres Verstehens und unseres Einflusses ist, bedeutet neben vielem anderen auch, Distanz zum Weltgeschehen zu bekommen. Es ist eine Distanz, die befreien kann von jenen Trieben, die unsere Welt und die Menschheit im Moment zu zerstören drohen. Es ist eine Distanz, die befreien kann von dem Wunsch, alles alleine zu besitzen, dem Wunsch, die Welt und was auf ihr wächst und existiert, nicht teilen zu wollen.
Wenn gläubige Menschen in allen Religionen der Welt zum Beispiel sagen, wir seien nur zu Gast auf diesem Planeten, er sei uns nur zur pfleglichen Verwendung anvertraut worden, wenn also ein transzendenter Besitzer zwischen uns und unsere Erde gestellt wird, werden wir mit dieser Erde vielleicht besser umgehen, als wir es im Moment tun.
Wenn das Fremdenrecht ein Gebot einer göttlichen Allmächtigkeit ist, werden wir Menschen, die aus welchen Gründen auch immer und mit friedlichen Absichten oder gar aus Not zu uns kommen, wahrscheinlich freundlicher aufnehmen, als wenn wir davon ausgehen, dass das Land, in das wir durch Zufall hineingeboren wurden, das durch Zufall keinen Krieg und keine Hungersnot zu leiden hat, uns gehört. Und zwar nur uns.
Woher werden wir jetzt und in Zukunft die Ideen, die Utopien, die Kraft und den Mut nehmen, uns den sich weltweit zuspitzenden Problemen von Klimawandel, Rassismus und letztlich der Zerstörung des Planeten entgegenzustellen? Und wie kann es uns gelingen, trotz der technologischen Entwicklungen, trotz Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, das Wohl der real existierenden Menschen nicht aus den Augen zu verlieren? Wie begründen wir unser individuelles und kollektives Tun, wenn es keinen Gott im Himmel gibt, dessen Gebote uns im humanen Zaum halten?
Zu denken, dass es jenseits unserer materiellen Wirklichkeit einen offenen Raum gibt, einen Raum der Freiheit, erweitert unsere Wahrnehmung von uns selbst, der Gemeinschaft und der Welt, in der wir leben. Im schönsten Fall wird diese Vorstellung uns dabei helfen, entsprechend unserer Überzeugungen frei und selbstbestimmt zu leben. Das Wissen um die Unendlichkeit von Zeit und Raum, die in vielen Religionen der Welt »Gott« oder »das Sein« genannt wird, kann das Denken beflügeln und zu innerer Freiheit und Selbstbestimmtheit führen.
Vielleicht ist es auch so: Wenn wir nicht mit den Füßen auf der Erde und dem Kopf im Himmel durch das Leben gehen, werden wir grau und mutlos, und unsere Seelen werden verkümmern.
In diesem Sinne verwende ich im vorliegenden Buch das Wort Transzendenz. Zunächst kommt es von dem lateinischen Wort transcendere und meint einfach »etwas überschreiten«. Die Bewegung des menschlichen Geistes im Denken beschreibt man auch als einen Prozess des Transzendierens. Im Denken an oder über etwas, das die vorfindliche Wirklichkeit übersteigt (zum Beispiel in einer Sklavengesellschaft an die Freiheit aller Menschen zu glauben und dafür zu kämpfen), ist also ein Prozess des Überschreitens, auch des Weiterschreitens. Denn was gedacht ist, kann so auch Wirklichkeit werden.
Die Tatsache, dass ich als Frau heute ein selbstbestimmtes, freies Leben führen kann, verdanke ich Generationen von Frauen und auch Männern, die dafür gekämpft haben. Sie glaubten wider den Zeitgeist an die Gleichwertigkeit der Geschlechter. Außerdem lehnten sie eine Rechtsordnung ab, die Unrecht zu Recht machte.
In Geschichte und Gegenwart gab und gibt es Menschen, die von der Idee der denkerischen Freiheit und dem daraus entstehenden Bedürfnis nach einem autonomen Leben so begeistert und überzeugt waren, dass sie auch bereit waren, dafür einen hohen Preis zu zahlen. Von solchen Menschen wird in diesem Buch die Rede sein. Auch von Begegnungen mit Menschen, die mich beeindruckten und inspirierten und manchmal auch ein Grund waren, Dinge in meinem Leben zu ändern.
Aber es wird auch um die Frage gehen, was es heißt, frei und selbstbestimmt leben zu wollen und wie wir das in Gemeinschaft mit anderen tun können. Wozu brauchen Menschen heute noch Religion, oder geht es uns ohne Religion vielleicht doch besser? Was treibt uns an, Gutes zu tun, und was ist gut?
Was Sie erwartet, ist keine theologische oder religionsphilosophische Abhandlung, obwohl ich manchmal in diese Gefilde reisen werde, um Zusammenhänge zu erklären. Ich schreibe dieses Buch als Beobachterin, als Journalistin mit Steckenpferd. Ich schreibe es auch, weil ich in den vergangenen zwanzig Jahren in Interviews mit außergewöhnlichen Menschen zu außergewöhnlichen Fragestellungen für die Hörfunk-Sendereihe Im Gespräch (Radio Österreich 1), sowie in Gesprächen mit Freundinnen und Freunden immer wieder feststellte, dass sich die Fragen nach dem Woher und Wohin, nach Gerechtigkeit und dem guten Leben für alle häufen. Und weil ich glaube, gemerkt zu haben, dass ich nicht die einzige bin, die Ordnung in ihr areligiös-rational-emotional-politisches Denksystem bringen muss.