Die Brücke zur Sonne

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Vorsichtig schlich Patty die Treppe hinab in den Wohnraum, wo sie sicherheitshalber stehenblieb, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich alleine war. Jedes Knacken des Holzes ließ sie zusammenzucken und sie horchte angestrengt, ob nicht irgendwo doch eine unbekannte Gefahr auf sie lauerte. Während sie so dastand, am Ende der Stufen, drang mit einem Mal ein Poltern an ihr Ohr. Jemand klopfte an die Tür! Regungslos hielt Patty den Atem an und horchte angestrengt, doch das Pochen kam nicht wieder. Dafür erklang plötzlich eine rufende, männliche Stimme von draußen: „Hallo! Ist jemand zu Hause?“

Entsetzt fuhr Patty herum. Wer, um Himmels Willen, konnte etwas von ihnen wollen?! Durch das Fenster, rechts neben der Haustür entdeckte sie unter den Stufen des Vorbaus ein goldbraunes Pferd mit schwarzen Beinen. Ein Mann stand daneben und blickte um sich, als suche er jemanden.

„Hallo!“, rief er jetzt noch einmal, diesmal langgezogen. „Ist denn niemand da?“

Pattys Herz raste und ihre Gedanken kreisten wild durcheinander. Was sollte sie tun? Hinausgehen? Sie kannte den Kerl nicht und ihre Mutter hatte ihr ein Leben lang eingeschärft, fremden Männern gegenüber vorsichtig zu sein. Wer konnte ihr garantieren, dass die seltsame Gestalt mit dem Pferd nicht ein entflohener Häftling oder ein gesuchter Verbrecher war, der sie womöglich als Geisel benutzen wollte? Aber vielleicht brauchte er ja auch ihre Hilfe und am Ende trug sie an einem schrecklichen Unglück die Schuld, weil ihr Mut sie im Stich gelassen hatte?

Noch während sie herumwirbelte, in der verzweifelten Hoffnung nach einem Ausweg, fiel Pattys Blick auf das rostige, unbrauchbare Gewehr über dem Kamin und endlich erkannte sie ihre Rettung. Mit zitternden Händen hob sie die Waffe von ihrer Halterung herab. Sie war schwerer, als das Mädchen erwartet hatte. Ungeschickt drückte sie sich den Kolben an den Oberarm, wie sie glaubte, es im Fernsehen, in den Westernserien ihres Vaters schon beobachtet zu haben. Es gelang ihr, sich soweit zu beruhigen, dass sie wenigstens ein mutiges Gesicht zu dieser verzwickten Situation machen konnte, auch wenn sie innerlich zitterte. Nach kurzem Zögern riss Patty die Haustüre auf und trat langsam hinaus unter das Vordach.

„Hey!“, rief sie unfreundlich und fand, dass es sich bereits erschreckend amerikanisch anhörte. „Sie da, auf dem Pferd!“

Erstaunt zügelte der Reiter seinen Wallach, den er bereits zu einer Wendung hatte ansetzen lassen, um wieder davonzureiten. Als er sich jetzt zu ihr herumdrehte, glaubte Patty, in ihm den jungen Mann mit dem rotblonden, lockigen Haar vom Vortag vor dem Saloon in Silvertown zu erkennen.

Entflohener Häftling! Von wegen! So dämlich kannst auch nur du sein, Patricia Lorena van Haren! Daran sind allein dein Vater und diese Bruchbude schuld!

Mit einem amüsierten, geradezu unverschämten Grinsen hob der Reiter kurz seinen hellbraunen Cowboyhut vom Kopf und meinte: „Na, da sieh einer an! Ich dachte schon, es seien alle ausgeflogen!“

„Sie haben aber schnell unsere Adresse herausgefunden!“ Die Waffe in ihrer Hand gab Patty ein Gefühl von Sicherheit. Misstrauisch blinzelte sie den jungen Mann im hellen Sonnenlicht an. „Aber ich muss Sie enttäuschen, meine Schwester ist in Ihre Filmstadt gefahren. Dort können Sie nach ihr suchen.“

„Trey Stockley“, stellte dieser sich mit gespielter Erschrockenheit vor. „Das nur, damit Sie meinen Namen wissen, wenn Sie mich unbeabsichtigt beerdigen müssen, junges Fräulein!“ Sein Pferd begann, ungeduldig mit dem Huf zu scharren und er tätschelte es beruhigend am Hals. „Ich stimme dir vollkommen zu: Aus irgendeinem Grund, der mir noch verborgen geblieben ist, scheinen wir der englischen Lady nicht zu gefallen!“

Sein witzelnder Tonfall weckte den Zorn in Patty, der im Moment ohnehin an der Oberfläche brodelte. Er schien sie nicht einmal für ernst zu nehmen!

„Was mit Ihnen passiert, liegt allein in Ihrer Hand!“ Verächtlich rümpfte sie die Nase. „Musst du übrigens nicht zu deinen Rindviechern zurück, damit sie nicht abhauen…Cowboy?“

Er sah tatsächlich wie einer aus: Der Hut, die beige Jeanshose, die Stiefel und die braune Lederjacke.

„Ach, die kennen mich! Die wissen, dass bei mir brav dageblieben wird!“ Er zwinkerte übermütig und pfiff leise durch die Zähne. „Ehrlich gesagt wäre mir wesentlich wohler, wenn Sie mit dem Gewehr nicht auf mich, sondern auf den Boden zielen würden. Ich meine nur, falls sich ein Schuss löst. Ich weiß nicht, ob Ihre Schwester unbedingt mein Grab ausheben möchte.“

Wütend hob Patty die Waffe wieder ein wenig höher, denn allmählich wurden ihre Arme lahm, von dem schweren Gewicht.

„Hoffentlich sind Sie sich darüber im Klaren, dass das vielleicht Ihre letzte Möglichkeit gewesen ist, sich über mich lustig zu machen?“

„Oh, Sie missverstehen mich völlig! Ich habe sogar gewaltigen Respekt vor kleinen Mädchen mit großen Gewehren!“ Nachdenklich kratzte er sich das glattrasierte Kinn. „Komisch. Jetzt ist es mir doch tatsächlich entfallen!“

„Was ist Ihnen entfallen?“, fragte Patty prompt und der Zorn über sein triumphierendes Grinsen ließ sie rot anlaufen. Sie wusste nicht recht weshalb, aber er machte sie wahnsinnig mit seiner ironischen Art!

„Ihre fabelhafte Vorstellung hat mich ganz aus dem Konzept gebracht, weshalb ich eigentlich hergeschickt worden bin.“ Scheinbar zutiefst entsetzt über seine Vergesslichkeit starrte er Patty aus seinen blitzenden, hellblauen Augen an.

„Dann brauchen Sie meine wertvolle Zeit ja nicht weiter unnötig zu verschwenden! Außerdem werden Sie von Ihren vierbeinigen Freunden bestimmt schon sehnsüchtig erwartet!“ Patty grinste boshaft. „Rechts neben dem Windrad ist der Ausgang. Nur als kleiner Tipp, damit Sie sich nicht verirren!“ Sie liebte ihre Schlagfertigkeit, mit der sie jedes Duell gewinnen konnte. „Ach ja, als kleiner Ratschlag: Rechts ist hier drüben!“ Sie deutete ihm mit dem Gewehrlauf eifrig in die besagte Richtung.

„Dann seien Sie bloß vorsichtig, damit Ihnen nicht noch eine Horde meuternder Indianer begegnet und es auf Ihre wertvolle Winchester abgesehen hat!“, rief der Cowboy, nun doch ein wenig verstimmt, während er sein Pferd aus dem Stand angaloppieren ließ und es geschickt durch den schmalen Durchlass in der Hecke lenkte, hinaus in die Prärie.

„Verwöhnte Ziege“, murmelte er noch, doch das konnte Patty nicht mehr hören.

Erleichtert blickte sie ihm nach und wartete, bis sie sicher sein konnte, dass er nicht zurückkam. Der Hufschlag verstummte.

Das musste einer dieser Verrückten sein, von denen ihre Mutter berichtet hatte, einer von denen, die sich für Rinderhüter hielten und sich auch dementsprechend benahmen; die noch die Zeit von vor hundert Jahren zurückholen wollten, anstatt dem Fortschritt mit Maschinen den Vorrang zu gewähren. Wütend wandte Patty sich ab. So eine Nervensäge! Der Lauf des Gewehrs schlug mit einem dumpfen, lauten Knall gegen die Holzbohlen vor der Haustüre und hinterließ dort eine tiefe Schramme. Genervt packte sie die Waffe mit beiden Händen und trug sie, den Kolben nach oben, weit von sich gestreckt ins Haus zurück. Nur weg damit, bevor wirklich noch etwas passierte! Sie hatte ja keine Ahnung, wie man mit einem solchen Ding umzugehen hatte.

Mit einiger Mühe gelang es ihr, das Gewehr an seinen ursprünglichen Platz zurückzubefördern und sie ärgerte sich maßlos über ihr eigenes, idiotisches Benehmen. Hätte sie sich ruhig verhalten, wäre er vermutlich einfach wieder verschwunden! Jetzt erzählte er bestimmt überall herum, was ihm hier widerfahren war und wie kindisch sie sich benommen hatte.

Aus den Lautsprechern...

Aus den Lautsprechern des schwarzen, neu erworbenen Radios spielte von der Fensterbank her leise Glenn Miller durch den Wohnraum, während Matt am rechteckigen Esstisch vor einem Stapel von exakt siebzehn Tageszeitungen, medizinischen Fachblättern und Zeitschriften saß. Der Nachmittag in Summersdale war äußerst erfolgreich verlaufen und hatte seinen Geländewagen auf die erste harte Probe gestellt: Nämlich die, ob der Kofferraum mitsamt dreiviertel der Rücksitzbank zum Verstauen sämtlicher Einkäufe ausreichen würde. Die Hütte entsprach natürlich längst nicht Rachels Ansprüchen und deshalb war ihr Eigentum nun auf fast das Doppelte dessen, was bei ihrer Ankunft vorhanden gewesen war, angewachsen. Außerdem hatte es sich Rachel nicht nehmen lassen, sofort einen Architekten zu engagieren, der sich um einen Umbau, den Anbau eines weiteren Raumes zum Zweck eines begehbaren Kleiderschranks und der Erneuerung des Badezimmers und des Dachs, sowie dem Einbau einer Zentralheizung kümmern würde. Matt beschloss, sich diesbezüglich vollkommen herauszuhalten und einfach Scheuklappen aufzusetzen. Es war schließlich nicht sein Geld, was sie hier unnötig verschwendete. Er war lange genug mit ihr verheiratet, um zu wissen, dass alles Reden nichts nützte, wenn sich Rachel einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte und im Grunde war er ja froh, dass sie immerhin seit dem Vormittag nichts mehr von einem Umzug nach Summersdale hatte verlauten lassen. Wozu sollte er sich also einmischen? Hauptsache, sie ließ ihn in Frieden und er konnte für das kommende Jahr in dieser Abgeschiedenheit leben, wie er es sich immer erträumt hatte. Es war ja sowieso nur für ein Jahr und aus seiner Sicht viel zu kurz. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte London vermutlich für immer den Rücken gekehrt, aber ihn fragte niemand und er zählte in dieser Familie ohnehin nur am Rande, ganz zum Schluss, wenn seine Frauen ihre Wünsche befriedigt hatten.

Dadurch, dass die meisten ihrer Kleider in London hatten zurückbleiben müssen, war auch ein Besuch des teuersten Modegeschäfts in Summersdale unvermeidbar gewesen. Für die bevorstehende Feier war Rachels Wahl auf ein lachsfarbenes Kostüm mit Blazer und knöchellangem, schwingendem Rock gefallen und jetzt stand sie im oberen Stockwerk im Badezimmer vor dem Spiegel, um sich entsprechend herzurichten. Schließlich wollte sie gleich von vorn herein einen guten Eindruck hinterlassen und den hier ansässigen Hinterwäldlern klarmachen, welchen Status sie besaß.

 

Matthew rückte seine Fliege zurecht und warf einen bedenklichen Blick auf seine Armbanduhr, die ihm sagte, dass es gleich halb sieben war und sowohl von seiner Frau, als auch von seiner jüngsten Tochter hatte er bisher nichts gehört und gesehen – aber diese Situation war ihm ja hinlänglich bekannt.

In dem – wie alles in diesem Haus – viel zu kleinen Badezimmer schlüpfte Patty widerwillig in ihr hellblaues, mit Blumendruck verziertes Cocktailkleid, während Rachel ihrem Make-up den letzten Schliff verlieh. Das Schminkkästchen war mit allem gefüllt, was ihr Herz erfreuen konnte: Von Wimperntusche über mindestens zehn verschiedene Lippenstifte, Nagellacke bis hin zu Puder, Rouge und Grundierungen in verschiedenen Ausführungen und Farbnuancen – für jeden Anlass und jedes Kleid das passende. Rachel schminkte sich täglich. Es gab wohl niemanden, der sie je im Morgenmantel und ohne frisiertes Haar gesehen hatte, abgesehen von Matthew und das auch nur deshalb, weil sie als Ehepaar zwangsläufig ein Schlafzimmer miteinander teilten.

„Dieses Fest wird bestimmt nicht abgesagt werden, nur weil ich nicht dabei bin“, fand Patty und setzte sich mit mürrischer Miene auf den Rand der Badewanne.

„Vergiss es.“ In aller Seelenruhe zog Rachel ihren Lidstrich nach. „Das wird heute mein Abend! Außerdem ist es doch schade, wenn du nie Gelegenheit findest, das Kleid anzuziehen! Es war zu teuer, um nur im Schrank zu hängen.“ Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild. „Sei so gut und kümmere dich darum, dass deine Schwester halbwegs ordentlich aussieht! Ich möchte nicht, dass sie wieder herumläuft, als gehöre sie nicht zur Familie!“

„Aus ihr wirst du auch mit dem teuersten Kleid keine Schönheit basteln!“

„Ich habe dir gesagt, was ich von dir erwarte!“, kommandierte Rachel gereizt und machte den Platz vor dem Spiegel frei. „Los! Jetzt frisier’ dir noch die Haare und dann hilf deiner Schwester. Unpünktlichkeit wirft immer ein schlechtes Licht auf die Erziehung eines Menschen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Das hat mich schon mein Vater gelehrt – und der musste es wissen!“

Patty machte sich daran, ihr rotbraunes, leicht welliges Haar ziepend und zwickend mit der Bürste immer wieder durchzukämmen, um es zuletzt mit Haarspray ein wenig zu toupieren.

„Ich hasse es!“, entfuhr es dem Mädchen plötzlich verzweifelt. Sie kämpfte mit den Tränen. „Ich will zurück nach Hause!“

„Schon gut. Mach’ dir keine Sorgen.“ Beruhigend streichelte Rachel ihrer Tochter kurz, fast hastig die Wange. „Ich werde auch nie mit diesen Leuten hier zurechtkommen. Du hättest heute in der Stadt dabei sein sollen! Man braucht nur zu sehen, wie sie sich geben und kleiden! Ein verrücktes Volk, diese Amerikaner, zumindest die, die in dieser Gegend hausen und ausgerechnet hierher musste es deinen Vater verschlagen! Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt…“

„Ich auch!“, stimmte Patty eifrig zu und dachte an den zurückliegenden Nachmittag und ihre erste Begegnung mit ‚diesem verrückten Volk’.

Als hätte Rachel ihre Gedanken erraten, erzählte sie kopfschüttelnd: „Du wirst es nicht für möglich halten, aber heute sind uns sechs oder sieben Cowboys entgegengeritten kommen, als wir von der Stadt zurückfuhren. Richtige Cowboys, verstehst du? Wie aus einem Kinofilm! Das heißt, ich glaube sogar, eines davon war ein junges Mädchen. Entsetzlich!“

Patty schwieg und sie versuchte mit Grauen, sich innerlich auf das bevorstehende Fest einzustellen. Auf einmal beugte Rachel sich zu ihr hinab. Sie blickte ihrer Tochter fest in die Augen – schiefergrau traf auf grün und das Mädchen schluckte. Die Macht und der Wille, die von ihrer Mutter ausgingen, jagten ihr immer wieder großen Respekt, ja, manchmal sogar ein wenig Angst ein. Rachel bekam, was sie wollte – immer und völlig gleich, mit welchen Mitteln sie es erreichte. Verschwörerisch legten sich ihre Hände auf die dünnen Schultern ihrer Tochter. Der Griff wirkte eisern, unnachgiebig, fast herrisch und Patty versteifte sich unwillkürlich.

„Du darfst dich nicht an den Ansichten deines Vaters stören – er war schon immer ein hoffnungsloser Träumer. Schon, als ich ihn geheiratet habe und deshalb…“ Sie seufzte. „Nun ja, deshalb wollte ihn dein Großvater eigentlich auch nicht in der Familie haben.“ Sie schüttelte den Kopf und verhinderte, dass Patty ihr ins Wort fiel. „Du musst nur ganz klar unsere Meinung vor deinem Vater vertreten – und vor den anderen!“

„Natürlich!“, versicherte Patty überzeugt.

„Und“, fuhr Rachel leise fort, „du darfst niemals vergessen, wer du bist! Mein Vater hat mich sein Leben lang eines gelehrt: Was auch immer wir tun, wir müssen uns dabei vollauf bewusst sein, dass wir eine van Haren sind, alter, niederländischer Adel. Man kann ein Filmstar oder ein Millionär werden, aber als van Haren wird man nur geboren und darauf musst du stolz sein! Diese Ehre kann sich niemand erkaufen!“ Sie unterbrach sich und ein eigenartiges, kaltes Lächeln spielte um ihre vollen, roten Lippen. „Daran musst du auch immer denken, mein Mädchen! Du weißt, dass wir van Harens seit Jahrhunderten eine anerkannte, erfolgreiche Familie sind und wir können es noch bis in das nächste Jahrtausend hinein sein!“

„Ich schwöre dir, dass ich alles dafür tun werde, damit wir es bleiben“, erklärte Patty würdevoll und fühlte sich mit einem Mal unglaublich geehrt. Sie stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Wer konnte da schon mithalten?

„Es ist dir doch nicht gleichgültig, in welchem Umfeld du ein Jahr deines Lebens verbringst?“, fragte Rachel plötzlich, lauernd.

Irritiert schüttelte Patty den Kopf. „Nein, natürlich nicht!“

„Gut.“ Ihre Mutter nickte. „Du kennst das Problem und ich werde eine Möglichkeit finden, es zu lösen und zwar schneller, als es manchen Menschen lieb sein wird!“

Im grellen Licht der Scheinwerfer des schwarzen Jeeps waren die Unebenheiten auf dem schmalen Sandweg gut zu erkennen, doch zur Sicherheit hielt Matthew das Tempo gedrosselt. Auf der Asphaltstraße, die in linker Richtung nach Silvertown führte, bog er entgegengesetzt ab und trat aufs Gaspedal.

„Du scheinst ja genau zu wissen, wohin wir fahren müssen“, bemerkte Rachel herausfordernd, wobei sie ihren Lippenstift aus der Handtasche fischte.

„Es ist nicht schwer zu finden“, entgegnete Matt ruhig und konzentrierte sich auf die Straße.

Stumm saß Patty auf der Rückbank und starrte zum Seitenfenster hinaus, während ihre ältere Schwester leise eine Melodie vor sich hin summte. Sie schien aufgeregt, ja, geradezu erfreut zu sein, auf diese Feier gehen zu dürfen.

„Musst du meine Nerven schon wieder mit deinem falschen Gejodel strapazieren?“, blaffte sie Jean einige Sekunden später an, die überrumpelt verstummte. „Es ist ja schön, wenn du glücklich bist, in deinem Alter endlich einmal zu erfahren, was eine Party ist“, fuhr Patty keifend fort. Sie genoss es jedesmal, wenn sie ihrer zwei Jahre älteren Schwester hineinwürgen konnte, dass sie in vielerlei Hinsicht schon wesentlich besser informiert war als diese. „Wenn du dich mal anständig anziehen würdest und ein bisschen auf dich achten, würde dich vielleicht auch endlich mal ein Junge ausführen.“

„Patty!“, ermahnte Rachel sie, noch immer mit dem Lippenstift beschäftigt. Jean hingegen schwieg verletzt und starrte für den Rest der Fahrt regungslos zum Fenster hinaus. Sie kannte die Bosheiten ihrer kleinen Schwester zur Genüge und hatte keine Lust, sich davon den Abend verderben zu lassen. Was konnte sie dafür, dass sie nicht die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte?

Draußen war es bereits dunkel. Nur ganz weit im Westen, über den weithin sichtbaren Gipfeln des bereits zu Oregon gehörigen Columbia Plateaus, erhellten die Sonnenstrahlen den Abendhimmel und schenkten ihm eine tiefe, leuchtend-rote Farbe. Je länger Patty nachdachte, desto unerträglicher kam ihr dieses ganze Leben vor. Sie träumte von der riesigen Bibliothek und dem freundlichen, gerade an solchen Abenden, herrlich gemütlichen Kaminzimmer in ihrer Villa in London. Da war das leise plätschernde Flüsschen, der säuberlich kurz gehaltene Rasen, wo sich kein einziger Halm Unkraut fand und auf dem sie im Sommer so gerne barfuß lief, weil er sich anfühlte, wie ein Meer aus Federn. Der Garten in seinen verschiedensten, genaustens aufeinander abgestimmten Grüntönen und die aus Marmorfliesen gearbeitete Terrasse unter dem Balkon – wie wundervoll sie doch dort lebten!

Das Schlagloch, gleich zu Beginn des ungeteerten Weges, in den ihr Vater jetzt einbog, warf Patty unsanft gegen die Außenverkleidung und riss sie aus den ersten, schönen Gedanken, seitdem sie in diesem Land angekommen waren. Falsch, dachte sie, gelebt hatten muss es heißen!

„Kannst du nicht aufpassen?“, fauchte sie zornig. „Meine ganze Frisur ist verrutscht!“

„Gleich sind wir da. Dort hinten, am Wald“, rief Matthew, um den ausbrechenden Zoff im Keim zu ersticken. „Es wird bestimmt interessant werden, all unsere neuen Nachbarn kennenzulernen!“

„Sehr interessant, bestimmt!“ Rachels Stimme klang zynisch. „Ich bin ja schon so wahnsinnig gespannt! Ich habe noch nie einen ehemaligen Revolverhelden getroffen. Wahrscheinlich kann er mir das Fest mit Abenteuergeschichten aus dem Wilden Westen versüßen! Und du kannst ja dann mit den Inhalten der neuesten Kinostreifen mitmischen!“

Matthew fiel nicht sofort eine passende Antwort ein, aber er hielt es sowieso für angebracht, den Mund zu halten. Wenn sich seine Frau in einer derartig reizbaren, bissigen Stimmung befand, sollte niemand es wagen, sie zu veranlassen, ihre scharfe Zunge in Gebrauch zu nehmen, auch er nicht.

„Was ist denn das?“ Verblüfft beugte Jean sich nach vorn, um besser erkennen zu können. Fasziniert starrte sie auf das, was sich vor ihnen auftat: Der Waldrand, auf den der Weg eben noch zugeführt hatte, war mit einem Mal auf gut einer Meile verschwunden. Dafür stand – wie ein einsamer Wachposten zwischen den auseinandergerissenen Bäumen – ein Windrad, so riesig, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es erhob sich bis über die Wipfel der Baumkronen und die weiße Farbe seines Gerüsts schimmerte grell im Licht der Autoscheinwerfer.

Matthew bremste ab. „Jetzt im Dunkeln ist es schlecht zu erkennen“, meinte er bedauernd.

„Ich sehe genug“, entgegnete Rachel kalt.

„Die Arkin Ranch liegt in einer Waldschneise“, fuhr Matthew ungerührt fort. „Sie wird nach hinten breiter, wie ein Wassertropfen. Ein Sturm hat das Loch vor vielen Jahren hineingerissen und Ende des letzten Jahrhunderts wurde dort die Ranch gegründet.“

„Wirklich?“ Gereizt verzog Rachel das Gesicht. „Von wem hast du denn diese Erkenntnisse? Etwa vom werten Herrn Bürgermeister?“ Triumphierend stellte sie fest, dass ihr Mann nichts mehr entgegnete und zwinkerte Patty aufmunternd zu.

„Und du“, sie deutete mit dem Zeigefinger auf Jean, „benimmst dich heute Abend bitte so, dass ich mich danach nicht für uns schämen muss!“

„Ja, Mom.“ Jean senkte ihren Blick in den Schoß. „Ich bemühe mich.“

„Das höre ich bedauerlicherweise jedesmal! Ich möchte nur wissen, woher du dieses ungeschickte Wesen hast.“

Ihre ältere Tochter erwiderte nichts, sondern starrte regungslos zum Fenster des Wagens hinaus. Sie fuhren unter einem breiten Torbogen hindurch, der sich quer über den Weg spannte. Die auf dem gebogenen, breiten Holz herausgeschnitzten Buchstaben verrieten den Namen des Anwesens: Arkin Ranch. Dadurch, dass jeder Buchstabe mit weißer Farbe nachgezeichnet war, konnten sie die Worte auch im Dunkeln erkennen. Jede Ranch, ganz gleichgültig in welchem Gebiet, besaß einen solchen oder ähnlichen Eingangsbogen. Er stellte eine Art Ehrenkodex dar, wie diese sich präsentierte und jeder Besitzer bemühte sich, ihn ganz individuell nach seinen Vorstellungen zu gestalten.

Der Weg führte zunächst direkt am linken Waldrand entlang, ehe er eine sanfte Rechtsbiegung an einer alten, großen Scheune vorbei machte. Gleich im Anschluss stand ein langes, ebenerdiges Holzgebäude mit vielen Fenstern an jeder Längsseite und zwei großen Toren an den Breitseiten – der Pferdestall. Dahinter befand sich ein kurzer, rechteckiger Pferch und in etwa zehn Metern Abstand dazu ein ebenerdiges, kleines Holzgebäude mit dem typischen, überdachten Vorbau. Vor den beiden Stufen waren Holzpfähle mit aufgeschraubten Querbalken zum Anbinden der Pferde in den Boden gerammt worden und einige Stühle sowie eine schlichte Bank standen neben der geschlossenen Haustüre. Aus den Fenstern des Erdgeschoßes strahlte Licht in die Nacht hinaus.

 

Im rechten Winkel zu diesem Gebäude thronte, genau an der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt, das einstöckige Ranchhaus. Es war von weißer Farbe, die jedoch aufgrund der Witterung in einzelnen, bräunlichen Fetzen abblätterte. Es besaß ebenfalls eine überdachte Veranda, die über zwei Stufen erreicht werden konnte. Rechts davon drückten sich zwei niedrige Vorratshütten in den Windschatten, von den Cowboys lediglich witzelnd „Abstellkammern“ genannt.

Links des Ranchhauses, auf der freien Fläche neben dem Garten, hatte sich bereits eine Art Parkplatz gebildet, wo die eintreffenden Gäste neben– und hintereinander ihre Wagen abstellten und Matt beschloss, es ihnen gleichzutun.

Am Arm ihres Mannes schwebte Rachel die beiden Stufen zum Vorbau hinauf. „Na, denn!“ Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. „Lass uns feiern. Ah!“ Sie lachte geziert auf. „Mister Bentley! Wie schön, Sie wiederzusehen!“

Die Haustür war von innen geöffnet worden und als erstes trat ihnen der Bürgermeister Silvertowns entgegen, an diesem Abend im Nadelstreifenanzug und mit schwarzer Fliege. Sein roter Kopf glühte, während er ihnen nacheinander überschwänglich die Hände schüttelte.

„Wie schön, dass Sie da sind! Wir haben gerade von Ihnen gesprochen! Kommen Sie, kommen Sie! Der Hausherr möchte Sie doch auch endlich kennenlernen! Sie wissen ja überhaupt nicht, wieviel schon über Ihre Ankunft gesprochen wurde! Es kommt ja auch nicht alle Tage vor, dass sich eine echte, alt-eingestammte, englische Familie in unsere Gegend verirrt!“

Eingeschüchtert hielt Jean sich hinter ihren Eltern versteckt, während ihre jüngere Schwester selbstbewusst und voll strahlender Schönheit den Raum augenblicklich für sich gewann. Sie kokettierte mit dem Bürgermeister, als wäre sie mindestens einundzwanzig und hätte man ihr das junge Alter nicht angesehen, wäre sie bereits an diesem Abend eine wahre Konkurrenz für ihre eigene Mutter gewesen. Vermutlich hingen die beiden auch deshalb so sehr aneinander, weil sie sich so ähnlich waren, nicht nur in ihrer äußeren Erscheinung, auch charakterlich standen sie sich sehr nahe.

Jean seufzte. Es war wie immer, wenn sie sich nicht dazugehörig fühlte zu diesen schönen, von allen anderen bewunderten Menschen. Sie selbst blieb immer wie die adoptierte Tochter, die irgendwie nicht recht hineinpasste ins Bild. Sie kam zu sehr nach ihrem Vater, nicht nur vom Äußeren. Wie in Trance spürte Jean, dass die Pranke des Bürgermeisters sie an der Schulter vorwärtsschob, hinein in das Ranchhaus. Ohne ihr Zutun traten ihre Beine über die niedrige Schwelle in das quadratische Treppenhaus. Verbrauchte, stickige Luft, Zigarettenrauch und Stimmengewirr schlugen ihr entgegen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

„Es sind zwar noch längst nicht alle da“, drang der sonore Bass Stevie Bentleys an ihr Ohr, „aber bei uns ist immer was los, aber das werden Sie schon noch feststellen!“

„Ah! Guten Abend! Da sind Sie ja!“, sagte plötzlich eine hellere, auffallend gefühlsbetonte Männerstimme neben ihnen, die Jean den Blick heben ließ. Zu ihren Eltern war ein Mann mit Bauchansatz und Doppelkinn, kaum größer als sie selbst, getreten. Sein langes, eckiges Gesicht mit den beiden tiefen Furchen neben den Mundwinkeln wirkte auf den ersten Blick ernst, fast griesgrämig, doch sobald er lächelte, verwandelte es sich auf unbeschreibliche Weise, da erschien dieser ihr fremde Mann schlagartig vertrauenserweckend und freundlich. Sein Haar war von dunklem, erdigem Braun, kraus und dick und mit einzelnen grauen Strähnen durchzogen. Er mochte höchstens Mitte fünfzig sein, obwohl er wesentlich älter wirkte.

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er und reichte zuerst Rachel, dann Matthew die Hand. „Ich bin Ben Arkin. Schade, dass ich nicht hier war, als Sie mit Mister Bentley bei Ihrem ersten Besuch die Ranch besichtigt haben. Mein Vormann und meine Tochter haben mich aber hoffentlich würdig vertreten?“

„Du hast mir gar nichts von diesem entzückenden Häuschen berichtet“, warf Rachel ihrem Mann vor, ehe dieser dazu kam, etwas zu erwidern. „Aber Sie müssen wissen, Mister Arkin, Matt hat mit seiner Arbeit immer unbeschreiblich viel Stress und er trägt selbstredend große Verantwortung. Da vergisst er wichtige Punkte manchmal einfach zu erwähnen!“ Sie strahlte den Ranchbesitzer gütig an.

Entgeistert ruhte Matthews Blick einige Sekunden auf ihr, als wüsste er nicht, was er von diesen scheinheiligen Schwindeleien halten sollte. Was er soeben hatte erwidern wollen, war ihm mittlerweile entfallen.

„Nicht wahr, Liebling?“, flötete Rachel da und er rang sich zu einem Lächeln durch.

„Äh…ja…natürlich! Vielen Dank übrigens noch für die Einladung.“

„Ach was, keine Ursache! Das ist bei uns so üblich“, wehrte Ben Arkin ab. Erst jetzt wandte er sich den beiden jungen Mädchen zu. „Der Nachwuchs, wie ich annehme?“

„Ja, ja“, antwortete Matthew hastig, um seiner Frau zuvorzukommen. „Das sind unsere beiden Töchter – Jean und Patricia.“

„Jean Frances und Patrica Lorena“, fügte Rachel mit Nachdruck hinzu, um ihrer Korrektheit den genügenden Ausdruck zu verleihen.

Ben Arkin begrüßte die Mädchen und während er sie lächelnd aus seinen braunen Augen betrachtete, fühlte Jean, dass eine merkwürdige Verwandlung mit ihr geschah. Es war, als bohrte sein Blick ein winziges, millimetergroßes Loch in die stählerne Wand, die sie um sich errichtet hatte. Etwas von seiner entgegenkommenden, warmen Ausstrahlung, die mit einer geradezu drängenden Höflichkeit einherging, ergriff von ihr Besitz und ganz von selbst erwiderte sie sein Lächeln.

„Es freut mich, Sie kennenzulernen“, hörte Jean sich leise sagen und spürte im selben Moment, wie Rachels eisiger Blick sie traf.

„Wie alt bist du?“, wollte der Ranchbesitzer ungeniert wissen.

„Sechzehn“, gab Jean bereitwillig Auskunft.

„Und ich bin vierzehn“, fügte Patty ungefragt hinzu und nahm ihre Schultern noch mehr zurück, damit ihre ohnehin bereits üppige Oberweite noch deutlicher zum Vorschein kam. „Aber die meisten Leute sagen, dass ich viel erwachsener aussehe als meine Schwester.“

„Interessant.“ Ben Arkins linke Augenbraue zuckte und er wandte sich von den Mädchen ab. Er streckte sich, um besser nach links hinein, in den großen Wohnraum sehen zu können, in dem das Fest stattfand und die Gäste sich bereits über das üppige Buffet hermachten.

Geradeaus, gegenüber der Haustüre, wand sich die Treppe ins Obergeschoß hinauf und links dahinter gelangte man in die Küche. Rechts, vor den ersten Stufen, war die doppelflüglige Türe verschlossen; dahinter lag das Arbeitszimmer des Ranchbesitzers und an den Garderobenhaken an der Wand daneben stapelten sich die Jacken und Hüte. Jean blickte sich um. Alles war in dem hier üblichen, schlichten Stil eingerichtet und hatte doch eine ansprechende, heimelige Wirkung auf den Betrachter. Sie konnte nicht leugnen, dass es ihr hier gefiel.

„Amy!“, rief Ben Arkin jetzt laut. „Komm doch mal her!“

Er winkte heftig mit dem Arm und wenige Sekunden später hüpfte ein junges Mädchen schallend lachend aus dem Wohnraum heraus. Sie trug ein bodenlanges, gelbgeblümtes Kleid und flache, weiße Schnürschuhe. Ihre dunkelbraunen, langen Haare wurden von einem unsichtbaren Haarnetz zu einem hoch oben angesetzten Nest zusammengehalten. Ihre ein wenig rundlich gebaute, kräftige Figur fiel in dem Kleid nicht weiter auf, im Gegenteil. Sie wirkte ausgesprochen elegant, dabei jedoch sehr kindlich-unschuldig und Jean erschien ihre eigene Aufmachung auf einmal unpassend, ja, geradezu lächerlich. Eine Dame sollte sie heute Abend spielen! Sie, die sich völlig hilflos und überfordert vorkam zwischen all den fremden Menschen, die überhaupt nicht mehr wusste, wie es nun richtig war, sich zu verhalten! Sollte doch Patty sich als die Dame von Welt ausgeben, die Rolle lag ihr doch perfekt. Sie selbst gehörte nicht wirklich dazu – weder zu der einen Seite, noch zu der anderen. Sie stand irgendwo dazwischen und wusste nicht genau, wer sie sein wollte. Natürlich, sie war das Kind ihrer Eltern, mit denselben Vorzügen und Privilegien gesegnet und aufgewachsen wie Patty. Trotzdem hatten sie sich beide in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Patty ging in dieser Welt auf, während Jean immer noch nach etwas suchte, was sie dort nicht fand und das sie gar nicht benennen konnte. Es war diese Unruhe in ihr, die sie manchmal fast zur Verzweiflung trieb.