Die Brücke zur Sonne

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Die Brücke zur Sonne
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Regan Holdridge

Die Brücke zur Sonne

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Brücke zur Sonne

Teil 1

Scheinbar endlos zog sich...

Aus den Lautsprechern...

Der darauffolgende Sonntag...

Auf den Koppeln...

Ostern kam und ging...

Das einzige Fenster...

Mit einem lauten Schlag...

Lange, dunkle Schatten...

Es war heiß...

Das Frühjahr brachte...

Teil 2

An der Südküste Englands...

Teil 3

Am 26. Juni des Jahres 1978...

Mit kräftigen Bewegungen...

Sommer 1980

Energisch...

Im Wartezimmer...

Der Samstagabend...

Teil 4

Übermütig sprang Geraldine...

Ein Jahr später, Sommer 1988

Die Lautsprecher...

7 Monate später

Wie beinahe jedes Frühjahr...

Mai 1993

Der Bogen aus Rosshaar...

Dezember 1994

Teil 5

Ein Jahr später

Impressum neobooks

Die Brücke zur Sonne

Regan Holdridge

Die Brücke zur Sonne

Texte: © Copyright 2003 by Regan Holdridge

Herausgeber:

Regina Honold

Alpenstr. 24a

87760 Lachen

autrice.blog@gmail.com

www.autrice.art

Für Doug McClure

Teil 1

1965 – 1966

Die ersten Strahlen der morgendlichen Märzsonne hatten den Nebel noch nicht vertrieben, der sich im Frühjahr oft in den Gärten der Villen am schmalen Flüsschen bildete. Schwer hingen die weißen Schleier über den Hecken und Sträuchern am Ufer und ließen kaum einen Blick über die gusseisernen, eingerankten Zäune in die Nachbargärten zu. Auf der kurzgeschnittenen, hellgrünen Rasenfläche, die sich wie ein Teppich bis an den schmalen Pfad nahe dem Ufer erstreckte, glitzerten die winzigen Tropfen des Taus in bunten, schimmernden Farben. Stille lag über der kleinen, vom direkten Stadtrand durch die Anhöhe abgeschnittenen Wohnsiedlung. Architektonisch vollendete, imposante Villen und ihre dazugehörigen, ausladenden Gärten säumten die Teerstraße zu ihrer Linken, die sich vor den Toren eines herrschaftlichen Schlösschens verlief.

Stille hüllte die Straße ein, die zu dieser frühen Stunde noch wie ausgestorben schien. Es gab keine fröhlichen Grüße, kein Schwätzchen auf der Straße. Niemand wusste mehr über seinen Nachbarn als unbedingt notwendig. Autos fuhren den Weg entlang und verschwanden in einer der Einfahrten, meist anonym, eines von wenigen. Man grüßte sich, wenn man einander zufällig zu Fuß begegnete, immer mit einer gewissen herablassenden Höflichkeit und immer darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Hier lebten nur die Bürger der Stadt, die mit ihrem Geld nichts Besseres anzufangen wussten, als es in teure Häuser zu investieren – des Privilegs wegen und der Eitelkeit.

Zu dieser frühen Stunde schien sich noch niemand nach draußen, in die frische, zugige Morgenluft zu wagen. Nur hin und wieder durchdrang das Zwitschern eines einsamen, munteren Vogels den feuchten Dunst, als wollte er den allmählich beginnenden Tag begrüßen und nur leise war der Lärm der Großstadt zu vernehmen, wie durch eine Wand, gedämpft und fern.

Blasses Licht erfüllte die haushohe Eingangshalle der über hundertjährigen, antiquarisch eingerichteten Villa. Majestätisch zog sich die breite, graue Marmortreppe in einem sanften Bogen geschwungen ins obere Stockwerk hinauf. Durch die schmalen, hohen Fenster in Richtung Osten konnte die Sonne den Eingangsbereich durchfluten, wenn sie im Sommer über den Baumwipfeln aufstieg.

Unter der Treppe hatte die schwere, handgeschnitzte Standuhr aus Kirschbaumholz ihren Platz neben dem Telefontisch gefunden. Das laute, regelmäßige Schlagen ihres Pendels hallte als einziges Geräusch von den weißen Wänden wider. Alles schien so gewöhnlich wie jeden Tag zu sein und der Montagmorgen ging seinen gewohnten Gang. Gleich würde es Zeit sein um aufzustehen – halb sechs Uhr war vorbei und aus der Küche verbreitete sich der verlockende Duft von warmem Toastbrot und Spiegeleiern in die Eingangshalle, den kurzen Verbindungsflur und die angrenzenden Räume.

In diese fast malerische Stille hinein begann das schwarze, altmodische Telefon unerwartet und durchdringend zu schrillen. Es musste einige Zeit läuten, ehe eine ältere, rundlich gebaute Frau in korrekter schwarz-weißer Haushälterinnentracht aus der Küche geschossen kam.

„Auch das noch!“

Louisa Peters war es nicht gewohnt zu solch unhöflich früher Stunde schon in ihrer eingespielten, zur Routine gewordenen Tätigkeit unterbrochen zu werden. Energisch nahm sie den Hörer ab.

„Hier bei van Haren!“ Ihre laute Stimme hallte bis in die letzten Winkel des Erdgeschoßes. „Was? Nein, das geht jetzt nicht. Hast du einmal auf die Uhr gesehen?!“

Im oberen Stockwerk begann es zu rumoren: Eine Türe schlug laut, unbedacht ins Schloss, bevor eilige, leichte Schritte die Marmorstufen herabgerannt kamen. Neugierig beugte sich das junge Mädchen über das Treppengeländer hinab.

„Wer ist dran? Ist es für mich? Natürlich ist es für mich!“

Ihre zierliche, dabei durchaus weibliche Gestalt steckte in einem taillierten Kleid, dessen Rock durch den Petticoat weit schwang und den buntgemusterten Stoff damit umso besser zur Geltung brachte. Es war der neueste Chic der Londoner Modewoche und sie war ausgesprochen stolz darauf, denn es handelte sich um ein echtes Modellkleid. Passend dazu hatte sie sich ein weißes Seidenhalstuch um den Hals gebunden. Ihr hellbraunes, sanft gelocktes Haar fiel penibel gekämmt und mit Haarspray fixiert bis knapp über ihre Ohren herab. Die Schultern hielt sie auffallend straff und den Kopf stolz erhoben, während sie in flachen Ballerinas die letzten Stufen hinabhuschte.

„Gib mir den Hörer! Gib ihn mir!“

Ihr kindliches, dennoch schmales Gesicht zeigte bereits das, was einmal eine wahre Schönheit werden würde: Die großen, grauen Augen, die weit auseinanderstanden und dazu die zierliche Stupsnase – alles Eigenschaften, die sie ihrer Mutter unwahrscheinlich ähneln ließen. Mit einer abweisenden Handbewegung scheuchte Louisa das Mädchen zurück.

„Nein!“, erklärte sie und der Ton ihrer Stimme ließ keinen weiteren Widerspruch zu. „Miss van Haren hat jetzt keine Zeit und sie wird auch heute Abend ganz sicherlich zu keiner Geburtstagsparty erscheinen! Guten Tag!“ Der Hörer knallte auf die Gabel zurück.

Entrüstet schnappte das Mädchen nach Luft, während sie sich mit einem Aufschrei vor der Haushälterin aufbaute. Ihr Fuß stapfte zornig auf den Boden. „Wer war das? Von welcher Party ist die Rede? Ich bin überhaupt nicht unterrichtet! Wie können Sie da einfach auflegen?!“

Unwirsch stemmte Louisa ihre Arme in die runden Hüften. „Mein Kind, das ist jetzt vollkommen unwichtig! Sind deine Koffer fertig gepackt? Nein? Dann aber marsch, ab! Außerdem hast du in deinem Alter sowieso noch überhaupt nichts auf Partys verloren!“ Ihre Augen funkelten streng; sie kannte das vierzehnjährige Mädchen nur zu gut. Verzogene Göre, dachte sie, innerlich den Kopf schüttelnd, und zog mitleidig die Mundwinkel nach unten. „Andere Mädchen in deinem Alter sitzen abends Zuhause und erledigen ihre Schularbeiten! Diese ständigen Partys verderben den Charakter!“

 

Aufmüpfig warf das Mädchen den Kopf zurück. „Das behaupten Sie jedesmal und zu Ihrer Beruhigung: Meine Koffer sind gepackt! Wo steckt meine Mutter?“

Seufzend deutete die Haushälterin den breiten Flur hinab.

„Im Kaminzimmer“, antwortete sie, während sie sich gleichgültig abwandte. „Ich werde jetzt das Frühstück auftragen.“

„Tun Sie das! Jeder sollte sich um das kümmern, wofür er geschaffen wurde, nicht wahr?“ Absichtlich benutzte sie die Formulierung ihrer Mutter, die Louisa jedesmal fast zur Weißglut trieb, doch in ihrem Fall blieb die Haushälterin gelassen.

„Bloß gut, dass ich in wenigen, absehbaren Stunden für ein Jahr nichts mehr von dir sehen und hören muss! Erholung habe ich weiß Gott nötig!“ Louisa versetzte der Küchentüre einen achtlosen Tritt und ließ die Tochter ihrer Arbeitgeber allein zurück.

Wütend, dass ihre Worte nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatten, lief das vierzehnjährige Mädchen davon, die beiden Stufen des kurzen Flurs hinauf, zur letzten Tür auf der rechten Seite. Ein kalter Luftzug schlug ihr entgegen und sie drückte die schwere Nussbaumtür eilig ins Schloss zurück. Die Glastür zur großen, gefliesten Terrasse stand weit offen und ließ die klare, frische Morgenluft herein.

„Für was besitzen wir eine moderne Zentralheizung?!“ Fröstelnd ließ das Mädchen sich auf das cremefarbene Samtsofa vor dem steinernen Kamin fallen. „Damit du uns erfrieren lässt?“

„Blödsinn!“ Ihre Mutter lehnte im Türrahmen und blickte hinaus in den ausladenden, riesigen Garten. Schließlich drehte sie sich um und ihre Tochter starrte sie für eine Sekunde überwältigt an. Rachel Antoinette van Haren trug ein perfekt aufeinander abgestimmtes, mintgrünes Kostüm, das die wohlgeformten Proportionen ihrer zierlichen Figur ideal zur Geltung brachte. Ihr hellblond gebleichtes Haar ließ sie sich seit etlichen Jahren im Stil der Monroe schneiden, was bei ihren von Natur aus glatten Strähnen jedoch regelmäßige Friseurbesuche voraussetzte. Die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe erzeugten ein leises Klopfen, als sie über den hellen Parkettboden hinüber zum offenen Kamin schwebte.

Rachels Gesicht war von außergewöhnlicher, geradezu magischer Schönheit. Es war so ebenmäßig und zart, dass sie überall, wo sie auch erschien, die Blicke der Männer auf sich zog – und ihr gleichzeitig bei den Frauen ungezählte Neiderinnen schaffte. Dessen war Rachel sich vollstens bewusst und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre naturgegebenen Vorzüge zur Schau zu stellen. Obwohl sie mit diesem Jahr ihr vierzigstes vollendete, wirkte sie auf die Vertreter des anderen Geschlechts aller Altersklassen anziehend und oft genug versammelte sie bei entsprechenden Anlässen und Empfängen den Großteil der männlichen Gäste um sich. Erst bei genauerem Hinsehen fiel dem feinfühligen Gegenüber ihre kalte, gefasste und genaustens berechnete Ausstrahlung auf, die angesichts ihrer äußerlichen Schönheit allerdings völlig in den Hintergrund gedrängt wurde.

„Eben hat jemand für mich angerufen“, jammerte ihre jüngste Tochter in diesem Augenblick und starrte düster in den kalten, verrußten Kamin. „Aber Louisa hat mir einfach den Hörer nicht gegeben!“

Gereizt runzelte Rachel die Stirn. „Damit hatte sie auch völlig recht! Die Zeit ist knapp.“ Einen Moment herrschte Schweigen und das Mädchen beobachtete prüfend seine Mutter, wie diese die Porzellanfiguren auf dem Kaminsims neu ordnete.

„Ich will nicht mit!“, stieß das Mädchen plötzlich hervor. „Ich will einfach nicht!“

Rachel überhörte den Einwurf. „Haben sich deine Koffer mittlerweile in anderer Geschwindigkeit gefüllt als gestern Abend? In gut einer halben Stunde bringt uns das Taxi zum Flughafen.“

Verzweifelt stieß ihre Tochter ein Ächzen aus. „Was ist, wenn nur noch zwei Plätze frei sind? Es könnte doch sein, dass dringend jemand…“ Sie brach ab. Der eisige Blick ihrer Mutter verbot ihr den Mund.

„Hör endlich auf, meine Geduld mit unsinnigen Kommentaren zu strapazieren! Wir werden aus dem bevorstehenden nächsten Jahr das Beste machen. Manchmal denke ich zwar, dass die Entscheidung falsch ist und ich deinem Vater nicht hätte nachgeben dürfen – aber jetzt ist die Angelegenheit entschieden! Du weißt, was diese Stelle für ihn bedeuten kann! Wenn er in dieser Klinik in den Vereinigten Staaten gute Zeugnisse mit nach Hause bringt, wird er hier in London die Stelle des Chefarztes übertragen bekommen und das ist nun einmal enorm wichtig für ihn. Und unserem Namen und Ruf kann es auch nicht schaden. Außerdem ist Amerika das Land auf dieser Welt, in dem nun einmal die meisten und bedeutendsten Kinofilme produziert werden. Vielleicht läuft mir ja sogar ein Hollywoodstar über den Weg, Cary Grant zum Beispiel.“

„Es wäre bestimmt viel einfacher für euch, wenn ihr mich hier lassen würdet und ihr nehmt nur Jean mit!“ Das Mädchen verdrehte die Augen. Was interessierte sie denn Cary Grant oder sonst irgendein Filmschauspieler, wenn sie dafür alles zurücklassen musste, was ihr wichtig war? „Ich meine, Louisa ist doch da! Und Sallys Eltern würden bestimmt auch nach mir sehen, wenn es euch beruhigt und…“

„Diese Diskussion ist für mich längst beendet“, fiel Rachel ihr ungehalten ins Wort, wobei ihre Miene sich verfinsterte. „Hör endlich auf mit diesem Gezeter und benimm dich, wie ich es dich gelehrt habe!“

„Aber Mom!“, brauste das Mädchen verzweifelt auf. Ihre Lage schien aussichtslos und in ihren jungen, unerfahrenen Gedanken breitete sich eine Art von Abscheu aus – gegen das Leben, ihr Schicksal und gegen ihre Mutter, die sie zu zwingen vermochte. Keiner verstand sie! Keiner verstand, wie es in ihr aussah!

„Was haben wir denn in den Vereinigten Staaten schon verloren? Die Väter von anderen Mädchen in meinem Alter bleiben doch auch hier und haben bedeutende Stellungen in ihren Berufen! Wieso müsst ausgerechnet ihr derartig verrückt sein?“

„Erstens verbitte ich mir diesen Ausdruck und zweitens habe ich dir die Gründe bereits erklärt. Es geht um die Karriere deines Vaters. Ein Jahr ist schnell vorbei und jetzt reiß dich um Himmels Willen zusammen!“ Ungeduldig drehte Rachel sich auf dem Absatz um. „Ich muss zusehen, dass deine Schwester endlich das Chaos in ihrem Zimmer beseitigt. Dann schau ich nach, ob dein Vater die Koffer schon hinuntergetragen hat und ob ich das Taxi rufen kann. Außerdem solltest du noch gut frühstücken, bevor es losgeht.“ Sie eilte zur Tür, wobei die hohen Absätze ihrer Schuhe im Takt ihres schwebenden Ganges klapperten.

„Und was passiert jetzt mit mir?“ Mit einem letzten, aufbäumenden Versuch, dem Unvermeidbaren doch noch zu entrinnen, sprang das Mädchen auf. „Schön – für Paps ist es ein Aufstieg und für mich? Ich muss für ein Jahr alles aufgeben – meine Freunde, die Schule…“

„Patricia Lorena van Haren!“ Rachel hatte bereits die Türe aufgerissen. „Du hast vollkommen falsche Vorstellungen von einer amerikanischen Großstadt! Sie ähnelt London sehr, sei ganz beruhigt! Auch dort gibt es Mädchen, mit denen du dich anfreunden kannst, außerdem: Noch bestimme ich hier, was gut für dich ist und was nicht! Und ich erkläre dir hiermit zum allerletzten Mal: Wir fliegen!“

Rachel lief davon. Leise glitt die Tür hinter ihr ins Schloss. Regungslos hing Pattys Blick an den Schnitzereien im Nussbaumholz, als erhoffte sie sich von ihnen Hilfe oder eine Antwort. Alles hatte sie versucht, wirklich alles, um diesem einen Jahr in den Staaten zu entrinnen. Bis heute Morgen war sie so fest davon überzeugt gewesen, doch noch ihren Willen durchsetzen zu können, aber jetzt war auch diese Hoffnung geplatzt, wie eine schöne Seifenblase, die schon viel zu lange in der Luft geschwebt hatte.

Tränen der Wut und Enttäuschung brannten in ihren Augen und sie tat sich selbst entsetzlich leid. Allein die Vorstellung, in ein Land zu ziehen, das ihr vollkommen fremd war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie konnte das nicht, es war zuviel verlangt! Sie war nie, niemals in ihrem ganzen bisherigen Leben aus ihrer vertrauten Umgebung herausgekommen. Wie sollte sie ein ganzes Jahr in einem Land meistern, das sie schon jetzt verabscheute? Alle Mädchen in ihrer Schulklasse beneideten sie darum, dass sie zwölf Monate in den USA verbringen durfte – ein Land, das sie alle lediglich von der Leinwand des städtischen Kinos kannten. Nur Patty selbst brachte es beim besten Willen nicht fertig, es als neue, bereichernde Erfahrung zu empfinden.

Wenn ich nur mit jemandem tauschen könnte! Ihr genügte das Bild auf der Leinwand. Wozu dieses herrliche, sorgenfreie Leben hier aufgeben, wo es ihr gut ging und sie alles besaß, wovon andere Mädchen in ihrem Alter nur träumen konnten? Teure Kleider, zwei riesige Zimmer, ein eigenes Bad, eine eigene Lounge im Kino, die nur für ihre Familie reserviert war…

Die Wanduhr schlug laut und dröhnend die volle Stunde, ihr Gong hallte durch das Zimmer. Patty zuckte zusammen. Jeden Augenblick konnte es soweit sein. Vielleicht gab es noch einen letzten Ausweg, vielleicht bekam ihr Vater ja noch ein Einsehen! Ihr Vater – ihr letzter Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, weil er viel nachgiebiger und weicher war als Rachel. Entschlossen warf Patty den Kopf zurück, ihr nach außen geföhntes Haar flog mit der Bewegung mit. Auch, wenn sie vor kurzem erst vierzehn geworden war, so besaß sie doch dieselben Eigenschaften wie ihre Mutter – nämlich Starrsinn und eisernen Willen und bisweilen sogar die gleiche unnahbare, schier unerträgliche Gefühlskälte.

Das Frühstück schmeckte Patty nicht und sie kaute lustlos darauf herum, bis sie den Teller schließlich beiseiteschob und wortlos das Speisezimmer verließ. Unter Louisas hartem Blick war ihr nichts anderes übriggeblieben, als die letzten Krümel doch noch zusammenzukratzen, denn die Haushälterin hätte es fertiggebracht und sich bei Rachel beschwert. Noch nie hatte Patty sich vom Leben derart ungerecht behandelt gefühlt. Es kam ihr beinahe vor, als bedeutete dies das Ende jeglicher Zukunftsaussichten. Sie strich sich den Stoff ihres Designerkleides zurecht und schlich hinaus in die Eingangshalle.

In der Zwischenzeit hatten sich dort die Koffer und Reisetaschen gestapelt, gefüllt mit dem Wenigen, was sie von all ihrem Besitz mitnehmen konnten und Patty stand eine Weile davor, um sie anzustarren. Auf einmal begann Rachels herrische Stimme aus dem oberen Stockwerk nach unten zu dringen. Wahrscheinlich bekam ihre dämliche, zwei Jahre ältere Schwester gerade wieder einmal eine Standpauke zu hören, weil sie zum einen nicht fertig war mit Packen und zum anderen wieder irgendetwas angestellt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken.

Patty seufzte. Eigentlich wäre es überhaupt kein Problem, wenn ihre Eltern sie und Louisa alleine hier zurücklassen würden. Schließlich musste sich ja trotz allem jemand um die Villa kümmern, auch wenn niemand für ein Jahr darin wohnen würde. Die kostbaren Möbel würden mit Tüchern abgedeckt werden, um sie vor Staub und Schmutz zu schützen und die Blumenbeete blieben für einen Frühling ohne die prächtige Farbenpracht, weil Rachel sich das Geld für den Gärtner sparen wollte. Wer wusste, ob Louisa alleine, ohne Beaufsichtigung in der Lage sein würde, sich um alles anständig zu kümmern? Patty betrachtete sich im mannshohen Garderobenspiegel und überprüfte den Sitz ihrer Frisur. Eigentlich wäre sie durchaus eine würdige Vertretung für den Rest ihrer Familie, wie sie fand.

Eine Autohupe riss sie wüst aus den schönen Überlegungen. Die schwere, geschnitzte Haustür stand weit offen und am Ende der fünf Stufen parkte soeben das bestellte, schwarze Taxi ein. Neben ihren drei eigenen Gepäckstücken blieb Patty stehen und starrte ihrem Vater finster entgegen, der soeben herein eilte.

Matthew Cleavon van Haren war gut Einmeterneunzig groß und schlank und der lange Mantel in dunklem Blau ließ ihn ausgesprochen weltgewandt aussehen. Als er seine jüngere Tochter bemerkte, verlangsamte er seinen Schritt. Sein gutaussehendes, schmales Gesicht verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln.

„Na, mein Mädchen? Hast du auch nichts vergessen?“

Wortlos schüttelte Patty den Kopf und schürzte unverhohlen die Lippen. Es war Verletzung und Angst in einem, was in ihr tobte. Regungslos beobachteten ihre rehbraunen, verdächtig glänzenden Augen, wie ihr Vater die nächsten beiden Koffer zum Taxi trug. Der blaugekleidete Fahrer nahm sie ihm ab und verstaute sie im Kofferraum. Matthew kam zurück und wollte wieder zu zwei Taschen greifen, es waren Pattys.

 

„Paps?“ Hastig packte seine vierzehnjährige Tochter ihn an den Armen, riss ihn zu sich herum. Sie musste es aufhalten, jetzt, sofort, ehe es zu spät für sie wäre, denn sie fühlte instinktiv, dass dieses ganze Vorhaben für sie entsetzlich enden würde und dass sie dieses Jahr womöglich nicht durchstehen konnte. Patty besaß weder die Fähigkeit, noch die Erfahrung, die Ausmaße eines solchen Aufenthalts einzuschätzen, denn sie war von Kleinkindesalter an verwöhnt und behütet. Das jüngste Kind ihrer Eltern und Rachels großer Liebling, von ihrem Vater heiß und innig geliebt und von ihrer Mutter immer daran erinnert, dass sie nicht irgendeiner Familie angehörte, sondern dass sie etwas Besonderes geworden war. Nie hatte sie für etwas, das sie haben wollte, arbeiten oder einen Finger rühren müssen und gerade deshalb brannte die Enttäuschung in ihr, diesmal ihren Willen nicht bekommen zu haben. Dieses Mal schienen ihre Eltern ihr eigenes Ziel durchzusetzen und das passte Patty ganz und gar nicht. Sie konnte nicht ahnen, dass Mädchen wie sie eines war, keine Enttäuschung im Leben erspart blieb und dass die Lektionen, die sie zu lernen haben würde, härter waren, als sie es sich in diesem Moment ausmalen konnte. Sie verstand das Leben nicht – sie verstand nur die Oberflächlichkeiten und das genügte ihr.

Liebevoll blickten Matthews hellbraune Augen, die genau dieselbe Farbe wie seine kurzgeschnittenen, an den Schläfen schon leicht ergrauten Haare besaßen, auf seine kleine Tochter herab. Seine schlanken, gepflegten Hände, die Rachel immer als „Medizinerhände“ bezeichnete, legten sich schwer auf Pattys Schultern. Sein einnehmender, vertrauenserweckender Charme stand im völligen Gegensatz zu der kalten Ausstrahlung seiner Frau und Außenstehende neigten gern dazu, das Ehepaar van Haren mit zwei sich abstoßenden Magneten zu vergleichen. Bei öffentlichen Anlässen – und auf solchen waren sie dank Rachels Modebewusstsein häufig vertreten – verhielt Matthew sich still und zurückhaltend und ließ seiner Frau den Vortritt. Er hatte sein Leben der Medizin und seinem Beruf als Chirurg verschrieben und für gewöhnlich blieb ihm wenig Zeit, sich tieferschürfend mit solchen Nebensächlichkeiten wie der neuesten Kreation eines Pariser Modeschöpfers zu beschäftigen. Außerdem fehlte ihm dafür jegliches Interesse und Verständnis. Für ihn sah seine Frau immer bezaubernd aus – ganz gleich, ob in einem Designerkleid oder in einer Tweedhose von der Stange aus dem Kaufhaus.

„Paps!“ Flehend schlang Patty jetzt ihre Arme um seinen Oberkörper. „Wenn du mir meinen größten Wunsch erfüllst, brauchst du nie, nie wieder irgendetwas für mich tun! Dann bin ich bis ans Ende meines Lebens wunschlos glücklich! Bitte, lass mich hier, bitte, bitte!“ Sie presste sich fest an ihn. Diese Masche half meistens, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte. „Du kennst mich, Paps! Du weißt, dass ich in Amerika todunglücklich sein werde!“

Matthew musste sich sehr zusammennehmen, um Ruhe zu bewahren. Zu oft hatte sie ihm damit schon in den Ohren gelegen, seit Wochen, seit Monaten, seitdem sie wusste, dass es dieses Auslandsjahr geben würde.

„Dazu ist es zu spät“, erklärte er bedacht und schob sie sanft von sich fort. „Außerdem bildest du dir das alles nur ein! Es wird dir bestimmt gefallen, glaub mir! Sogar deine Mutter freut sich auf die Staaten und du weißt, wie schwer sie mit etwas zufriedenzustellen ist!“

Patty trat einen Schritt zurück und starrte ihn an. Tränen der Wut und des Trotzes brannten in ihren Augen. „Das ist ungerecht! Ihr seid meine Eltern und damit für mein Wohlbefinden verantwortlich, aber jetzt zwingt ihr mich, die schlimmsten zwölf Monate meines Lebens durchzustehen! Das verzeihe ich euch nie, niemals!“

Seufzend schloss ihr Vater für eine Sekunde die Augen. „Schon gut. Darüber können wir während des Fluges noch ausgiebig diskutieren.“ Er warf einen Blick auf die alte, schwere Standuhr. „Es wird Zeit. Wir müssen uns beeilen. Gib deiner Mutter und deiner Schwester Bescheid, dass wir allmählich fahren sollten. Das Flugzeug wartet nicht, nur weil sie ewig trödeln!“

Hastig drehte er sich auf dem Absatz herum und lief wieder hinaus, zum Taxi. Draußen blieb er stehen und atmete mehrere male tief durch. Wie sehr es doch seine Vorfreude trübte, seine jüngste Tochter so unglücklich sehen zu müssen, aber auf keinen Fall konnte er sie hier alleine zurücklassen, nicht einmal in Louisas Obhut. Patty gehörte zu ihnen, jedenfalls so lange, bis sie erwachsen sein und ihre eigenen Wege gehen würde. Er hatte ja auch gar nicht damit gerechnet, dass ihm, ausgerechnet ihm, auf einmal die Möglichkeit zuteil werden würde, ein ganzes Jahr im Ausland zu arbeiten. Die Entscheidung der amerikanischen Klinik war ganz plötzlich gefallen und er hatte nicht eine Sekunde gezögert, das Angebot anzunehmen. Sein Blick glitt über die Koffer hinweg, die sich im hinteren Teil des Taxis stapelten. Ein Jahr, ein ganzes langes Jahr fort von dieser lauten, stinkenden Stadt, fort von den ständigen Empfängen und Partys, endlich nur Arzt und Mensch sein, nichts weiter. Für ihn würde es das Jahr werden, in dem er sich daran erinnern konnte, welche Ziele und Träume ihn einst getrieben hatten – und was heute davon übriggeblieben war.

Lange stand Patricia entmutigt und hilflos in der Eingangshalle der riesigen Villa, die ihr Großvater einst hatte erbauen lassen. Fahren, jetzt, sofort, ohne, dass sie sich von Mabel und all ihren anderen Freunden verabschiedet hatte; ohne, dass sie auch nur die Möglichkeit gehabt hätte, einfach fortzulaufen und erst, wenn der Rest ihrer Familie abgereist war, wieder aufzutauchen!

Als hätte sie die Worte ihres Mannes gehört, trippelte in diesem Augenblick Rachel auf ihren hohen Absätzen die Treppe herab, gefolgt von ihrer älteren Tochter, die noch im Laufen in ihrer Handtasche wühlte.

„Nun beeil dich doch endlich! Es ist immer dasselbe mit dir!“

„Ich komme ja schon!“ Jean Frances van Haren eilte hinter ihrer Mutter her. Sie trug noch einen Ballerina in der Hand und einen Haargummi zwischen die Zähne geklemmt. Auf halber Höhe der Treppe hielt sie inne und schlüpfte schnell in den zweiten Schuh. Dann packte sie ihr schulterlanges, braunes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Ich muss nochmal schnell wohin!“

Patty verdrehte die Augen und warf ihrer sechzehnjährigen Schwester einen ungeduldigen Blick zu, beherrschte sich jedoch soweit, jeglichen Kommentar zu unterlassen. Was konnte sie von so einer Schwester auch schon erwarten? Sicherlich nicht, dass die Reise weniger anstrengend und nervenaufreibend verlaufen würde. Eilig schlüpfte Rachel nun in ihren Mantel und wirbelte gleichzeitig herum.

„Konnte dir das nicht früher einfallen?“, schimpfte sie ungehalten. „Nun mach’ doch endlich!“

„Ja, ja!“ Jean raste die Treppe wieder hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend.

„Und wieso trägst du dieses unmögliche, alte Kleid?“, schrie ihre Mutter ihr hinterher. „Kannst du dir nicht einmal ein Beispiel an deiner Schwester nehmen und ein bisschen auf dein Äußeres achten?“

Eine Tür schlug im oberen Stock mit einem lauten Knall ins Schloss. Rachel seufzte ungehalten.

„Kann sie nicht“, feixte Patty und ließ sich von Louisa in ihren neuerworbenen Trenchcoat helfen. „Sie hat eben nicht mein Modebewusstsein!“

Und sie ist hässlich, im Gegensatz zu mir, fügte sie in Gedanken hinzu, wobei sie unbewusst schnippisch grinste.

„Red keinen Unsinn, steig’ wenigstens du schon ein!“ Ihre Mutter packte sie am Arm und zerrte sie hinaus ins Freie. Ohne eigenen Willen fühlte Patty, wie sie, einer Puppe ähnlich, auf die Rücksitzbank des miefigen, engen Taxis geschoben wurde.

Endlich kam ihre Schwester angerannt, ihre Jacke – natürlich – auf dem Arm. Sie umarmte noch die Haushälterin überschwänglich.

„Auf Wiedersehen, Louisa! Passen Sie gut auf alles auf!“

„Jean!“ Der Schrei ihrer Mutter gellte über die Hofeinfahrt.

„Ja, ja! Bin schon da!“

Das sechzehnjährige Mädchen ließ sich neben ihre Schwester auf die Rücksitzbank fallen und ächzte. Das brachte ihr einen herabwerfenden Seitenblick Pattys ein, den Jean geflissentlich ignorierte. Sie zupfte das marinefarbene Baumwollkleid bestmöglich zurecht, das ihr so gut gefiel, weil es schlicht geschnitten war und keine Blicke auf sich zog. Im Gegensatz zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester besaß Jean den Körper eines Kindes. Während bei Patty sämtliche weibliche Attribute bereits mehr als deutlich ausgeprägt waren, hatten sich bei ihr noch nicht mal ansatzweise Brüste entwickelt. Oft beneidete Jean ihre Schwester darum, denn sie sah einfach in allen Kreationen, die ihre Mutter nach Haus brachte, umwerfend aus. Andererseits legte Jean nicht denselben Stellenwert auf Kleidung wie ihre Schwester, sodass es ihr häufig gelang, über Pattys Eitelkeit hinwegzusehen.

Im völligen Gegensatz zum Rest ihrer Familie schien Jean auf einen flüchtigen Blick hin nicht das, was als Schönheit hätte bezeichnet werden können. Zwar waren die Gesichtszüge ebenmäßig und fein, doch die grünen Augen wirkten zu klein und die Nase zu groß und lang geraten. Das Kinn stand zu weit vor und wirkte zu breit, während die Wangenknochen fast zu kantig ausgefallen waren.

„Winkt doch Louisa nochmal!“, befahl Rachel vorwurfsvoll ihren Töchtern, während sie durch das heruntergekurbelte Fenster zu der Haushälterin zurückblickte, die heftig ein weißes Taschentuch schwenkend im Eingang stand. Ihr Satz blieb bei Patty ohne Reaktion. Während Jean fröhlich ihren Arm zum Fenster hinausstreckte, wagte Patty es nicht, ihren Blick noch einmal umzuwenden. Sie war davon überzeugt, dass sie – sollte sie dieses Jahr überhaupt überleben – nie wieder glücklich werden konnte. Bis dahin würde sie längst an Heimweh und Langeweile oder allem beiden gestorben sein.