Winter – Weihnacht – Wunderbares

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Winter – Weihnacht – Wunderbares
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Winter – Weihnacht – Wunderbares

Anthologie

des Freien Deutschen

Autorenverbandes

Landesverband Sachsen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Ein herzliches Dankeschön gilt unserem Unterstützer:

Kulturbüro der Stadt Chemnitz

Bibliografische Information durch die Deutsche

Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei den Autoren und der Illustratorin

Titelbild und Illustrationen © Angelika Erdbeer

Lektorat: Lenard James Cropley, Hannelore Crostewitz, Sandra Kersten

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Weihnachten immer wieder überall

ADVENT

Andreas Knapp

adventskalender

weihnachtsgeschäft

Lenard James Cropley

Ach du Fröhliche!

Spruch

Der erste Dezember

Nur mal so, zum Advent

Weihnachtlicher Fünfkampf

Hannelore Crostewitz

So sei es

An der Ecke

Almut Fehrmann

Gewissensbisse

Hermann Friedrich

Weihnachtsspende

Nikolaus

Matthias Albrecht

Eine Kinderweihnachtsfeier im Gefängnis

Eveline Hoffmann

Unter Tage und wieder ans Licht

Oh Tannenbaum!

Friedemann Steiger

jeder soll menschlich behandelt werden

der prophet micha

WEIHNACHT

Friedemann Steiger

Die schönste Geschichte der Welt

die weihnachtsoblate

Weihnachtsvorbereitung

Almut Fehrmann

Wann ist Weihnachten?

Schneefrau

Lothar Pfüller

Ohne Weihnachten?

Wünsche und Wirklichkeit zum Fest

Lausbubgedanken zum Fest

Weihnachten war

Reina Darsen

Knuts erstes Weihnachtsfest

Anne Meinecke

Oh du Fröhliche

Alle Jahre wieder

Andreas Knapp

weihnachtstraum

herbergssuche

Kathlin Gawrilow

Die Stille hören

Peter Zech

Mein Weihnachten in Damaskus 1968

Matthias Albrecht

Mein erster Weihnachtsgottesdienst

Beamtenweihnacht

Angelika Erdbeer

Hinz und Kunz

Hermann Friedrich

Weihnachtsleitkultur

Negativwunschliste

Weihnachtsmann

Weihnachten immer und überall

Weihnacht 2013

Marlis Michel

Tagebuchblatt 23./25.12.2011 – Weihnacht

Eveline Hoffmann

Heiligabend – hierzulande

Lenard James Cropley

Weihnachts-Walzer

WUNDERBARES

Hannelore Crostewitz

Winkelwichtel

Iris Fritzsche

Wo wohnt der Weihnachtsmann?

Weihnachtsgeschichte 2011 – Die Reise zum Weihnachtsland

Des Rätsels Lösung

Matthias Albrecht

Weihnachten bei den Steins

Hermann Friedrich

Suche Weihnachtsgedicht

Schöne Bescherung

Hannelore Crostewitz

Der Weihnachtsmann im Bundestag. Ein modernes Märchen

Die Weihnachtsdecke

Friedemann Steiger

Das ganze Jahr über

Der Weg der Hirten

Mutter mit Kind (Barlach)

Die Futterkrippe

Eveline Hoffmann

Wie der Weihnachtsstern erwachsen wurde

Horst Seidel

Puck, der kleine Ritter

JAHRESWECHSEL

 

Lenard James Cropley

Was wird sein

Andreas Knapp

Unter kalten Sternen

Katja Ullmann

Albas Tochter

Ralf Trommler

Das neue Jahr

Kathlin Gawrilow

An der Schwelle der Jahre

Anne Meinecke

Ananasbowle forever

Lenard James Cropley

Konzertbesuch eines Unwissenden

WINTER

Hermann Friedrich

Weihnachten im Klimawandel

Schnee von heute ist von gestern

Lothar Pfüller

Gefühlter Winter

Schneeflockengeflüster

Ralf Trommler

Von Rentieren, Polarnächten und Japanern

Kathlin Gawrilow

An den Grenzen des Erdenseins

Friedemann Steiger

schnee schnee schnee

Lenard James Cropley

Gedanke

Schnee

Winter

Es ist soweit

Biographische Angaben

Weihnachten immer wieder überall

Die Weihnachtszeit ist voller Zauber. An jedem Adventsabend eine Kerze entzünden und eine Geschichte lesen, das ist doch wunderbar. Dazu wollen die Autoren des Freien Deutschen Autorenverbandes aus dem Weihnachtsland Sachsen einladen.

Es ist nicht nur eine gute Tradition, die Geburt des Christkindes zu feiern, sich erneut an die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium zu erinnern oder vielleicht die alte Schallplatte mit der Ballade von der Weihnachtsgans Auguste aufzulegen. Weihnachten ist die Zeit des Lichtes, das der Bergmann für uns aus dem Dunkel holt. Es ist das Fest der Glanzfarben und Düfte, die in Stuben, auf Straßen und Märkten unsere Sinne erfreuen und die Herzen weit öffnen.

In diesem Buch wird auch erzählt über Einkaufsstress, Erinnerungen an Vergangenes, über ein Weihnachtfest in Damaskus, eine Silvesternacht in Nikaragua und die Polarnächte bei Tageslicht in Finnland. Ebenso über eine Kinderweihnachtsfeier im Gefängnis, über die Wohnung des Weihnachtsmannes im Internet und über Besinnliches im Bundestag. Man kann lesen von Konzertbesuchen, Fernseh-Berieselung und Zweifeln über den Effekt von Spenden. Wozu soll eine Negativ-Wunschliste gut sein? Was passiert, wenn der Nikolaus in die Radarfalle gerät?

Zauberhaftes ist tatsächlich möglich auf dem Arbeitsamt oder im Herzen des phantasievollen kleinen Ritters Puck. Welche Magie kann eine Tischdecke bergen? Sehen wir trotz Alltagsmühen die Wunder, die uns die Natur mit dem Wechsel der Jahreszeiten beschert?

Fragen über Fragen und viele Denkanstöße.

In diesem Sinne kehrt Weihnachten immer und überall wieder, meine ich, und höre noch die sonore Stimme des Opernsängers Luitpold Löwenhaupt: „Man muss doch was fürs Herze tun.“ Deshalb kann man dieses Buch immer wieder überall zur Hand nehmen. Wir wünschen Freude und Gewinn beim Lesen und Nachdenken.

Almut Fehrmann

Advent


Andreas Knapp

adventskalender

tag für tag

schließt sich leise

ein türchen deines lebens

und deine möglichkeiten

fallen unwiderruflich

ins schloss

die verriegelte tür

in der mitte aber

du selbst

öffnest du dich

vielleicht schaut dich dann

überraschend ein kind an

weihnachtsgeschäft

was hilft gegen den durst

in der wüste des überflusses

nicht konsumieren

sondern kommunizieren

nicht lebensmittel

sondern eine mitte des lebens

nicht die große auswahl

sondern selbst erwählt sein

nicht tausend liebe dinge

sondern eine unbedingte liebe

Lenard James Cropley

Ach du Fröhliche!

Mit dem ersten Advent beginnt bei Mann und Weib die große Jagd durch Shoppingcenter, Einrichtungshäuser, Galerien, Boutiquen und Weihnachtsmärkte. Nur um die zweifelhaften Geschenkevorstellungen der Lieben zu erfüllen, rennen sie schwerbepackt die Gänge entlang, links ertönt „Jingle Bells“ und rechts „Feliz Navidad“. Von oben kräht ein Kinderchor so etwas Ähnliches wie „Oh du Fröhliche“.

Die Blicke fliegen über Kerzenwälder, Süßwarengebirge, Alkoholmeere und Räuchermännelnationen. Bald fühlen sich die Jäger schlecht und schwindelig. Er, weil er: eine Bratwurst mit Senf, einen roten Zuckerapfel, eine Tasse heißen Met, ein Fischbrötchen, eine Tüte gebrannter Mandeln, eine kleine Schokobanane, einen Grog und eine Handvoll Krapfen zu sich genommen hat. Sie: weil sie hungrig blieb. Sei es wegen des abgelehnten Schlangestehens und dem In-der-Kälte-Gehocke oder weil sie beim Versuch, an Nahrung zu gelangen, in dem Menschengewühl einfach nicht zur Theke fand und zu kraftlos war, um weiterzukämpfen. Vielleicht konnte sie auch dank des Wein-Bratfett-Zuckerwatten-Senf-Mandel-Oliven-Geruches, der ihr so langsam die Sinne raubte, die Kehle zuschnürte und einen Würgereiz auslöste, nicht mehr an eine Essensaufnahme denken.

Doch anderntags ziehen sie wieder zerknirscht los, um den rosa Plüsch-Waschbären, das sich selbst lesende Buch und die jodelnde Klobürste zu erwischen. Aber die Sache mit der Jagd von großem Getier ist längst Geschichte und sie sind bald müde. Ihre Augen stumpf vom Suchen zwischen all den Unnützlichkeiten und vom Blenden der rosagrünen, gelblila Lichter. Die Ohren sehnen sich nach der Stille eines lautlosen Flockentanzes. Ihre Nasen möchten nur noch den Duft von Tannengrün im Morgentau schnuppern. Ihre Hände und Arme sehnen sich nach Ruhe, mögen nichts mehr befühlen, betasten oder schleppen. So taub sind auch ihre Beine und Füße, die sonst nur sacht das Gaspedal berühren und weitaus weniger Straßenpflaster unter den rauen Sohlen spüren.

Ist das Geschenke-Ergattern in der Freizeit ein Dilemma, so gibt es noch ein weiteres: Arbeitstage und Festtage. Die Arbeitsengel im Niedriglohnsektor machen schnelle Geschenke erst möglich. Von „Alles argfreundlich abverkaufen“ bis „Zärtlich zügig zusammenpacken“. So arbeiten sie im Tingel-Tangel-Weihnachtsgebimmel und kutschieren Glühweinselige per Bus und Bahn oder stehen sich in den kalten Verkaufsbuden die eiskalten Füße in den Bauch. Selbst literweise lauwarmer „Früchtetee“ wärmt ihre großen Herzen nur kurz …

Von all den anderen sichtbaren Engeln in Weiß und den unsichtbaren möchte ich gar nicht erst anfangen …

Zu Hause dann, wenn die Geschäfte geschlossen sind, geht endlich die Besinnlichkeit los: Wäsche waschen, bügeln, Wohnung putzen und dekorieren, Essen kochen, Möbel umstellen, Plätzchen backen, Tannenbaum schmücken, Lieder und Gedichte lernen, Geschenke sortieren, Karten schreiben und die lieben Gäste bewirten. Dabei die Familie und sich bei guter Laune halten und nicht vergessen das Gesamtziel „Fröhliche Weihnacht überall“ nicht aus den Augen zu verlieren.

In der Nacht des 24. Dezembers, nach dem großen Familienstreit, liegen sie völlig erschöpft in ihren Betten und an Nächstenliebe ist nicht mehr zu denken. Bestimmt flüstern sie ein heimliches, atheistisches Gebet. Darin beschweren sie sich über das unmögliche Benehmen von Tante Friedgard, die den Riesenkrach auslöste. Kurz darauf fragen sie sich aber, ob man den großen Vater nach der Geburt des langersehnten Sohnes mit solch banalen Kleinigkeiten nerven sollte. Ein gnädiger, todesähnlicher Schlaf bewahrt sie jedoch vor Antworten, die sie sowieso nicht hören wollen.

Zwischen den Festen gehen sie wieder arbeiten. Gedanklich aber stellen sie schon den Schlachtplan für die große Jahresend-Party auf den Bahamas mit Tom Jones zusammen. Ein Abstecher nach New York und London war auch gebucht gewesen, aber nun sind alle Flüge wegen starken Schneefalls gestrichen. Alles Humbug. Aber wer gibt schon gern zu, dass er mit Oma Irmtraut und dem Partner bei Gürkchen, Billigsekt und der fünfhundertmillionsten Folge „Dinner For One“ kurz vor zwölf auf dem Plüschsofa einnickt und dass das alles an Feierlichkeiten war?

Am Morgen des zweiten Januars ist der Hosenbund noch weiter geworden und sie freuen sich über die Erholung auf Arbeit. Dort grüßt der Kollege halblaut: „Gesundes Neues Jahr wünsche ich!“ und sie murmeln: „Danke gleichfalls.“ Bei einem Blick in seine glanzlosen Augen mit den schweren Lidern grinsen sie ihn schamlos an und beginnen das Märchen ihrer wunderbar harmonischen Festtage zu erzählen …

Spruch

Gleich nach dem Kerzenschein

ist der Geldschein

der schönste …

Der erste Dezember

Ich öffne endlich das Türchen mit der Eins.

Die Schokolade schmilzt auf meiner Zunge.

Schon am Nachmittag bin ich der Zeit weit voraus …

Rein theoretisch müsste morgen Heiligabend sein.

Nur mal so, zum Advent

Gestern gegen 22 Uhr, mein DVD-Film war zu Ende, der Abend aber nicht, beschloss ich, noch etwas fernzuschauen. Da Kriminalsendungen nicht so mein Fall sind, blieb ich beim Ersten Programm hängen. Zu sehen bekam ich eine drapierte Waldlandschaft mit massenhaft Pulver-Schnee, die gar nicht mal so furchtbar künstlich aussah. Schon ahnte ich, was da lief. Den Moderator, der dort mit einem halben Dutzend Schönlingen stand, erkannte ich nicht gleich. Denn Florian Silbereisen ist nicht mehr blond. Das dunkle Haar steht ihm gut, ebenso der Bart. Er trug einen schwarzen Anzug, edel und leger zugleich. Immer noch ein Schwiegermutter-Traum, aber nicht mehr ganz so aalglatt. Wie versteinert blieb meine Hand an der Fernbedienung und rührte sich nicht mehr. Silbereisen unterhielt sich mit den jungen Männern, die alle schwere Boots, weiße Socken und kurze Lederhosen anhatten. Obenrum unterschied sich das Ensemble: Karohemden, Lederblazer, Strickpulli oder T-Shirt mit langem Schal. Breit und muskulös standen die Männer da und versuchten, das Lächeln nicht abfallen zu lassen. Sie sprachen miteinander, aber ich verstand nichts. Weil der Silbereisen so schnell redete und die anderen Jungs in irgendeinem seltenen steirischen Dialekt.

Früher hätte ich längst wieder umgeschaltet, aber irgendetwas faszinierte mich am Fernsehbild. Was für eine Kulisse! Dazu diese Katalogtypen, perfekt ausgeleuchtet und frisiert, braungebrannt, weiße gepflegte Zähne, ihre Münder bewegten sich, ihre Botschaft kam, zumindest bei mir, nicht an.

 

Dann formierte sich der Modehaustrupp neu und Musik wurde eingespielt, okay, das war das Zeichen, ich schaltete um.

Fünf Minuten später, auf allen anderen Kanälen liefen Werbespots, landete ich wieder mit dem Finger bei der ersten Zahl auf der Fernbedienung. Zumindest hatten sie aufgehört zu singen! Wieder glotzte ich auf die Kunstlandschaft und versuchte, irgendeinen Makel am Gastgeber zu finden, nichts. Die Kamera schwenkte ins Publikum, eine riesige Halle voll geblümter Blusen und Grauköpfe. Gänsehaut überlief mich. Der Ken-Typ auf der Bühne quasselte weiter und stellte dramatisch den nächsten Gast vor. Schon war ich in der Heile-Welt-schöne-Melodien-Falle drin und starrte mit angsterfülltem Blick auf die Mattscheibe. Dort wurde auf eine weitere Bühne gewechselt und eine Art Himmelstor öffnete sich am hintersten Ende. Da standen rechts und links der Stufen einer breiten Treppe wieder die Models, dieses Mal in schwarzen Anzügen, weißen Hemden und Fliege. „Go tell it on the mountain“ oder „Santa Claus is coming to town“ – so etwas ähnliches, amerikanisch-christlich Weihnachtliches wurde abgespielt (keine Musiker weit und breit!) und durch das gleißende Licht der Türflügel kam eine ältere Dame. Sie war in ein knielanges rotes Kleid gepresst, grinste auch andauernd und bewegte die Lippen fast synchron zur Musik. Ich kenne diese Lady, die in den USA geboren wurde und sich hier als Comedian und Humorbuch-Autorin einen Namen gemacht hat. Gayle Tufts lebt inzwischen seit 22 Jahren in Deutschland und hat sprachlich einen Denglisch-Mix kreiert, der seinesgleichen sucht. Sie ist frech, lustig und kann auch noch unterhalten. Die Melodie ging mir ins Blut, schon wippte mein Knie und ich ertappte mich beim Mitsingen. Solange ich nicht mitklatsche, ist ja alles gut, dachte ich insgeheim.

Die Tufts hatte die Showtreppe mithilfe zweier Männer überwunden und performte nun im Vordergrund. Plötzlich kam der Silbereisen dazu. Die Schönlinge hielten sich im Hintergrund und tanzten in lustigen Bewegungen, halb in der Hocke, immer vor und zurück, wobei sie mit den Fingern schnippten. Es erinnerte mich an Charlie Chaplin und etwas an den rosaroten Panther … Apropos, man sollte wissen, dass Mrs Tufts eine Ikone der Schwulenbewegung, vor allem in Berlin, ist … Doch das nur am Rande. Silbereisen sang also brav den deutschen Teil, dann die Tufts wieder den englischen. Plötzlich sang er englisch und sie deutsch, so langsam wusste selbst ich den Text nicht mehr, bei dem Durcheinander. Das Publikum klatschte fleißig im Takt mit und stampfte auch mit den Füßen. Am Ende des Liedes hielt es die Leute zwar (noch immer) auf den Sitzen (Standing Ovation ist ab einem gewissen Alter mit einem größeren Aufwand verbunden!) – aber sie tobten mit Beifall und Pfiffen, die nicht endeten. Die Stimmung war gut und der Silbereisen wollte weitermachen. Plötzlich wurde erneut diese Musik eingespielt und die kuriose Mannschaft musste wohl oder übel nochmal ran. Die Tänzer im Hintergrund verhaspelten sich etwas in der Choreografie, die Sänger im Vordergrund formten die Silben etwas unsicherer. Vermutlich wusste keiner so genau, bei welchem Teil des Songs sie gerade waren. Verständlich, bei den vielen Strophen- und Choruswiederholungen. Endlich war es ausgestanden, das Publikum völlig aus dem Häuschen, das Lied einigermaßen glücklich zu Ende gebracht. Sofort schob man die Tufts aus dem Bild und der Silbereisen verschwand hinter einer Kunsttanne.

Ich erwachte aus meiner Starre und schaltete endlich um.

In der Nacht hatte ich einen Albtraum. Sechs rosarote Panther tanzten mit einem dicken roten Engel um Florian Silbereisen herum, der auf einem Plastik-Stern schaukelte und zwei Kerzen in der Hand hielt. Charlie Chaplin daneben wurde von einer Horde nackter Männermodels kreischend ausgelacht. Und eben, als sie ihn ausziehen wollten, wachte ich Gott sei Dank auf!

Weihnachtlicher Fünfkampf

Die Aula des Gymnasiums war mit der Holzklasse bestuhlt. Breite Sitzflächen, ziemlich hart, aber doch bequem.

Zum Konzert heute waren fünf Chöre angekündigt, die einen Einblick in ihre Sangesleistung und Weihnachtsprogramme geben wollten. Ich traf kurz vor Beginn ein und konnte aus zirka 200 freien Plätzen einen auswählen. Der Sturm draußen, die Kälte und der einsetzende Schneefall hatten sicherlich viele davon abgehalten, abends nochmals das Haus zu verlassen.

Die übliche Begrüßung war vorüber und ein bunter Mix an Kindern betrat die Bühne. Kleine, Große, Mädchen, Jungen, fein im Rock oder Hemd, quergestreift und kariert, lässig oder cool. Zur Einstimmung gab es ein beschwingtes „Jingle Bells Rock“, das mit Musikuntermalung erklang und so die winterkalten Herzen erfreute. Wer konnte ahnen, dass dieser Song das Highlight des Abends sein sollte? Der junge Chor hing noch ein englisches und ein spanisches Lied an, dann wurden die Sänger schnell verabschiedet. Sie hätten heute noch einen weiteren Auftritt.

Es folgte eine Beamer-Präsentation für eine Kinderhilfsorganisation. Der Moderator im knallroten Anzug machte ständig Anspielungen auf Florian Silbereisen. Dann stellte er aber ein Projekt vor, dessen Hauptaufgabe das Verteilen warmer Mahlzeiten an bedürftige Chemnitzer Kinder ist. Sicherlich muss das alles sein, aber auf einen längeren Werbebeitrag hatte ich keine Lust. Ich unterdrückte ein Gähnen und versuchte weiterhin, interessiert auszusehen. Das Licht im Saal blieb die ganze Zeit an, Publikum und Vortragende konnten sich somit immer betrachten. Ich frage mich, ob das so eine gute Idee ist. Nicht umsonst werden große Bühnen derart mit Scheinwerfern beleuchtet, dass die Zuschauer im Dunkel verschwinden. Der Künstler wähnt sich allein und kann somit in seiner Rolle vollends aufgehen. Vielleicht war das das Problem des Abends …

Als der Rotgewandete nach Zeitüberzug endlich von der Bühne weg war, schöpfte ich neue Hoffnung. Eine gemischte Truppe betrat nun die Bretter, die für sie nie die Welt bedeuten würde, denn sie schaffte nicht mal eine ordentliche Aufstellung. Die Großen standen vorn, dahinter versteckt ein paar Kleinere. Ein unordentlicher Haufen in Schwarz, die Frauen mit orangegelben Schals. Ihre Liedauswahl enttäuschte schon nach den ersten Zeilen. „Mein Mund, der singet“ wollte ich nicht hören. Zum ersten Mal bedauerte ich, dass hier eine Fernbedienung nicht funktioniert. Sonst wäre ich auf fast forward gegangen, 16-fache Geschwindigkeit. Wie sich herausstellte, war das noch zu wenig, next wäre sinnvoller gewesen. So hätte ich mir die Qual vier weiterer falsch gesungener Lieder erspart. Der Chor-Leiter erkannte das Dilemma auch und stoppte sogar während eines Werkes seine Schäfchen. Vermutlich dirigierte er sie auch mit Blicken. Doch diese kamen nicht an, denn der Hauptübeltäter, eine kleine Mittfünfzigerin, versteckte sich gekonnt hinter dem Liedtextordner. So sang sie weiter viel zu laut, zu hoch und zu schief. Ich wünschte mir die Taste mit dem durchgestrichenen Lautsprecher her. Dieser Chor war nur taub zu ertragen …

Endlich war es ausgestanden. Die Frauen und Männer trauten sich kaum, ins Publikum zu schauen, das diese magere Leistung auch nur mit spärlichem Applaus bedachte. Nur eine schien vollauf mit sich zufrieden, Sie können sich denken, wer das wohl war.

Die Bühne füllte sich erneut. Ungefähr 20 gestandene Männer bevölkerten nun das Halbrund. Schon ihr Anblick unterstrich ihre Qualität. Durchweg dunkelgraue Anzüge, weinrote Hemden mit silbernem Schlips. Der Sprecher erklärte mit Witz die Vereinsstrukturen, der Abend begann, lockerer zu werden. Er erzählte, dass nächstes Jahr das 175-jährige Jubiläum anstehen würde. Einigen Herren sah man dieses stolze Alter nicht an, einigen glaubte ich sofort. Dann wurde noch die sogenannte „Frauenquote“ vorgestellt, die Chorleiterin – eine attraktive Brünette. Die in der ersten Reihe strengten sich nun besonders an. „Herbei, oh ihr Gläubigen“ war der Auftakt und mich überzog sofort eine Gänsehaut ob der tiefen Stimmen und dem starken satten Klang, den sie verteilten.

Genau! So hatte ich mir das vorgestellt, danke Jungs. Ich atmete durch, entspannte ein wenig und im Saal wurde es ganz still. Die folgenden Stücke „Gloria, Gloria, Gott in der Höh“, „’s Raachermannl“ und „Jubilate – Hört die Weihnachtsglocken klingen“ genoss ich noch, war ganz dabei und ließ meine Gedanken ziehen. Es folgte stürmischer Applaus und die Herrschaften bemühten sich zum Ausgang.

Inständig hoffte ich, der Abend sei doch noch gerettet, aber dann betrat der nächste Dorf-Singe-Clan die Stätte der Aufmerksamkeit. Grundfarbe der Anzüge war schwarz, gelbe Tücher für die Damen, orange Krawatten für die Herren. Die Aufstellung gelang so einigermaßen. Immerhin sangen sie die ersten geläufigeren Weihnachtslieder: „Alle Jahre wieder“ und „Leise rieselt der Schnee“. Das passte, war in Ordnung, weder besonders gut, noch besonders schlecht. Etwas lustig empfand ich das „Carillon de Vendome“. Das Programm wies es als Italienisch aus, es klang eher nach sächsischem Französisch. Das stimmte mich wieder heiter und lies mich auch noch ein Stück Wagners ertragen: „Weihnachten is, stille Nacht“. Dann waren sie wirklich still, fassten den mageren Beifall ab und trotteten davon. Auf zur letzten Runde, dachte ich mir und seufzte leise. Die Bühne füllte sich abermals und ward nun derart vollgestellt, dass sich mein Spott in Anerkennung wandelte. Der „Seniorenchor“ hielt Wort, es war keiner unter 60 Jahren dabei. Von den Farben her präsentierten sich die 50 Leute in schwarzen Hosen oder Röcken, weinroten Oberteilen mit (Sie ahnen es schon) gelborangen Schals für die Damen und weißen Hemden mit rotsilbernen Schlipsen für die Herren. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob dieses textile Etwas um die Hälse Zufall ist (vielleicht ein Sonderangebot?) oder ein Erkennungsmerkmal: „Bitte lassen Sie mich durch, ich bin Chormitglied!“

Nun, die alten Leutchen sangen ganz passabel „Süßer die Glocken nie klingen“, „Vom Himmel hoch“ und „Oh Bethlehem, du kleine Stadt“. Es macht schon etwas aus, ob da nur zwölf Sänger stehen, von denen drei verkehrt unterwegs sind, oder viermal so viel, von denen man keine Ausrutscher hört. Die Senioren hatten meinen vollsten Respekt, der Abend war doch nicht ganz aus dem Ruder gelaufen. Gemeinsam stimmten wir noch das beliebte „Oh du fröhliche“ an, was alle Zweifler und Kritiker etwas versöhnte. Dann war alles vorbei, orange Nelken (Hilfe!) wurden verteilt und alles erhob sich von den Holzstühlen. Ich warf einen kleinen Geldbetrag in die überdimensionale Spendenbox, zog meine Wintersachen an und begab mich hinaus ins Dunkel.