Überirdische Rätsel

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DIE FLUORESZIERENDE MADONNA VON WARRAQ AL-HADAR

Wie überzeugend sind Fotos und Videos? Die Bilddokumente zu Shoubra sind als schlüssige Beweise leider wenig aussagekräftig. Der „Fälschungsvorwurf“ schwingt bei der Kontroverse um Übersinnliches immer mit. Die Schwierigkeit, das Unerklärliche im Bild festzuhalten und wissenschaftlich zu analysieren, ist ähnlich problematisch wie bei behaupteten UFO-Kontakten oder flüchtigen Spukphänomenen. In den 1980er-Jahren glückten paranormale Schnappschüsse bestenfalls Profifotografen mit teuren hochempfindlichen Filmkameras. Heute, im Zeitalter digitaler Globalisierung, ist das anders. Eine Welt ohne Mobiltelefon mit Foto- und Videofunktion ist kaum mehr vorstellbar – auch in Ägypten. Am Abend des 10. Dezember 2009 gelang es erstmals eine „Marienerscheinung“ zu filmen. Übersinnlicher Schauplatz: die koptische „Kirche der Jungfrau Maria und des Erzengels Michael“ in Warraq al-Hadar im Verwaltungsbezirk Giseh, unweit der Pyramiden.

Gegen 20 : 30 Uhr wurde der Muslim Hassan auf ein starkes Licht aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt saß der junge Mann in einem Straßencafé neben der Kirche. Er vermutete, dass ein Kind auf einen Baum neben dem Eingang zum Gotteshaus geklettert war und mit einer Taschenlampe herumfuchtelte. „Doch dann wurde das Licht immer intensiver und schwebte vom Baum hinüber zur rechten Kuppel. Jetzt war die Form der Jungfrau Maria deutlich erkennbar. Ich beobachtete sie eine Zeit lang, dann filmte ich sie mit dem Handy, bis sie verschwand“, versicherte Hassan der Tageszeitung Al-Ahram.

Nach Mitternacht hatten sich Tausende Schaulustige am Erscheinungsort eingefunden. Auch die kirchliche Obrigkeit war inzwischen über das „Himmelszeichen“ informiert worden. Etwa drei Stunden lang konnte es gesehen und dokumentiert werden. In den Tagen darauf manifestierte sich die „leuchtende Madonna“ erneut. Wie in Shoubra und ähnlichen Erscheinungen ungeklärter Lichtgestalten kam es auch in Warraq al-Hadar zu vielen Begleiteffekten: „wundersame Heilungen“, „seltsame Lichtblitze“, „das Auftauchen und Verschwinden eines sternartigen Himmelsobjektes“ sowie „leuchtende Tauben, die plötzlich in der Luft erschienen“. Am 13. Dezember 2009 war Bischof Anba Theodosius von Giseh ein prominenter Augenzeuge der ungewöhnlichen Vorkommnisse.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Filmschnipsel und Bilder im Internet auftauchten, wo sie seitdem für Kontroversen sorgen. Während Gläubige davon überzeugt sind, dass die strahlende Silhouette das Abbild der Gottesmutter zeigt, glauben Skeptiker eher an ein von Menschenhand gemachtes Spektakel. Sieht man sich die Aufnahmen an, fällt es in der Tat schwer, in der Lichtquelle die Jungfrau Maria zu erkennen. Das gleißend helle Licht umstrahlt alle Konturen und Details. Nur die Umrisse sind sichtbar und erinnern mit viel Fantasie an eine Frauengestalt mit Heiligenschein.

Kritiker geben überdies zu bedenken, dass die Position der Madonna auf den Filmen stets mit dem Kirchturm dahinter identisch ist. Ihr Verdacht: Die Energiequelle stammt aus dem Inneren des Turms, weil sich dort eine Lichtquelle befindet. Leuchtet das ein? Nicht zwingend. Im Kirchturm brennt des Öfteren ein Licht. Das war und ist für Einheimische nichts Außergewöhnliches. Zudem reicht die schwache Helligkeit eines beleuchteten Raums nicht aus, um die fluoreszierende Leuchtmasse auf den Handyclips zu erklären. Man müsste dort schon ein bengalisches Feuer entfacht haben, um die Menschen zu täuschen (siehe Farbteil Seite 65 oben).

Die Erscheinungen von Zeitoun
ERSTE WAHRNEHMUNG

Die Geschehnisse in Warraq al-Hadar erinnern verblüffend an eine frühere Serie von „Marienerscheinungen“ im östlich des Nils gelegenen Kairoer Außenbezirk Zeitoun. Sie begann in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 und fand jahrelang mehrere Male im Monat eine Fortsetzung. Wie 2009 im Fall „Warraq“ war es auch dort ein Muslim, der „Maria im Licht“ als Erster sah. Es geschah abends in der Toman-Bay-Straße, wo sich damals eine Busgarage der staatlichen Verkehrsgesellschaft befand. Einer der Mitarbeiter, der Wachmann Abed al-Aziz Ali, erblickte bei der Kuppel der kleinen „Kirche der Jungfrau Maria“ etwas Unfassbares. Er rief aufgeregt den Mechanikern zu: „Seht, da oben auf dem Kirchendach! Eine weiß gekleidete Frau im Licht!“ Die Männer befürchteten zunächst, dass sich ein Mädchen oder eine Nonne in selbstmörderischer Absicht in die Tiefe stürzen wolle. Feuerwehr und Polizei eilten zum Gotteshaus. Unterdessen verfolgte eine wachsende Menschenansammlung das bizarre Schauspiel.

Als sich Gestalt und Leuchtkraft der Erscheinung veränderten, sie frei in der Luft schwebte und eine Formation leuchtender Tauben über ihrem Kopf erschien, waren sich die Schaulustigen einig: Das ist die Jungfrau Maria, die Mutter des Lichts! Das Szenario hielt bis nach Mitternacht an, dann verschwand die Madonna ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Doch sie kam wieder – Hunderte Male! Schon am nächsten Abend und an vielen Nächten darauf, ehe sie am 29. Mai 1971 endgültig verschwand.

ABERTAUSENDE AUGENZEUGEN

Hunderttausende Gläubige und Ungläubige haben die „Frau im Licht“ damals erblickt. Bereits im Mai 1968 kommentierte das damalige koptischorthodoxe Oberhaupt, Papst Kyrillos VI. (1902–1971), die mysteriösen Ereignisse in einer Aussendung der Diözese Zeitoun: „Die Erscheinungen geschahen in vielen Nächten und setzen sich noch fort in unterschiedlicher Weise. Manchmal erscheint Maria in ganzer Größe und dann wieder als Büste, umrahmt von einem leuchtend hellen Heiligenschein. Zeitweilig wurde sie in den Öffnungen auf dem Dach der Kirche gesehen, dann auch wieder außerhalb der Kuppel, wo sie sich bewegte und über das Dach der Kirche und der Kuppel ging. Als sie vor dem Kreuz auf der Kirchenkuppel niederkniete, leuchtete das Kreuz in hellem Licht. Sie bewegte ihre Hände, nickte mit ihrem Haupt und segnete die Menschen. Manchmal sah die Erscheinung wie eine Wolke aus, oder sie nahm die Form als Lichtgestalt an, wobei sich vor ihrem Körper leuchtende Objekte zeigten, die aussahen wie sehr schnell fliegende silbrig-weiße Tauben. Die Erscheinungen waren am Dienstag, dem 30. April 1968, über zwei Stunden zu sehen – von 2 : 45 Uhr bis zur Morgendämmerung gegen 5 Uhr. Tausende Menschen – Ägypter und Ausländer, Priester und Wissenschaftler – sahen diese Erscheinungen.“

OFFIZIELLE ANERKENNUNG

Besonders pikant: Ein Komitee aus Bischöfen – beauftragt, Untersuchungen anzustellen – wurde selbst Zeuge des Übernatürlichen. Erzbischof und Kommissionsmitglied Anba Athanasius erinnert sich in einem von Pearl Zaki verfassten Buch, dass anfangs nur ein „fluoreszierendes Licht“ wahrgenommen wurde: „Dann stand sie plötzlich da in voller Gestalt, schwebte fünf oder sechs Meter über der Kuppel, hoch im Himmel wie eine phosphoreszierende Statue, aber keineswegs starr. Ihr Körper und ihre Kleidung bewegten sich. Von allen Seiten drängten die Menschen zur Kirche. Der Zaun wurde von der Menge einfach niedergetrampelt.“

Die koptische Kirche hat die Erscheinungen von Zeitoun als „göttliches Wunder“ offiziell anerkannt. Der katholische Kardinal Stéphanos I. Sidarouss (1904–1987) sowie der Leiter der evangelischen Kirche in Kairo, Pastor Dr. Ibrahim Said, folgten dieser Einschätzung: „Die Erscheinungen sind echt und glaubwürdig!“

Was gleichermaßen erstaunt: Die Erscheinungskirche von Zeitoun war bereits 1925 vom Landbesitzer Taufik Khalil Ibrahim errichtet worden. Als Vorbild diente die Hagia Sophia in Istanbul. Die „Kirche der Jungfrau Maria von Zeitoun“ sollte eine Miniaturausgabe der byzantinischen Kathedrale werden. Dafür gab es angeblich eine erklärte Anweisung aus höheren Sphären. Ibrahim hatte eine Vision, in der ihm die „Heilige Jungfrau Maria“ erschienen war. Sie soll ihn zum Kirchenbau gedrängt und ihm versprochen haben, an dem vorbestimmten Platz nach Jahrzehnten wieder zu erscheinen (siehe Farbteil Seite 68 links unten).

Die Erscheinungen von Zeitoun machten 1968 international Schlagzeilen.

FOTOBEWEISE UND TAUBENRÄTSEL

Was die Vorfälle in Zeitoun noch interessant macht: Hier glückte es Zuschauern erstmals, Fotobelege einer „Marienerscheinung“ zu produzieren. Die ägyptische Tageszeitung Al-Ahram veröffentlichte dazu 1968 in ihren Ausgaben vom 27. April und 5. Mai ausführliche Bildberichte. Eine Aufnahme von Wagih Rizk ist ein berühmtes Zeitdokument: Sie zeigt das schwebende „Lichtgebilde“ neben der Kirchenkuppel. Die überzeugendsten Bildbeweise stammen vom Fotografen Fawzy Mansur und von Ali Ibrahim, einem Leiter des Ägyptischen Museums in Kairo. Ihre Fotos wurden von Bildtechnikern nach streng wissenschaftlichen Methoden untersucht, ohne dass ein Hinweis auf Fehler oder Betrug gefunden werden konnte. Auch eine elektrische Quelle für eine künstlich erzeugte Gestalt konnte ausgeschlossen werden. Schon deshalb, weil mehrfach während der Erscheinungen in den umliegenden Stadtwerken absichtlich der Strom zu Testzwecken abgeschaltet wurde – das Lichtwesen aber weiterhin präsent blieb. Ein technischer Trick mittels eines Generators, der Lichteffekte auf die Wolkenbänke projiziert haben könnte, kam ebenso nicht infrage. Die geknipste „Himmelskönigin“ war offenbar „dreidimensional“ und aus sich heraus „selbstleuchtend“. Und das so stark, dass sich ihre Leuchtkraft in der Kameralinse spiegelte und die Kirchenkuppel samt Publikum erhellte.

 

„Lichtwolke“ über Kairo 1968

Gespenstische Muttergottes: Aufnahme aus der Erscheinungsserie von Zeitoun 1968–1971

Zu diesem Ergebnis kam auch der US-Bildanalytiker und Physiker Professor John Jackson. Er überprüfte die Aufnahmen in einem Speziallabor der United States Air Force Academy in Colorado Springs, konnte aber ebenfalls nicht die geringste Spur einer Manipulation finden. Sein Fazit: Bei den ungewöhnlichen Phänomenen in Zeitoun handelt es sich entweder um ein unkonventionelles, ein paranormales oder ein überirdisches Ereignis mit physikalisch beobachtbaren Merkmalen.

MYSTERIÖSE FLUGOBJEKTE


Leuchtende, vogelähnliche Flugobjekte während der Erscheinungsserie von Zeitoun

Was ebenfalls stutzig macht: Die Erscheinungsserie wurde von vielen Phänomenen begleitet, die als Teil des UFO-Spektrums bekannt sind: leuchtende Wolkengebilde, blitzartige Lichter; fliegende Lichtkugeln in Formation oder sternförmige Objekte, die sich mit hoher Geschwindigkeit fortbewegen. Besonders merkwürdig sind Berichte und Fotos von „vogelähnlichen Flugobjekten“. Sie tauchen einzeln oder als Gruppe immer wieder im Kontext mit Marienerscheinungen auf. Für Gläubige sind es Symbole der „Friedenstaube“, „Sinnbilder des Heiligen Geistes“ oder „spirituelle Wesen“. Kurioserweise verhielten sich diese „Tauben“ bisher nie wie natürliches Federvieh: „Sie sind größer und aus Licht, leuchteten silbrig und bewegten sich, ohne mit den Flügeln zu schlagen“, beteuern Augenzeugen. Irrlichter oder Hologramme aus dem Hyperraum?

Patriarch Schenuda III., der Nachfolger von Kyrillos VI., äußerte sich zum „Taubenmysterium“ bewegt: „Sie erscheinen, leuchten und entsprechen keinen natürlichen Tauben. Das Licht, das sie ausstrahlen, ist großartig und wunderschön, es ist aber nicht wie jedes normale Licht.“ Das koptische Oberhaupt ortete ihren Ursprung im Himmelreich: „Wir leben in einer materiellen Welt auf der Erde. Es existiert aber noch eine andere übergeordnete spirituelle Welt. Diese andere Sphäre nennt man die Welt des Lichtes mit himmlischen Bewohnern.“


Leuchtende, vogelähnliche Flugobjekte während der Erscheinungsserie von Zeitoun

Die koptische Kirche bezeichnet die Jungfrau Maria selbst als „die schöne Taube“. Hierbei wird an die Taube erinnert, die zur Zeit Noahs am Ende der Sintflut mit einem Olivenzweig zurückkehrte. (Genesis 8,11) Oliven sind wiederum ein Symbol des Friedens. Und Zeitoun, der alte arabische Name für den Kairoer Vorstadtbezirk, bedeutet übersetzt „Olive“!

LOKALAUGENSCHEIN IN ZEITOUN


Die Kathedrale von Zeitoun

20. Oktober 2015: Ein sonniger Nachmittag in Kairo. Mit meiner Partnerin Elvira und unserem Freund, dem einheimischen Ägyptologen Dr. Ahmed M. Osman, befinde ich mich im Kairoer Verkehrsgetümmel. Per Auto sind wir unterwegs zu einer der mysteriösesten Marienstätten der Neuzeit. Eingekeilt zwischen ohrenbetäubend lauten Schrottkarren, blökenden Kamelen und gestikulierenden Marktleuten. Vorfahrt hat, wer am lautesten hupt. Unfälle sind an der Tagesordnung. „Ein Wunder, dass ich noch lebe“, übe ich mich in Galgenhumor.

„Festhalten!“ Eine Vollbremsung reißt mich aus meinen Gedanken. Beinahe hätte uns ein klappriger Bus gerammt. „Keine Angst, jetzt wird es angenehmer“, grinst unser ägyptischer Begleiter schelmisch, als er uns über ein paar Schlaglöcher Richtung Flughafen weitersteuert. Nach mehr als einer halben Stunde erreichen wir unser Ziel im Kairoer Außenbezirk Zeitoun. Endlich! Vor Elvira und mir erhebt sich hinter drei Meter hohen Mauern die große Marienkathedrale, bewacht von bewaffneten Sicherheitskräften. Sie thront exakt an jener Stelle, wo 1968 muslimische Handwerker die „Lichtgestalt“ erstmals bemerkt hatten.

IN DER KATHEDRALE

Bei der Pforte gibt es Probleme. Ahmed wird der Eingang verweigert! Als Muslim darf er nicht hinein. Das irritiert, denn tags davor hatten wir „ungläubigen“ Europäer problemlos das Innere mehrerer Moscheen in Alt-Kairo besucht. Nach einem Sicherheitscheck und der erneuten Bestätigung, dass wir wahre Christen seien, dürfen zumindest wir passieren. Zwei „Aufpasser“ begleiten uns über eine Treppe zum Portal, öffnen das Kirchentor und schenken uns gnädig eine halbe Stunde für die Besichtigung. Wir betreten das majestätische Kirchenschiff, das bis zu 2000 Gläubigen Platz bieten könnte. Wir sind die einzigen Besucher.

Ich suche nach Darstellungen der Marienerscheinungen und finde sie im Chorbereich auf der linken Seitenwand, knapp unter der Kuppel. Hier ist die Erscheinungsstätte gleich dreimal als zeitgenössisches Fresko verewigt worden. In der Mitte mit einer überdimensional großen Jungfrau Maria, die ihre segnenden Hände ausbreitet. Links davon sind ein mysteriöses „Wolkengebilde“ und „weiße Tauben“ abgebildet. Und ganz rechts erblicken wir das Haus Mariens mit der schemenhaften „Lichtgestalt“. Es sind die einzigen Gemälde in der Kathedrale, die an die Ereignisse von 1968 erinnern (siehe Farbteil Seite 66).


Deckenfresko in der Kathedrale

SONDERBARE RELIQUIENKAMMER

Unsere „Leibwächter“ deuten auf die Uhr. Wir haben gesehen, was wir wollten, und pilgern weiter. Zum Ausklang erhalten wir das Angebot, die Prunkräume des verstorbenen Patriarchen Schenuda III. zu besichtigen. Man zeigt uns den kurzen Fußweg zum koptischen Verwaltungsgebäude hinter der Kirche. Im ersten Stock betreten wir die mit allerlei Pomp überladene Reliquienkammer. Auf dem vergoldeten Sterbebett seiner Heiligkeit liegen gefaltete Papierstückchen. Fürbitten, die fromme Seelen hinterlassen haben.

Ausgestellt sind Gewänder und Gebrauchsgegenstände aus dessen Amtszeit, vom kirchlichen Telefon bis zu heiligen Teetassen. Daneben Urkunden und Kugelschreiber, die dem Patriarchen zur Unterzeichnung päpstlicher Schriftstücke dienten. Originell sind Kunstwerke, die Schenuda III. verklärt darstellen. Auf einem der Gemälde sieht man den Patriarchen im Krankenbett mit Heiligenschein. Vor ihm die himmlische Erscheinung Marias. Wir sagen „Vergelt’s Gott“ und steuern die wahre Erscheinungsstätte im Garten auf der gegenüberliegenden Straßenseite an (siehe Farbteil Seite 65 rechts unten).


Reliquienkammer des koptischen Papstes Schenuda III.

DIE ERSCHEINUNGSKIRCHE

Das Betreten des schmucken Kirchleins offenbart ein ganz anderes Bild als jenes in der großen Kathedrale. Hier tummeln sich auch jede Menge Gläubige, die „Maria im Licht“ huldigen. Gleich nach dem Portal bilden sich Warteschlangen. Das Innere der Erscheinungskirche ist mit Ikonen der Heiligen Jungfrau und dem Erlöser, den Evangelisten sowie christlichen Märtyrern geschmückt. Überragendes Zentralmotiv ist das blaue Deckenfresko unter der Kirchenkuppel. Es zeigt die Gottesmutter im Sternenhimmel. Die überirdische Dame blickt samt Heiligenschein herab zu den Gläubigen und hat beide Arme rechtwinkelig nach oben gerichtet. Ihre Armhaltung entspricht der Hieroglyphe „Ka“ und steht für „Lebenskraft“. Die erhobenen Hände galten im Alten Ägypten als Zaubergeste, um böse Mächte abzuwehren, waren aber ebenso ein Aspekt des Überirdischen, das den Tod eines Menschen überdauert.

Das erinnert mich an alte Darstellungen, die den ägyptischen Schöpfergott Chnum zeigen, wie er mit „Ka-Magie“ auf der Töpferscheibe Menschen formt und ihren geklonten Astralkörper gleich mit. Berühmt ist die Holzstatue des Pharaos Hor I. (13. Dynastie, um 1732 v. Chr.) im Ägyptischen Museum in Kairo. Der König trägt auf seinem Haupt das geistig-seelische Kraftzeichen „Ka“. Es bleibt ungewiss, ob die analoge Gestik von Maria in der Erscheinungsstätte vom Künstler beabsichtigt war oder doch nur auf unbewusstem Gleichklang beruht (siehe Farbteil Seite 67 oben).


Erscheinungsort: die kleine Kirche der Jungfrau Maria in Zeitoun, schräg vis-à-vis der Kathedrale

Der heilige Baum von El Matarija

Der Verdacht, dass die Ursachen und Hintergründe von „Marienerscheinungen“ bereits in vorchristlichen Epochen ihren Anfang genommen haben könnten, scheint mir nicht abwegig. Ein Indiz dafür liefert ein heiliger Ort, der nur zwei Kilometer von der Wallfahrtskirche in Zeitoun entfernt liegt: der Marienbaum von El Matarija. Der Legende nach ein weiterer Platz, wo die Heilige Familie auf ihrer Flucht aus Judäa eine Zeit lang wohnte: heute eine von Mauern umfriedete Gartenoase, die von Wachpersonal geschützt wird. Dank ägyptischer Begleitung dürfen wir in den heiligen Bezirk. Hier finden sich Spuren einer Süßwasserquelle sowie die Überreste des legendären Marienbaumes, der bereits Jesus, Maria und Josef Schatten gespendet haben soll.

Der Urbaum soll vor über 2000 Jahren geblüht haben. Bereits Kleopatras Balsamgärten haben an diesem Platz verführerisch geduftet. Die Überlieferung erzählt, dass der Marienbaum mit jenem mythischen Baum identisch sei, unter dem bereits Jahrhunderte zuvor die altägyptische Isis (Göttin der Magie, Geburt und Wiedergeburt) den vom toten Osiris empfangenen Horusknaben gesäugt habe. Götterdichtung? Oder übernahmen orthodoxe Kleriker eine mystisch-fromme Vorstellung, die bereits lange Zeit zuvor an diesem heiligen Ort existierte?

Statuette der altägyptischen Göttin Isis mit dem Horusknaben

Vergilbte Postkarte aus dem 19. Jahrhundert: So hat der Baumriese einst ausgesehen.


Seit 2015 keimt der Marienbaum wieder neu.

Als wir vor dem Wunderbaum stehen, stockt uns der Atem: Leider war an der uralten, denkmalgeschützten Sykomore (auch „Maulbeer-Feige“ oder „Esels-Feige“) um 2013 ein grauenvoller Vandalenakt verübt worden, entweder im Auftrag der Behörden, von dilettantischen Stadtgärtnern oder fanatischen Islamisten. Irgendwann in diesem Zeitraum wurden von irgendjemandem große Teile des heiligen Baumes mittels Kettensäge abgesägt.

Ein Frevel sondergleichen, der weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit geschah. Immerhin: Als wir die geschändete Stätte besuchen, keimen frische grüne Zweiglein auf dessen verstümmelten Überresten. Für uns ein kleines Wunder, denn der Baum galt bereits als abgestorben (siehe Farbteil Seite 67 unten).