Lepanto

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Reinhard Schuch

Lepanto

Roman

Leykam

Zitat

He sees as in a mirror on the monstrous twilight sea

The crescent of his cruel ships whose name is mystery

(G. K. Chesterton: Lepanto)

Die Ode an Delian

Im Jahr des Mauerbaus und der großen Explosion startete eine Douglas DC-3 in Wien. Sie stieg gegen den Himmel, als die Erde in Russland noch zitterte und auf den Kontinenten die Seismographen ausschlugen. Zur gleichen Zeit reihte man in Berlin Stein an Stein, bis die Mauer die Stadt wie einen Brotlaib entzweischnitt. Die Mauer war von der Explosion durch zwei Meere, vier Länder und mehrere Gebirge getrennt, und dennoch gab es eine geheime Verbindung zwischen ihnen – wie bei Zwillingen, die ein Zusammentreffen meiden, aber in ihrem Inneren zusammengehören.

Es war ein drückender, lichtloser Tag. Das Flugzeug stieß in eine Dunstglocke, die über halb Europa hing und die Hygrometer zum Klettern brachte und die Lebensgeister zum Sinken. Es verschwand in Wolkenfetzen, tauchte wieder auf und kletterte höher in einen verschwommenen Waschküchenhimmel.

Mit an Bord waren seine Eltern.

Viele Jahre später stellte er sich vor, wie sie am Fenster saßen, aneinander gelehnt oder vielleicht Hand in Hand, und sich freuten: über ihre erste richtige Reise und weil sie gerade geheiratet hatten. Er stellte sich vor, dass nicht ein halbes Jahrhundert vergangen war, sondern dass es gestern gewesen war und ihre Erzählungen über Griechenland und den Maler mit seiner Vorstellung eine Einheit bildeten.

Sie waren in ihr Lieblingsland gereist, das sie nur aus Büchern kannten, die ihre Köpfe mit Göttern, Inseln und Bildern von einem Meer, größer als jede Vorstellung, gefüttert hatten.

Größer als so manches war auch ihr erster Flug. Auf dem Sitz angegurtet spürten sie, dass die Kabine bebte und das Flugzeug mit den Flügeln schlug – wie ein Vogel, der dem Himmel und der Freiheit entgegenflattert. Sie schauten in ein Wassergrau, das nicht aufhellte, und hofften auf einen anderen Himmel als diesen in Grautönen zerfließenden, einen anderen Himmel als den trüben der Nachkriegszeit.

Wenige Wochen vor der großen Explosion war in den Kentucky News eine Randnotiz zu einer Ausstellung zu lesen: Ein junger Maler aus Lexington in Virginia hatte erstaunliche ästhetische Visionen zu Papier gebracht, wie es hieß. Die Kritik war kurz und voll des Lobes. Der Maler werde noch auf sich aufmerksam machen, schloss der Artikel, ein außergewöhnliches Talent, das zu großen Hoffnungen Anlass gebe.

Niemand in Wien kannte Lexington oder die Kentucky News. Lexington lag jenseits des großen Teiches, inmitten endloser Wälder, früher die Heimat der Cherokees. Seine Eltern hatten weder von der Stadt, die als Pferdehauptstadt galt, noch von der Zeitung jemals gehört. Und dennoch, so wollte es der Zufall, sollten sie dem Maler bald begegnen.

Noch saßen sie in der Douglas, nichts ahnend von der größten Explosion der Menschheitsgeschichte. Hoch oben in der Luft war man geschützt, und die Nachrichten drangen nicht zu einem. Unten konnte sich die Welt ruhig sorgen. Unten war aus dem heißen Krieg ein kalter geworden, und man wusste im Kalten Krieg nie, was der andere tat, man wusste nicht einmal, was man selbst tat. Und unten war etwas passiert: Auf der langen Insel im Arktischen Ozean, die von hoch oben wie ein ausgefranster Wurm aussah, war eine Bombe explodiert, größer und giftiger als alle bisherigen. Die Bombe hatte den Wurm geritten und ihn verwüstet und vernichtet für viele Jahre.

Davon unberührt hatte die Douglas ihre Flughöhe erreicht. Sie war ein technisches Wunderwerk und leuchtete wie ein weißes Kreuz am Himmel. Man sah ihr nicht an, dass die Inselbombe ihre Schwester war, die hässliche Missgeburt, die aus den gleichen Werkstätten, dem gleichen Denken kam wie das Flugzeug. Mit einem eleganten Schwenk überquerte die Douglas die Donau, flog über den Plattensee und über die pannonische Ebene. Sie meisterte Turbulenzen über den Bergen von Montenegro und landete planmäßig in Athen.

Ein sonniger Tag empfing die Passagiere auf dem Flughafen, wärmer als alle Sommertage davor in Wien. Eine flirrende Wärme, welche die Gehsteige in der Stadt weich und klebrig machte. Nach allem, was er wusste, nahmen seine Eltern ein Zimmer in der Plaka, der verwinkelten Altstadt, stiegen am Morgen auf die Akropolis, aßen zu Mittag Lamm und schifften sich danach in Piräus ein.

Das Schiff hieß Jason. Es war das merkwürdigste, das sie je gesehen hatten. Jahresringe aus Rost schmückten es, als läge seine Geburtsstunde in der Antike. Aus dem Schiffsbauch ein Geräusch wie aus dem Hades, der von seinem Vater verschlungene Totengott schien in dem Dieselmotor zu jammern. So furchterregend war die Jason, dass die Fische in Schwärmen die Flucht ergriffen. Die Ängstlichen unter den Passagieren suchten Beruhigung im Raki, der sie in einen unruhigen, schaukelnden Schlaf beförderte. Sie träumten von sprechenden Pferden, Frauen mit Vogelköpfen, versteinerten Riesen, von geflügelten Löwen, Windmühlen und aus dem Meer ragenden Kirchen.

In den Träumen spiegelten sich die Wunder Griechenlands.

Auch die Jason war ein Wunder. Sie hielt sich über Wasser und kämpfte einen halben Tag und eine Nacht gegen einen wütenden Südwind, begleitet von Möwen und einem Mond mit einem erst weißen, später rötlichen Hof. Man staunte an Bord über den Mond. Eine riesige Scheibe, größer als alles bisher Gesehene. Sein Licht fraß die Sterne auf und überzog die Ägäis mit einem weißen, durchsichtigen Leintuch.

Die Eltern hatten ihm erzählt, dass sie auf dem Deck schliefen. Es sei warm gewesen, und sie rollten auf den Planken ihre Schlafsäcke aus. Ein weiterer Raki erleichterte das Einschlafen. Sie schliefen schlecht und träumten von einem vorbeifahrenden Schiff mit hunderten Lichtern, auf dem Musik spielte und getanzt wurde. Am Morgen beschrieben sie es sich gegenseitig und kamen zu dem Schluss, dass das geträumte Schiff ein wirkliches Schiff war, womöglich ihr Hochzeitsschiff. Sie lachten und rückten in den feuchten Schlafsäcken enger zusammen. Viel Schlaf fanden sie nicht mehr, denn bald stieg die Sonne aus dem Meer, ein gelbes Monster, das sofort Glut spie. Um Sonne und Mond, das sollten sie bald erkennen, drehte sich alles in diesem Land; sie verursachten die Hitze, die Gezeiten und den Wind, sie machten die Köpfe und Gliedmaßen schwer.

Kurz vor der Ankunft tauchte Delos auf. Die Insel lag Mykonos gegenüber und schwamm wie ein Trugbild auf der spiegelnden See. Der Mond, inzwischen ein bleicher, aber mächtiger Schatten, verschwand hinter dem steinigen Rücken von Delos. Vielleicht war der Mond der Grund, dass in der Antike das Gebären und das Sterben auf der Insel verboten war. Man reiste zwischen Delos und Mykonos ständig hin und her, sofern die Sterbenden und die Ungeborenen noch genug Zeit hatten. Auch zweitausend Jahre später fuhr kaum jemand nach Delos, aber alle nach Mykonos. Nach Mykonos waren mit Beginn der Neuzeit die Venezianer gekommen, dann die Türken, in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts die Hippies und Homos, die an den Stränden fröhliche Gelage feierten. Braun glänzend lagen sie im Sand wie aus dem Meer gekrochene Kalmare. Sie rauchten Joints und umarmten sich mit der Seligkeit von Kiffern und Aussteigern. Über den Gitarren wehten Lieder wie „Blowin’ in the Wind“ oder „So Long, Marianne“, über dem Strand der Duft von Haschisch und Sonnenöl.

Seine Eltern waren ein paar Jahre zu früh und ahnten von alldem nichts. Sie verließen die Jason, fanden auf Mykonos ein Dorf am Meer und blieben dort. Ein steiniger Strand, ein paar Häuser und Macchie, mehr gab es nicht. Sie bezogen ein Zimmer, in dem nur Bett und Stuhl standen. Eine verkrüppelte Pinie wuchs vor dem Fenster, die Luft roch nach Harz. Zehn Tage sollte der Wind über die Häuser schmirgeln und am Unterholz zerren. In der Nacht pfiff er durch das offene Fenster und spielte mit den Haaren der Schlafenden. Tagsüber rüttelte er an verschlossenen Balken und Türen. Der Wind war überall, der unumschränkte Herrscher der Insel. Er kam aus einem Himmel alter Götter, die endlich ihre Ruhe hatten, weil niemand mehr an sie glaubte, oder die ihn geschickt hatten, um sich an den Menschen zu rächen. Die kleinen Tiere versteckten sich vor ihm in Erdlöchern, nur die Möwen schwebten hoch oben in der Luft, in einer schwindelerregenden Balance.

Man trug Olivenöl auf die Haut auf, das sofort trocknete. Die Haut wurde rot wie die Haut des Granatapfels und löste sich ab. Der ganze Himmel war Sonne, der Wind überall, es gab kein Versteck vor ihm. Nur an einem Abend war die Luft weich wie Samt, und um ein Haar hätten ihn die Eltern am Strand gezeugt, nachdem die Sonne wie eine Blutorange in den Horizont gesunken war. Aber der Wein war zu schwer, der Vater schlief im Gesang des Meeres ein, träumte von Sirenen, dass er gefesselt sei, und der Sohn musste noch zwei Jahre warten.

Bald machten sie in der einzigen Taverne im Ort die Bekanntschaft eines jungen Mannes. Er war Maler. Sie saßen mit ihm an einem einfachen Holztisch, tranken den fast schwarzen Wein, der mit dem Schwarz der Oliven wett­eiferte, aßen Schafkäse und unterhielten sich über Malerei.

Er stellte sich die Gespräche der Eltern mit dem Maler vor: Picasso’s Blue Period. Modiglianis sad women and the rivalry with Picasso. The portraits of those women are maybe the most impressives in history. Er weiß, dass Englisch ihre Sprache war, der Maler konnte auf Deutsch nur drei Namen sagen: Oskar Kokoschka, Egon Schiele und Paul Klee.

Während sie auf der Terrasse der Taverne saßen, spritzte die Gischt des Meeres in ihre Unterhaltung und machte die Haut salzig. Das Salz malte Krustenbilder auf die umliegenden Steine, kristalline Landschaften mit Vertiefungen und kleinen Gebirgen, in Erdmulden erstarrten glitzernde Seen. Fast schien es, als konkurrierten die Gebilde mit den Bildern des Malers.

 

Sein Name war Edwin. Er war klein, schlank, mit brünettem Haar und einem träumerisch-heiteren Blick. Er kam aus den Vereinigten Staaten und reiste durch die Alte Welt, um die Menschen, ihre Architektur und Kunst zu studieren. Einige Zeit davor war er über das Atlasgebirge gewandert, entlang seiner Ölbaumwälder, ausgetrockneten Salzseen und Wadis. Man hätte meinen können, er folgte der Spur des Salzes. In ihren Gesprächen schwärmte er vom Raum, einem geographischen und einem geschichtlichen, die mit Gedankenschritten und mit wirklichen Schritten durchmessen und in Bilder gefasst werden konnten. Die Geschichte des alten Griechenlands war sein Spezialgebiet. Er blätterte und las in abgegriffenen Büchern, die er aus den Staaten mitgebracht hatte, und markierte Stellen mit farbigen Stiften. Die meiste Zeit jedoch arbeitete er. Blies der Wind auch noch so stark, der Maler saß im Freien vor einem Bild, das er auf einer Tafel mit Reißnägeln fixiert hatte. Er liebte es, im Freien zu sein, in dieser übergroßen Natur, die sein Atelier, seine Inspiration und seine Lehrerin war. Dies in den Jahren seiner Wanderschaft und auch noch viele Jahre später, als er sich nach Gaeta, an die noch schönere oder anders schöne Küste des Tyrrhenischen Meeres zurückzog.

Im Jahr des Mauerbaus und der großen Explosion war der Maler von Lexington nach Mykonos gekommen. Zwei Jahre sollte er dort bleiben, allein. Nur im Sommer gab es Touristen zur Unterhaltung, im Winter kam niemand. Dann machte er Feuer in seinem Steinhaus und las und zeichnete. Er zog einen Parka über und unternahm ausgedehnte Wanderungen. Spazierte auf den venezianischen Berg mit den verfallenen Mauern römischer Gebäude, besuchte Klöster, Kirchen und Ausgrabungen. Die Einheimischen beäugten den Amerikaner argwöhnisch, was suchte er hier? Seine Bilder fanden sie noch merkwürdiger als ihn.

Der Maler prägte sich die Konturen der Insel ein, die Linien und Formen der Strände und Pflanzen, den ganzen Mikro- und Makrokosmos. Beim Spazieren über den Strand streckte er den Hals und beugte den Kopf leicht nach vor, wie ein Pilze- oder Steinesucher. Oder wie jemand, der in einer Menschenmenge eine Person verloren hat. In Wahrheit war das seine Art, mit Blicken die Umgebung abzutasten, Dinge zu finden, die er für seine Bilder verwenden konnte. Frühmorgens kam er mit einer versteinerten Muschel in der Hand von einer Wanderung zurück und übertrug ihre Linien auf eine Zeichnung. Die Muschel trat in eine Beziehung mit den Wellen des Meeres und mit den Formen der Felsen. Stundenlang saß er mit einem Strohhut auf der Terrasse der Taverne oder auf umliegenden Felsen und zeichnete. Ein konzentrierter Blick, er kniff ein Auge zusammen und kratzte sich am Kopf. Wenn er nicht arbeitete, schlief er sommers im Schatten einer Tamariske auf einer Strohmatte.

Er interessierte sich für die griechische Mythologie, für Halbgötter und Menschen, die sich mit den Göttern einließen und bestraft wurden. Wie Tantalos, Sisyphos, Herakles. Er sagte zu den Eltern, die Landschaft der Götter konnten nur karge Inseln sein. Wie dieses Mykonos, hart und leuchtend, mit diesem unzerstörbaren Licht. Die Landschaft der Götter müsse etwas zwischen Himmel und Meer Schwimmendes sein, das weder zu dem einen noch zu dem anderen gehöre. Ein andermal sagte er: Das Paradies ist steinig wie diese Insel, die mit ihren ewigen Felsen eines Sisyphos würdig ist. Sisyphos sei es gelungen, den Todesgott zu fesseln, sodass eine Weile niemand starb. Damit feierte er das Leben und dafür wurde er bestraft. Aber wann hatte ein Mensch, und sei es auch nur in einer Sage, jemals Größeres vollbracht?

Im nächsten Atemzug sprach der Maler von Muränen, von bis zu vier Meter langen, die einen Doppelkiefer hatten und einem Mann mit einem Biss die Hand abtrennen konnten. Der zweite Kiefer dieser Ungeheuer war beweglich und stopfte die Hand in die Speiseröhre. Man dürfe keinesfalls im Wasser hinter Felsen oder Steine greifen, wenn einem die Hand lieb war.

Am nächsten Tag saß er wieder in der gnadenlosen Sonne, die noch im Schatten für 40 Grad sorgte, um ihre Brechungen und Wege zu beobachten. Auf seinen Bildern war ihr Licht ein Gewitter aus gelben, roten und violetten Strichen. Im Griechischen, sagte er, gibt es ein Wort für Licht und Lächeln. So wollte er malen: Bilder, die lächeln.

In jenen Augusttagen drückte die Hitze auf das Land wie die Faust eines Riesen. Niemand verließ mittags über Stunden den Schatten; Lorbeer und Salbei, Lavendel und Disteln verdorrten. Zu Mittag brachte der Wirt eine Pfanne Eier in die Sonne auf einen Felsen. In wenigen Minuten waren sie gebraten, schmeckten salzig und fischig wie das Meer. Lachend deutete der stoppelbärtige Wirt zum Himmel und bedankte sich beim Sonnengott.

Einmal lud der Maler die Eltern zum Essen ein. Er gab Fische, die er selbst gefangen hatte, in einen Topf mit Meerwasser, Rosmarin und Lorbeer und kochte sie. Sie träufelten Olivenöl über den fertigen Fisch und tranken Wein dazu. So guten Fisch hatten seine Eltern in ihrem ganzen Leben nicht mehr gegessen.

Es gab ein Schwarz-Weiß-Foto, welches das Treffen von Wien mit Lexington dokumentierte: sein Vater mit einem Bild des Malers in den Händen, neben ihm der Maler und die Mutter. Sie sitzen sonnengebräunt an einem Tisch, das Meer im Hintergrund. Das Meer, das seine Eltern ein Leben lang verfolgte. Als Sehnsucht nach etwas, das als Sehnsucht stärker war denn als wirkliches Erlebnis. Die Bewohner von Binnenländern träumen oft vom Meer. Sie träumen von seiner sommerlichen Kühle, seinen starken Armen und dem Muschelgeruch. Aber wenn sie zwei Wochen dort gewesen sind, kommen sie gern wieder nach Hause zurück. Man schwitzt zu viel im Süden, das Essen ist ungewohnt, im Wasser sind fremde Tiere, die Küstenbewohner sprechen eine unverständliche Sprache und die Zimmer sind zu klein.

Der Maler war da aus anderem Holz geschnitzt. Er stand bis zu den Knien im Schaum auf den Felsen und schaute lange, wie das Meer atmete, sich hob und senkte, wie es gegen die Felsen schlug und in kleinen Kaskaden und Rinnsalen wieder zurückfloss. Der Maler hörte auf sein Stampfen und Schmatzen, auf das Rauschen und Glucksen. Er zeichnete die Noten dazu, die Symphonie, die das Meer ihm diktierte, auf lange Linien.

Auf dem Foto ist der Vater in ein weites, kurzärmeliges Hemd gekleidet, die Mutter in eine Bluse mit Blumenmuster, die ihre Taille betont. Edwin trägt ein gestreiftes T-Shirt und kurze Hosen wie die anderen. Die Augen sind Schlitze zum Schutz vor der Sonne. Edwins zurückhaltender Gesichtsausdruck lässt nicht erahnen, dass er ein paar Jahre später die Kunstwelt aus den Angeln heben würde. Oder, wie ein Museum schrieb, dass er in seiner Malerei eine sensible und lyrische Verbindung von Bild und Text wie noch in keiner Kunst erreichte und eine neue Ära nicht nur der amerikanischen Malerei einleitete, und dass er eine eigene, höchst einflussreiche Bildsprache entwickelte. Ein Kritiker schrieb: Man wird seiner Malerei nicht gerecht, betrachtet man sie ausschließlich im Zusammenhang mit den Kunstrichtungen des 20. Jahrhunderts. Zu komplex sind die gestisch ausschweifenden Kompositionen mit ihren kleinen figurativen Skizzen, Ziffern und Zitaten. Und ein paar Sätze weiter: Das Werk verweist auf eine Position, die wir jetzt noch nicht in ihrem ganzen Umfang, ja in ihrer transzendierenden Vision erkennen können.

Mit solch kunstsinnigen Ausführungen haben sich die Eltern damals auf Mykonos wohl nicht beschäftigt. Was wirklich passierte, liegt großteils im Reich der Vermutung. Lange liegen die Bemerkungen und Erzählungen seiner Eltern zurück, aus denen er seine Rückschlüsse auf das Damals zog. Nur Bruchstücke hat er in Erinnerung. Einmal erzählte der Vater, dass das Griechenland der Antike mit dem Griechenland Papandreous in den Sechzigern nicht das Geringste zu tun hatte und die einstige Hochkultur für immer verschwunden war. Dennoch meinte er, dass es ein ewiges Griechenland gebe, das klassisch sei und an das man sich immer erinnern werde.

Den Vater faszinierten die alten Mythen. Er unterhielt sich mit Edwin über Herakles, der in einer seiner zwölf Taten Riesen besiegte, die er ins Meer warf. Einer der Riesen wurde zu Stein und bildete die Insel Mykonos. Seit er die Herakles-Sage in der Schule gelesen hatte, wollte er nach Mykonos.

Genauso wie der mythologische Hintergrund beeindruckte ihn die Kunst von Edwin. Das scheinbare Gekritzel, das einen Kosmos von Bedeutungen verbarg und einen Sog erzeugte, sich auf die Zeichen einzulassen und sie zu entschlüsseln. Manche Zeichnungen bestanden aus zwei oder mehr Schichten, die man wie ein Archäologe abtragen konnte, um darunter anderes, Verborgenes, Rätselhaftes zu entdecken. In den Strichen, Knäueln und Verwischungen lag etwas schwer Benennbares, die Bilder glichen Wirbeln und gordischen Knoten. Man sah sie an und trat über eine Schwelle, begann zu träumen, das Denken wurde anders.

Der Vater war beeindruckt und kaufte von Edwin ein Bild, das Bild auf dem Foto. Es war nicht sehr groß, etwas mehr als ellenlang. Striche in verschiedenen Farben, einige Zahlen und ein Rechteck. Sein Titel: „Ode an Delian“. Der Name Delian bezeichnete den auf der Insel Delos Geborenen, zugleich den Gott Apoll, den Schirmherr der Kunst, der Gesetzmäßigkeit und der Ordnung. Auch das hatte ihm der Vater, der sich im Laufe seines Lebens immer mehr für Kunst zu interessieren begann, erzählt. Und er erklärte, dass Apoll das war, was die Künstler seit jeher suchten: Freiheit, eigene Räume, Spiritualität, das große Geheimnis. Die ganze Geschichte der abendländischen Kunst ließe sich auf Apoll zurückführen.

Am zehnten Tag aßen seine Eltern die letzten gebratenen Eier und atmeten zum letzten Mal die harzreiche Luft. Dann machten sie sich mit der Jason auf nach Piräus. Der Wind zerrte an ihnen, als wollte er sie auf der Insel behalten, sie stemmten sich auf der Mole gegen eine unsichtbare Mauer. Bald blies die Jason eine schwarze Wolke in den Himmel und legte ab, langsam und müde.

Er stellte sich vor oder man hatte es ihm erzählt, dass auf der Fahrt nach Piräus eine ruhige See herrschte. Der Bug glitt leicht durch das Wasser. Der Dieselmotor jammerte nicht, sein Klang ähnelte diesmal mehr einem monotonen Gesang aus Männerkehlen. Die Eltern saßen zwischen Einheimischen, die Schafkäse, Zwiebel und Brot aßen. Einer reichte ihnen als Abschiedstrunk ein Glas Ouzo. Er schmeckte kühl und scharf, hinterließ ein pelziges Gefühl und lag lange auf der Zunge. Noch Jahrzehnte später war er da, wenn sie an Mykonos dachten, an die Tage auf der Insel, als sie sich von Schafkäse und Oliven ernährten und von den Bildern und Erzählungen des Malers.

Von Athen flogen sie zurück nach Wien. Sie bestiegen wieder eine Douglas, eine andere, silbrig glänzende mit einer roten Nase. Die Insel im arktischen Meer sendete weiter die Strahlen der Bombe aus, an der Mauer wurde der erste Mensch erschossen. Nach der ersten Empörung in den Medien ging man bald wieder zur Tagesordnung über. Auch die Eltern. Sie nahmen ihre Arbeit auf, den Alltag jenseits der Weite des Meeres. Von Edwin sollten sie drei Jahrzehnte nichts mehr hören.

Anfang der Neunzigerjahre stand in einem Zeitungsartikel, dass Edwin Twombly jetzt Cy Twombly hieß und berühmt geworden war. Eine Verwechslung war auszuschließen, denn die „Ode“ gehörte zu einem Zyklus, wie in Kunstkatalogen leicht nachzuprüfen war. Die „Ode“ war über Nacht ebenfalls berühmt geworden; und die Bedeutung, die sein Vater dem Bild beigemessen hatte, wurde gewissermaßen bestätigt. Das Bild war plötzlich ein mykenischer Schatz im Alpenland und über die Jahre noch rätselhafter geworden. Dass auch sein Wert um ein Vielfaches gestiegen war, mehr als sämtliche Aktien von Exxon, Procter & Gamble oder Coca Cola, war ein nicht unbedeutender Nebeneffekt. Es war ein Triumph der Kunst über die Warenwelt und ein hymnischer Sieg. Die Geizhälse und Erbsenzähler in den Konzernen saßen auf ihrem Öl, dem Waschpulver und dem braunen Saft und mussten sich ihre Niederlage eingestehen. So oder so ähnlich hatte es der Vater formuliert.

Dem Vater genügte es, das Bild in seiner Wohnung zu wissen und es sehen zu können, wann immer er wollte. Es gab Momente, da er vor der „Ode“ stand und auf eine sekundenlange Zeitreise ging: zu den Wellen der fernen Insel, in die glühende Sonne über dem Strand, vielleicht auch zu den ersten Urlaubstagen mit seiner großen Liebe. Denn der Erwerb der „Ode“ war auch der Beginn der mehr als vier Jahrzehnte dauernden Ehe seiner Eltern, die glücklich und in einem steten, harmonischen Fluss verlief. Als wachte Zeus über ihnen und verliehe ihnen eine begrenzte Unsterblichkeit.

 

Jahrelang war es der Wunsch des Vaters gewesen, Cy Twombly zu besuchen. Mit ihm ein Glas Wein zu trinken, über Griechenland und die alten Zeiten zu plaudern. Aber es kam nie dazu. Vermutlich hätten sie sich verstanden, so wie sie sich schon auf Mykonos verstanden hatten. Irgendwann war es dann endgültig zu spät. Twombly hatte sich nach Gaeta an der italienischen Riviera zurückgezogen. Ein Städtchen mit hellen Häusern, gemütlichen Fischtavernen und einer Ereignislosigkeit, die er brauchte, um auf seinen Leinwänden die Farben zum Ereignis zu machen. Er lebte zurückgezogen, mied die Bewunderer und besuchte eigene Ausstellungen oft inkognito. Die Sommer verbrachte er auf der Insel Procida, inmitten einer Pracht von Palmen, Pinien und bunten Häusern. Die Inseln ließen ihn nicht los, sie waren seine Leidenschaft. Er sah in ihnen etwas Schwebendes, Unabgeschlossenes, einen Gegensatz zum verfestigten Binnenland. Die Inseln waren wie bunte Tücher, nur von Winden getragen, mit einem federleichten Leben. Auch Procida schwebte und flatterte in der Luft. Mit seinen alten Häusern und Gassen, mit seinen Geschichten mischte es sich in Twomblys späten Jahren in seine Bilder.

Den Eltern blieb irgendwann nur mehr die Erinnerung. Die Erinnerung als eine Art Rückspiegel, in dem man nur das Verschwinden der Ereignisse beobachten konnte, ohne die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Das Wichtigste aber war: Es blieb die „Ode“.

Das neue Jahrtausend nahm seinen Anfang, und das Jahr der Nullen, wie es genannt wurde, erschreckte manche. Vorahnungen gingen diesem Jahr voraus, und noch bevor es begann, starben seine Eltern. Das Bild kam zu ihm als eine Art Vermächtnis. Es hing neben seinem Bett, an der grünen Wand zwischen dem Holzschrank und dem Fenster. Das satte Grün der Wand ließ die „Ode“ noch lebendiger erscheinen. Aus ihm stach sie wie ein exotisches Wesen hervor, nicht Naturgebilde und scheinbar nicht Menschenwerk. Wenn man länger hinsah, gab die „Ode“ dem Grün etwas, das es erst zu einer Farbe machte und ohne das es stumpf und fahl gewirkt hätte. Er erkannte, dass Farben von ihrer Umgebung lebten, und vom Licht der Umgebung. Alle Dinge standen in einer lichtabhängigen Beziehung zueinander.

Manchmal in der Früh ging sein Blick flüchtig über die bunten Striche. Über das Blau, das ein Blau des Himmels oder des Wassers sein konnte. Über das Schwarz und Braun: die Farben von Felsen, Häusern oder flüchtigen Gestalten, wenn nicht von mykenischen Seelen, längst verblichenen. Ein paar rote Flecken leuchteten dazwischen, die er nicht einordnen konnte. Waren sie Reflexionen der Sonne auf Ziegeldächern, Blutflecken oder Kussmünder? Manchmal waren sie alles zugleich, dann wieder etwas ganz anderes.

An anderen Tagen ließ die „Ode“ eine Landschaft erahnen, die er nie gesehen hatte und die er sich von Sonne durchflutet und paradiesisch vorstellte. Aber auch mit einer versteckten, sprungbereiten Grausamkeit. Waren da nicht Hitze, Dornen, Skorpione und Schlangen, die den Fremden bedrohten? Waren da nicht Gewalt, Glut und Kälte des fremden Landes, das er nur vom Hörensagen kannte? In einem Zeitungsartikel hatte er über die Ablösung des griechischen Königreichs durch eine Militärdiktatur gelesen. Waren die roten Flecken auf dem Bild das vergossene Blut, das Leid und die Qualen? Wie hatten seine Eltern eine Hochzeitsreise in ein politisch zerrissenes Land machen können, das bald von einer Diktatur und ihren Schergen unterjocht wurde? Es gab viele Fragen, aber nur wenige Antworten.

Er ging morgens zur Arbeit und kehrte spät zurück. Müde und mit anderem beschäftigt fiel ihm die „Ode“ die meiste Zeit gar nicht auf. Wenn er sich dann, in seltenen Momenten, über das Bild beugte, sah er nur Striche. Ein Bild war ein Bild und nichts anderes. Keine Aussage, keine Stimme, keine Magie. Aber manchmal, wenn das Licht in einem besonderen Winkel auf die „Ode“ fiel, war da etwas: ein Leuchten oder eine Kraft. Als könnte das Bild seine Träume und Gedanken beeinflussen, ohne dass er es merkte.

Ein halbes Jahrhundert ging nach dem Mauerbau und der großen Explosion vorüber. Wie ein Wimpernschlag, der nie stattgefunden hat, wie der Moment, in dem ein Pinsel die Leinwand betupft. Das Jahr brach an, in dem der Arabische Frühling mit der Wucht eines Sandsturms heranfegte. Und ein unterseeisches Erdbeben löste bei Japan einen Tsunami aus, der Kernreaktoren zerstörte und zum Schmelzen brachte. Auch mehrere Sonnen- und Mondfinsternisse in Europa und Afrika waren keine guten Vorzeichen. Alles hing in irgendeiner Weise mit der Befindlichkeit der Menschen zusammen, und so kam es, wie es eines Tages kommen musste.

An einem ungewöhnlich kühlen Julitag starb Twombly in Gaeta. Es war, als entzöge sein Sterben der Stadt die gewohnte Wärme. Nicht einmal die Ältesten konnten sich an einen solchen Tag erinnern. Die Männer saßen in kleinen Trattorien vor einem Glas Wein und schwiegen. Auch sonst schwiegen sie, aber diesmal hatte das Schweigen einen anderen Klang. Weiße Wolken aus dem Norden und ein Himmelblau wie in der Ägäis standen über den Dächern der Stadt und holten Twomblys Seele ab. Der Mann, der die Wärme so geliebt hatte, beugte sich der letzten Kühle. Ein Wind fegte durch die Gassen, kratzte am Putz der Häuser und ließ die Passanten geduckt dahineilen. Der Wind rüttelte an den Pinien am Monte Orlando, wohin Twombly zahlreiche Spaziergänge geführt hatten, um über das Meer zu schauen, wo man am Horizont Griechenland erahnen konnte. Der Aufstieg war Twombly in den letzten Jahren schwerer gefallen, er wusste, dass es kein Vorwärts mehr gab und auch kein Zurück.

Am Abend dieses Julitages hörte er auf zu atmen.

Wie üblich, nahm nur die Kunstwelt Notiz vom Abschied eines Malers, und die wenigsten ahnten, was es mit der Kühle dieses Tages auf sich hatte. Gaeta war an diesem Tag nicht Gaeta und die Welt nicht die Welt. Der venezianische Berg verdunkelte sich, als trauerte er, weil Twomblys Fuß ihn nicht mehr berühren würde. Die Geschichten von Mykonos und Procida verstummten, einige nahm Twombly für immer mit sich. Besucher in Museen wollen gesehen haben, dass für einen Moment seine Bilder verblassten und einen Schatten bekamen. Um danach umso strahlender zu leuchten und die Menschen mit ihrer Schönheit zu erfreuen.

Drei Tage später wurde er begraben. Auf einem Felsen in der Sonne und mit Blick auf das Meer. Es war immer noch kalt, die Natur schien zu trauern und die Begräbnisgesellschaft, bestehend aus Twomblys Frau, seinem Sohn, einigen Freunden und dem Bürgermeister von Gaeta hüllte sich in warme Jacken. Erst als Twombly auf seiner letzten Insel die Ruhe gefunden hatte, kam vom Süden allmählich die Wärme zurück.

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