Tod auf dem Klangweg

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Tod auf dem Klangweg
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Regula Stadler

Tod auf dem Klangweg

Regula Stadler

Tod auf dem Klangweg

Kriminalroman

orte Verlag

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Das «Grütli» existiert nicht.

© 2018 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und

Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger,

elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck,

sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Janine Durot

Satz: orte Verlag, Schwellbrunn

eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbH, www.herold-va.de

ISBN: 978-3-85830-237-3

ISBN eBook: 978-3-85830-239-7

www.orteverlag.ch

Für meinen Vater, Max Stadler

Und so wurde der Tod

bis in die kleinsten Zellen

verfrachtet.

1

«Das ist mein letztes Wort! Wenn du tatsächlich vorhast, deine einzige Tochter wegen mir zu enterben, dann weiss ich nicht, ob ich noch mit dir zusammen sein kann. Zum tausendsten Mal: Ich will dein Geld nicht!» Karin erhob sich vehement vom alten roten Sofa, stapfte mit hörbaren Schritten in die Küche und schloss nicht eben sanft die Tür hinter sich.

Marie blieb der Mund offen stehen. Sie schluckte leer. Was sollte das? Karin, ihre ruhige, sanftmütige und zurückhaltende Karin! So hatte sie in ihrer ganzen knapp vierjährigen Beziehung noch nie mit ihr gesprochen! Und dabei meinte Marie es nur gut mit ihr. Abgesehen davon wollte sie Eva gar nicht enterben. Sie hatte ihre Tochter auf den Pflichtteil gesetzt, und jetzt wollte sie mit ihrer Freundin einen Partnerschaftsvertrag abschliessen, damit diese einst den grösseren Teil ihres Vermögens erben würde.

Karin war mit ihren siebenundsechzig Jahren um einiges fitter und gesünder als sie mit ihrem angeborenen Herzfehler und ihrem Übergewicht. Logisch, dass sie sich ab und zu Gedanken über das Sterben machte und ihre Liebste gut versorgt wissen wollte.

Das Schnarren der Kaffeemaschine riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie beschloss kurzerhand, bereits heute – und zwar allein – ins Toggenburg zu fahren. Nach einem knappen «Tschüss, ich fahr dann mal ins Toggi», und ohne eine Antwort abzuwarten, griff Marie nach ihrer Tasche, verliess die lauschige, grosszügige Altbauwohnung an der Idastrasse und machte sich auf den Weg zum Auto, das sie auf ihrem Abstellplatz an der Gertrudstrasse parkiert hatte. Die idyllisch von Pflanzen umrankte Maisonettewohnung hatten sie und ihr Mann Kurt vor 25 Jahren gekauft, als man in Zürich Wohnungen und Häuser noch bezahlen konnte.

Ihre Tochter lebte seit dem plötzlichen Tod ihres Vaters vor sechs Jahren in New York und war nur selten bei ihrer Mutter in der Schweiz zu Besuch. Sie war für Marie zeitlebens irgendwie ein Fremdkörper, sie hatte nie ein Kind gewollt. Als sie damals unverhofft schwanger wurde, hatte sich ihr Mann derart gefreut, dass Marie beinahe ein schlechtes Gewissen bekam, weil ihr vor dem Zeitpunkt grauste, an dem das Kind da sein würde. Sie und Kurt waren beide Goldschmiede gewesen und hatten zusammen in ihrer eigenen Schmuck-Boutique gearbeitet. Nachdem Eva da war, kümmerte sich Kurt von Anfang an mehr um das Kind, und Marie war mehr im Geschäft tätig.

Für Eva war der Tod ihres Vaters ein furchtbarer Schock gewesen, sie war Hals über Kopf nach New York ausgewandert. Jetzt würde sie mit ihrem Freund Brian nach Zürich kommen, und Marie wollte die seltene Gelegenheit nutzen, um ihre Finanzen zu regeln und ihre Tochter vor vollendete Tatsachen zu stellen. Eva und Brian würden am Abend in Zürich ankommen und morgen oder übermorgen auch im Ferienhaus in Ennetbühl auftauchen.

Die Auseinandersetzung mit ihrer Freundin liess Marie keine Ruhe. Dass Karin ihr drohte, die Beziehung abzubrechen, falls sie weiterhin darauf bestand, ihre Tochter in Bezug auf ihr Erbe zu benachteiligen, hatte sie total überrascht. Aber gerade wegen ihrer Geradlinigkeit und Uneigennützigkeit liebte sie Karin so sehr.

Marie war dermassen mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht merkte, wie prachtvoll der Tag war und wie strahlend in Sonne getaucht die Landschaft an ihr vorbeizog. Der Zürichsee leuchtete blau und einladend, wiewohl es zum Baden jetzt Mitte September vermutlich zu kalt war.

Gegen halb vier Uhr kam sie in ihrem Ferienhaus in Ennetbühl an, nachdem sie im Coop in Nesslau das Nötigste eingekauft hatte. Sie machte sich als Erstes einen Kaffee und wollte sich gerade in den Garten setzen, als sie Ueli, ihren Nachbarn, von der Weide kommen sah. Sie wartete, bis er in der Nähe des Gartens erschien und rief: «Hoi, Ueli, hast du Zeit und Lust auf einen Kaffee?» Der lachte und meinte: «Lust schon und Zeit … na ja, gern, aber nur kurz.»

Im Gegensatz zu ihrem früheren Nachbarn mochte Marie den Biobauern Ueli Strässle sehr. Er war nicht nur gebildet und kulturell interessiert, sondern auch ein toleranter, grosszügiger und fröhlicher Mensch, kurz, ein interessanter Gesprächspartner, was hier oben nicht gerade selbstverständlich war. Schade, dass er keine Frau hat, dachte sie. Er war gross und kräftig, mit einem gut geschnittenen, intelligenten Gesicht und Augen, die meist humorvoll und entspannt in die Welt schauten. Vor vier Jahren, als er den Hof übernommen hatte, war eine Frau bei ihm, die aber nach wenigen Monaten wieder nach Bern zurückkehrte.

«Na, wie läuft’s auf dem Hof? Die Schafe gesund?»

«Ja, Gott sei Dank, das ist überstanden!»

Vor Kurzem litten Uelis Mutterschafe und auch die Lämmer an der Schafräude, einer hochansteckenden Milbenkrankheit, und Ueli musste alle Tiere, unter tatkräftiger Mithilfe des Tierarztes, in einem extra errichteten Bad mit speziellen Medikamenten baden.

«Mir persönlich geht’s auch nicht schlecht, bis auf meinen Rücken, der meldet sich, wenn ich’s übertreibe. Und wie du weisst, vermisse ich eine Frau hier oben. Du hast doch eine Tochter. Die sucht nicht zufällig einen Mann und will bauern im Toggenburg?» Ueli lachte und nahm einen Schluck vom Kaffee, den Marie ihm hingestellt hatte.

«Stell dir vor, die kommt tatsächlich morgen, aber leider mit ihrem Freund, diesem Brian, einem arbeitslosen Musiker, soviel ich weiss. Nicht unbedingt der Schwiegersohn, den ich mir vorgestellt habe. Überhaupt, ein Amerikaner …», rümpfte Marie die Nase.

«Marie, ich wusste gar nicht, dass du solche Vorurteile hast! Gib dem armen Kerl doch erst mal eine Chance. Deine Tochter lebt in New York; es ist also kein Wunder, dass sie mit einem Amerikaner liiert ist.»

«Wenn ich mich richtig erinnere, ist er gar kein gebürtiger Amerikaner. Er ist als Kind mit seinen Eltern von der Schweiz in die USA ausgewandert; jedenfalls versteht und spricht er Schweizerdeutsch. Es ist einfach so, dass er mir nicht sonderlich sympathisch ist.» Versonnen griff Marie nach ihrer Kaffeetasse.

«Wo bleibt denn Karin? Ich bin es mir gar nicht gewohnt, dass du allein hier bist?»

Marie erzählte ihm nach kurzem Zögern von ihrer Auseinandersetzung. «Die eingetragene Partnerschaft hat, abgesehen vom Erbrecht, weitere Vorteile. Falls zum Beispiel eine von uns einen Unfall hat, wird die andere informiert. So, wie es jetzt ist, sind wir rechtlich gesehen Fremde! Wir werden alt, es ist höchste Zeit, dass wir unsere Beziehung vertraglich absichern», ereiferte sie sich.

«Da hast du Recht. Andererseits finde ich auch, dass Eva deine Haupterbin bleiben sollte. Ihr müsst eine für alle stimmige Lösung finden.»

Typisch Ueli, dachte Marie, ganz Diplomat, will es immer allen recht machen. Aber letztlich geht es doch darum, was ich persönlich will. Wem ich mein Geld hinterlassen will. Diese Gedanken liessen sie auch nicht los, nachdem Ueli gegangen war und sie sich eine Kleinigkeit zum Abendessen richtete. Sie hörte noch einige Arien aus einer ihrer geliebten Wagner-Opern und ging früh zu Bett.

Eva Riefener war todmüde, als sie und Brian Daves gegen halb zehn Uhr abends endlich in Maries Wohnung in Zürich ankamen. Dass die Mutter nicht da war, um sie zu empfangen – immerhin hatten sie sich fast zwei Jahre nicht gesehen – verbesserte ihre Laune nicht. Sie hatte beinahe kein Geld mehr. Das Taxi vom HB nach Wiedikon hatte sie mit ihren letzten Euros bezahlt, Schweizer Franken musste sie erst noch wechseln; sie musste unbedingt von ihrer Mutter Geld leihen. Karin empfing die beiden gastfreundlich und warmherzig, doch Eva blieb kühl und unnahbar. Sie hatte von Anfang an beschlossen, die Geliebte ihrer Mutter nicht zu mögen. Sie wusste, dass diese von Maries Geld lebte, und obwohl sie sich selbst, im Gegensatz zu Brian, wenig aus Geld machte, fand sie, dass Maries Geld ihr zustand und nicht Karin. Da sie als freischaffende Grafikerin in New York von der Hand in den Mund lebte, konnte sie einen gelegentlichen finanziellen Zustupf gut brauchen, und Brian hatte sie wiederholt gedrängt, mit ihrer Mutter über einen Erbvorbezug oder eine regelmässige finanzielle Unterstützung zu sprechen. Eva ahnte, dass das schwierig werden könnte.

Karin tischte den beiden ein spätes Abendessen auf, wofür Eva ihr dankbar war. «Ich muss euch morgen unbedingt etwas mitteilen, bevor ihr ins Toggenburg zu Marie fahrt.» Karin hatte sich endlich durchgerungen. Sie musste mit Eva sprechen und ihr von Maries Absichten erzählen.

«Ja, jetzt wisst ihr es. Ich habe deiner Mutter klipp und klar gesagt, dass ich damit nicht einverstanden bin und ihr Geld nicht annehmen werde. Mit der eingetragenen Partnerschaft bin ich einverstanden, aber falls ich Marie einst beerben sollte, gehört das Geld dir. Ich bekomme eine kleine Rente – habe schliesslich jahrelang als Teilzeit-Lehrperson in der Schule unterrichtet – und viel zum Leben brauche ich nicht.» Karin hatte ausgesprochen, was ihr auf dem Herzen lag und lehnte sich im Stuhl zurück. Eine grosse Ruhe breitete sich in ihr aus, gleichzeitig spürte sie eine Anspannung, die sie sich nicht erklären konnte.

 

«Warum hast du denn Teilzeit gearbeitet? Du hast doch keine Kinder, soviel ich weiss?» Eva war jetzt doch neugierig geworden.

«Nein, ich habe schon immer gewusst, dass mich Frauen mehr interessieren als Männer. Deshalb konnte ich leider keine Familie gründen. Aber ich hatte eine Schwester mit Down-Syndrom, die bei mir lebte. Sie ist erst vor wenigen Jahren an einer Lungenentzündung gestorben, sie wurde einundsechzig Jahre alt. Es war nicht immer einfach mit ihr.» Karin zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend.

Eva betrachtete sie mit widerwilligem Interesse. Eigentlich war ihr die zierliche, noch immer gutaussehende Frau mit den silbergrauen Locken nicht unsympathisch. Sie war auf wohltuende Weise anders als ihre Mutter. Gross, schwer, laut, rechthaberisch, dominant, so war ihre Mutter, seit sich Eva erinnern konnte. Was die beiden Frauen wohl aneinander anzog?

Brian hingegen hatte nur Ohren für Karins Verzichterklärung auf die Erbschaft. «Kannst du uns das schriftlich geben, dass du auf Maries Geld verzichtest?», wollte er wissen.

Eva warf ihm einen empörten Blick zu.

«Ich denke, das hat Zeit, bis ich bestimmt weiss, ob und wieviel ich von Marie erbe. Wenn ich sie denn überhaupt je beerbe, schliesslich sind wir beide ungefähr gleich alt.»

Da das Wetter immer noch traumhaft war, wollten Eva und Brian noch vor dem Mittag ins Toggenburg fahren. Karin hatte im Sinn, später nachzukommen, damit Mutter und Tochter Gelegenheit hätten, ungestört miteinander zu sprechen.

Der grösste Störfaktor ist allerdings mit von der Partie, dachte sie, und betrachtete den leicht aufbrausenden, miesepetrigen Brian unauffällig. Schade, dass er Schweizerdeutsch spricht und versteht. Dass Eva dieser Typ gefällt! Na ja, mit seinen dunklen langen Haaren und seiner ein bisschen zu grossen Nase sieht er nicht schlecht aus; zudem ist er Musiker und spielt Schlagzeug in einer Jazzband in New York. Geld verdient er praktisch keines, kein Wunder, dass sich Eva an ihre vermögende Mutter wendet. Nachdem Karin Eva Geld für das Nötigste geliehen hatte, machten sich die beiden auf den Weg zum Hauptbahnhof und fuhren via Rapperswil ins Toggenburg.

Am nächsten Morgen schlief Marie für ihre Verhältnisse ungewohnt lange. Erst gegen zehn stand sie auf, um sich einen Kaffee zu machen. Sie setzte sich gerade an den Frühstückstisch, als die Hausglocke läutete. Sie rang kurz mit sich und entschied dann, zur Tür zu gehen. Vielleicht war es Ueli. Doch draussen stand Beate Richle, eine Nachbarin. Die zirka vierzigjährige Beate war eine äusserst unberechenbare Person. Sie neigte zu unerwarteten Wutanfällen, die die Menschen, die gerade mit ihr zu tun hatten, erschreckten und irritierten. Handkehrum war sie freundlich und anständig und schien den Streit, den sie wegen einer Nichtigkeit am Tag zuvor vom Zaun gebrochen hatte, vergessen zu haben. Marie vermutete, dass sie psychisch krank war, anders konnte sie sich ihr Verhalten nicht erklären.

«Ich muss schon sagen, Marie. Gestern über Mittag hast du wieder laut gelacht in deinem Garten. Ich konnte meinen Mittagsschlaf nicht halten. Ich habe dir schon oft gesagt, dass ich meinen Schlaf brauche. Du nimmst gar keine Rücksicht und schäkerst mit Ueli herum. Schäm dich, eine Frau in deinem Alter. Und ich meinte, du stehst auf …»

«Ich weiss nicht, was du willst, Beate! Und in diesem Ton musst du nicht mit mir sprechen!», gab Marie zurück und schloss die Tür vor ihrer Nase zu. Ihre gute Laune hatte sich in Luft aufgelöst, die von Beates ausgeatmetem Gift verseucht zu sein schien. Meistens fühlte sie sich unbeschwert und mit sich im Reinen hier oben, aber immer wieder gab es Nachbarn, die ihr das friedliche, sorgenfreie Leben nicht zu gönnen schienen. Zuerst war es Albin gewesen, dieser chronisch schlecht gelaunte, komische Kauz. Und seit einiger Zeit war es Beate, die sie mit ihrem übergriffigen Verhalten störte. Marie wusste, dass Beate sie nicht ausstehen konnte und krankhaft eifersüchtig auf sie war. Eine Weile trödelte sie unschlüssig und grollend im Haus herum, abwechslungsweise die Szene mit Beate und die gestrige Auseinandersetzung mit Karin im Hinterkopf. Schliesslich beschloss sie, nach Unterwasser und von dort mit der Standseilbahn auf den Iltios zu fahren.

Das Wetter war herrlich an diesem Septembertag. Als Marie um drei Uhr an der Talstation ankam, musste sie feststellen, dass sie nicht die einzige war, die um diese Zeit auf den Iltios wollte. Geduldig stellte sie sich in die Warteschlange vor dem Ticketschalter.

Oben angekommen, wanderte sie auf dem Klangweg Richtung Sellamatt. Dort setzte sie sich in der Beiz an die Sonne und bestellte ein Glas Weisswein. Aus einem Glas wurden mehrere, und eine Dreiviertelstunde später machte sie sich gemächlich, mit sich, der Welt, der Nachbarin und auch mit Karin versöhnt, auf den Rückweg. Müde vom Wein, setzte sie sich kurz auf eine Bank an die Sonne und döste im Nu ein. Als sie erwachte, war die Sonne weg; es war bereits fünf nach halb sechs Uhr. Marie erschrak, sie hatte fast zwanzig Minuten geschlafen.

Die letzte Bahn war um 17.30 Uhr gefahren. Nun musste sie wohl oder übel zu Fuss nach Unterwasser hinunter! Kein Mensch war mehr unterwegs. Zügig, aber immer noch leicht beschwipst, wanderte sie Richtung Iltiosbahn. Wie schon auf dem Hinweg konnte sie der Glockenbühne, dem Posten 6 des Klangwegs, nicht widerstehen. Sie musste die vielen an Ketten hängenden Glocken einfach in Bewegung setzen. Das Geläute beruhigte sie und nahm ihr das ein wenig unangenehme Gefühl, das sie verspürte, seitdem ihr klar geworden war, dass ihr eine für ihre Verhältnisse längere und anstrengende Wanderung bevorstand. Sie gab einer im hinteren Teil des Glockenfeldes hängenden Glocke einen kräftigen Schubs. Als sie sich umdrehen wollte, nahm sie einen grossen Schatten wahr, der sich auf sie zu bewegte. Sie hatte keine Zeit mehr, Angst zu empfinden: Ein harter Schlag, und alles war schwarz.

Er war einen Moment erschrocken und verwirrt darüber, was geschehen war. Vor allem überraschte es ihn, wie einfach es gewesen war, die Frau zu töten. Er hatte kräftig mit der grössten Glocke ausgeholt und sie gegen Maries Schläfe prallen lassen. Und sie war tatsächlich tot. Ihre offenen dunkelbraunen Augen blickten ihn erstaunt an, weder Angst noch Schmerz verzerrten ihre Gesichtszüge.

Rasch blickte er sich um. Kein Mensch war zu sehen. Er packte die grosse, schwere Frau unter den Armen und schleppte sie über den Weg Richtung Abhang. Hinter einem grösseren Gebüsch am leicht abschüssigen Hang liess er sie liegen und ging rasch weiter. Er war so euphorisch und aufgedreht, dass er ausnahmsweise keinerlei Schmerzen verspürte. Noch bevor er die Station der Iltiosbahn erreichte, schlug er sich links in die Büsche und marschierte ins Tal hinunter Richtung Unterwasser.

2

Am Donnerstagmorgen war das Wetter immer noch wie aus dem Bilderbuch. Liza Huber wollte die ihr verbleibende Zeit nutzen und nochmals zum Klangweg hinauf. Diesmal würde sie von der Sellamatt bis nach Wildhaus wandern. Sie hatte die Ferienwohnung in der Webstube Bühl oberhalb von Nesslau leider nur bis Ende Woche gemietet, da sie vorhatte, am Samstag nach Zürich zurückzukehren. Bei diesen phänomenalen Wetterverhältnissen drängte sich eine Änderung ihrer Pläne jedoch förmlich auf. Zudem wurde ihre Detektei in Zürich in letzter Zeit von Kundinnen nicht gerade überlaufen. Heute Abend würde sie versuchen, die Miete der Wohnung um eine Woche zu verlängern. Sie kannte die Webstube Bühl von früher. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie mit der Quereinsteiger-Ausbildung zur Primarlehrperson begonnen hatte, hatte sie einmal an einem Webkurs teilgenommen. Als sie zufällig im Internet entdeckt hatte, dass die ehemalige Webstube zu einem attraktiven Loft mit einer Toggenburger Hausorgel umgebaut worden war, die man als Ferienwohnung mieten konnte, hatte sie beschlossen, an diesem idyllischen und friedlichen Ort eine Woche Ferien zu machen.

Schon um neun Uhr parkierte sie ihr Auto in Alt. St. Johann bei der Talstation der Sesselbahn auf die Sellamatt und schwebte den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen. Oben angelangt, beschloss sie, direkt loszuwandern und erst im Restaurant auf dem Iltios einen Kaffee zu trinken. Sie schritt zügig aus, noch war kaum jemand unterwegs, das Gras war feucht vom Morgentau, die Landschaft funkelte und glitzerte in der Sonne. Liza fühlte sich wie in einer Märchenwelt. Immer wieder blieb sie an den einzelnen Klangwegstationen stehen, um die teils witzigen und spannenden Instrumente in Bewegung zu setzen und um, wie sie sich eingestehen musste, ein wenig zu verschnaufen. Sie war nicht mehr so sportlich wie früher; mit ihren achtundvierzig Jahren war sie etwas füllig geworden.

Ich muss unbedingt wieder abnehmen! Eine Detektivin, die schon nach kurzer Marschzeit in Atemnot kommt, das kann es doch nicht sein, schalt sie sich. Eine Weile blieb sie stehen und genoss die Aussicht ins Tal.

Obschon sie auf der Sellamatt auf einen Kaffee verzichtet hatte, spürte sie jetzt einen Druck auf der Blase. Weit und breit war niemand zu sehen; sie würde sich hinter einem der Büsche etwas weiter vorne auf der abschüssigen Seite des Weges erleichtern. Liza hatte ihre Hose bereits geöffnet, als sie einige Meter hinter sich etwas Grosses, Langes, Dunkles am Boden liegen sah. Ein Tier!, blitzte es ganz kurz in ihren Gedanken auf. Nein. Sie wusste sofort, dass das nicht stimmte. Es war ein Mensch, der da lag. Vorsichtig trat sie näher. Es war eine grosse Frau. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht auf dem Boden, kurze graue Haare, ein kräftiger Nacken, die Beine seltsam verkrümmt, dunkle Jeans, dunkle Sportjacke, Wanderschuhe. Tautropfen auf dem ganzen Körper. In Sekundenbruchteilen nahm sie all diese Eindrücke wahr. Was jetzt? Wie in Trance blieb sie eine Weile stehen und griff dann langsam zum Mobiltelefon, um die Polizei zu verständigen.

Michael Schönewald von der Kantonspolizei Wattwil nahm den Anruf im Auto entgegen: «Wo? Auf dem Klangweg oberhalb von Unterwasser? Bleiben Sie bitte da, wir kommen so rasch wie möglich.»

Er war mit seiner Kollegin Marion Canzoni unterwegs auf Patrouille Richtung Obertoggenburg. «Bei diesem Wetter ist es direkt ein Glück für uns, dass da oben eine Leiche liegt. Das ist das erste Mal in diesem wunderbaren Altweibersommer, dass ich in die Höhe komme.»

Marion pflichtete ihm bei: «Geht mir genau so. Eine weibliche Leiche sei es, hat die Frau am Telefon gesagt. Sie hat ziemlich schockiert getönt. Zum Glück muss sie nicht allzu lange warten.».

Als sie bei der Glockenbühne eintrafen, war Erika Althaus, die Ärztin aus Wildhaus, bereits vor Ort. Sie führte ihre Hausarztpraxis seit zwanzig Jahren; die Polizisten hatten auch schon mit ihr zu tun gehabt. Man kannte sich im oberen Toggenburg.

«Die Frau hat einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, mehr kann ich nicht dazu sagen. Ihr müsst den Amtsarzt und die Kriminaltechnik anfordern», begrüsste sie die beiden.

Dr. Althaus war eine stille, unscheinbare Frau, gelegentlich etwas barsch, aber nicht unsympathisch. «Ich bin bereits in Unterwasser gewesen, als mich Frau Huber angerufen hat.» Sie warf einen mitfühlenden Blick auf Liza, die bleich und ratlos neben ihr stand. Trotz der warmen Sonne war es Liza kalt und sie trat von einem Bein aufs andere. Warum sie nach dem Anruf bei der Polizei auch die Ärztin benachrichtigt hatte, hätte sie nicht mehr sagen können. Vermutlich hatte sie gehofft, dass der Frau noch zu helfen sei.

«Haben Sie uns angerufen?», wandte sich Canzoni an sie. «Ich bin Marion Canzoni, von der Kantonspolizei Wattwil und das ist mein Kollege Michael Schönewald. Danke, dass Sie gewartet haben.»

Sie reichte ihr die Hand. Die junge Polizistin hatte blonde, lange Haare und ein offenes, freundliches Gesicht. Sie lächelte ihr mitfühlend zu. Während Liza ihre Personalien angeben und erzählen musste, wie sie die Leiche gefunden hatte, informierte ihr Kollege die Kriminalpolizei, die Kriminaltechnik und den Amtsarzt.

Frau Althaus verabschiedete sich: «Ich kann hier nichts mehr ausrichten, und unten wartet noch viel Arbeit auf mich. Tschüss miteinander.» Sie reichte Liza die Hand, nickte den beiden Polizisten zu und machte sich auf den Rückweg.

 

Liza hätte im Nachhinein nicht mehr sagen können, wie lange sie da gestanden und Fragen beantwortet hatte. Irgendwann hörte sie das Dröhnen des Helikopters, und bald ging es bei der Glockenbühne zu wie in einem Bienenhaus. Die unmittelbare Umgebung war abgesperrt worden; Fotokameras blitzten, die Leute von der Spurensicherung krochen auf dem Boden herum, der Amtsarzt und ein Leichenführer beugten sich über die tote Frau.

«Sie sind Liza Huber? Walter Widmer, Ermittler der Kriminalpolizei St. Gallen.»

Ein freundlicher Mann war auf sie zugetreten, reichte ihr die Hand und führte sie aus dem abgesperrten Gebiet. Liza musterte den Polizisten unauffällig. Sie schätzte ihn auf etwa fünfundvierzig. Er war mittelgross, untersetzt und leicht rundlich, wirkte aber kräftig. Ein runder Kopf, nur noch wenige, angegraute kurze Haare, ausdrucksvolle graugrüne Augen, sanfter Blick, schloss sie ihre innere Begutachtung ab.

Liza musste nochmals genau erzählen, wie sie die Leiche gefunden hatte, was ihr ein bisschen peinlich war. Dann wollte Widmer wissen, was sie so früh auf dem Klangweg zu suchen hatte, wo sie wohne, warum sie überhaupt im Toggenburg war. Als Beruf hatte sie «Primarlehrerin» angegeben; sie hatte einmal drei Jahre lang unterrichtet. Mit der Berufsangabe «Detektivin» ging sie zurückhaltend um, da sie bei den meisten Leuten falsche Vorstellungen weckte und die Polizei in der Regel voreingenommen reagierte.

Schliesslich sagte Widmer: «Das genügt vorerst, danke. Könnten Sie vielleicht morgen in Wattwil auf die Polizeistation kommen, um das Protokoll zu unterschreiben? Brauchen Sie psychologische Unterstützung? Die Sache scheint Sie sehr mitgenommen zu haben.» Er musterte Liza leicht besorgt; ihre von Natur aus blasse, beinahe durchsichtige Haut war weiss, der Blick ihrer dunklen Augen starr. Sie war ungefähr in seinem Alter, beinahe so gross wie er, vollschlank, rotes, leicht angegrautes, aber immer noch schönes Haar, kurzgeschnitten. Sie war keine Schönheit, aber die Frau gefiel ihm.

«Nein danke, es geht schon. Ich brauche jetzt nur einen Kaffee», antwortete Liza hastig.

Widmer blickte sich um. Die Leiche lag bereits auf einer Bahre und wurde soeben in den Helikopter eingeladen. Die Kriminaltechniker konnten ihre Arbeit ohne ihn machen. «Ich begleite Frau Huber zur Bergstation Iltios», informierte er seine Kollegen und zu Liza meinte er aufmunternd: «Dann wollen wir mal.» Ohne sie zu fragen, nahm er ihren Arm und führte sie von ihrem grausigen Fund weg Richtung Iltios.

Ueli war am Donnerstagabend auf dem Weg in die «Brauerei» in Nesslau, als sein Mobiltelefon klingelte. «Du, Ueli, die ‹Brauerei› ist heute geschlossen. Sie haben eine geschlossene Gesellschaft, eine Geburtstagsfeier, glaube ich. Wollen wir uns im ‹Grütli› treffen?»

«Oje, schade! Ich habe mich schon auf das feine Bier gefreut. Ok, das ‹Grütli› tut’s zur Not auch. Bis gleich, bin schon unterwegs.»

Es war Roman Gasser, einer der beiden Lehrer in Nesslau, mit denen er sich seit einigen Monaten einmal in der Woche auf ein Bier traf. Er hatte die zwei kennengelernt, als sie mit ihren Klassen bei einer Wanderung seine Weide überquert hatten. Dann waren sie sich einige Male zufällig über den Weg gelaufen und hatten bald beschlossen, sich regelmässig zu sehen. Die Mentalität der Bauern hier im Toggenburg hatte sich zwar seit seiner Kindheit verändert; die meisten waren offen, hilfsbereit und freundlich. Damals war sie jedoch einer der Gründe gewesen, weshalb er sich entschieden hatte, sein Heimattal zu verlassen und nach Zürich zu ziehen. Warum er hierher zurückgekehrt war, um einen Bauernhof zu übernehmen, war ihm selber nicht ganz klar. Denn ausser am Wochenende, wenn immer wieder einmal jemand aus seinem Freundeskreis in Zürich zu ihm auf Besuch kam, war Ueli an den meisten Abenden allein. Und mit seinem Bruder und dessen Familie, die in Wattwil wohnten, verband ihn wenig. Deshalb freute er sich, wenn er neue Leute kennenlernte, mit denen er über Dinge sprechen konnte, die ihn wirklich interessierten und berührten.

Er betrat das «Grütli», wo Roman Gasser bereits an einem Tisch sass. Die Beiz war recht voll, der Lärmpegel entsprechend hoch. Am Nebentisch, anscheinend dem Stammtisch, sassen Albin Hauser, der alte Bauer, der ihm vor vier Jahren seinen Hof verkauft hatte und zwei weitere ältere Männer, die Ueli vom Sehen kannte. Er nickte kurz in ihre Richtung und setzte sich zu Roman an den Tisch. «Wo bleibt denn Elis?», wunderte er sich.

«Der sollte jeden Moment da sein», gab ihm Roman zur Antwort.

«Wisst ihr’s schon? Auf dem Klangweg oben beim Iltios wurde heute Morgen eine Tote gefunden, ermordet, soviel ich gehört habe.» Die kräftige Männerstimme kam vom Stammtisch und gehörte Hans Rohner, einem Bauern, dessen Gestalt trotz seines vorgerückten Alters immer noch aufrecht und kraftvoll wirkte.

Roman und Ueli drehten sich zum Nebentisch um.

«Weiss man schon, wer es ist?» Diese Frage kam von Fritz Egli.

«Eine ältere Frau, hat’s geheissen. Den Namen haben die von der Polizei bis jetzt nicht herausgegeben», antwortete Hans Rohner.

«Dann wurde sie, äh, nicht … ihr wisst schon.» Fritz Egli linste halb lüstern, halb verschämt in die Runde. Er war ein verschlagen und arglistig wirkender, ungefähr siebzigjähriger Bauer, klein, dürr, mit einem wirren grauen Haarschopf.

Ueli war er äusserst unsympathisch, und er wandte den Blick angewidert von ihm ab. Sein Bier wurde serviert und er begann sich mit Roman zu unterhalten, doch beide waren nicht ganz bei der Sache. Der Leichenfund, über den allem Anschein nach auch an anderen Tischen gesprochen wurde, und die zunehmende Lautstärke am Stammtisch, an den sich mittlerweile zwei weitere Männer gesetzt hatten, lenkten sie ab. Eine Weile lauschten sie der Unterhaltung.

Als Egli zum Bier eine Runde Schnaps bestellte, wurde es wieder leiser. Die Stimmung war leicht angespannt, verhalten aggressiv. Wie meistens an solchen Stammtischen, dachte Ueli, der sich zunehmend unwohl fühlte. Während er noch überlegte, wie er sich mit Anstand verabschieden könnte, trat Elis Osmani in die Wirtsstube.

«Wisst ihr’s schon, deine Nachbarin, Ueli, die Marie Riefener, wurde auf dem Klangweg tot aufgefunden. Sie scheint ermordet worden zu sein. Jemand hat sie erschlagen.» Bleich und fassungslos liess sich Elis auf einen Stuhl sinken.

«Was, Marie, das kann doch nicht sein! Ich habe am Dienstagnachmittag noch mit ihr Kaffee getrunken!» Ueli war aschfahl.

Mit einem Mal war es still im ganzen Lokal. Alle schauten zu ihnen, vereinzelt waren mitfühlende Blicke auszumachen, doch bald nahmen die meisten ihre Unterhaltung wieder auf.

«Die tat doch immer von oben herab, wollte alle herumbefehlen, und eine Lesbe war sie auch.» Fritz Eglis hohe Fistelstimme war deutlich zu vernehmen. Er war offensichtlich angetrunken.

«Hör auf! Das gehört sich nicht, die Frau ist tot, lass sie in Frieden.» Hans Rohner schien noch nüchtern zu sein. Das Stimmengewirr wurde wieder lauter.

Ueli sass wie gelähmt am Tisch, schüttelte immer wieder den Kopf. Elis legte dem Freund den Arm um die Schultern.

«Du hast sie doch auch gekannt, Albin?», wandte sich Hans Rohner an seinen griesgrämigen Kumpel, der bis jetzt geschwiegen hatte.

«Komm, wir gehen.» Roman fand es höchste Zeit, dass Ueli hinauskam. Nachdem er bezahlt hatte, standen die drei auf.

«Ja, und du hast sie auch nicht gemocht. Kein gutes Haar hast du an der gelassen!» Das war wieder Eglis hohe Fistelstimme.

«Die Riefener haben viele nicht gemocht. Wenn man sie deswegen umgebracht hätte, wäre sie schon oft gestorben.» Albin Hausers Worte begleiteten sie auf dem Weg nach draussen, wo Ueli gierig die frische Abendluft in sich hineinsog.