Weihnachtswundernacht 5

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Weihnachtswundernacht 5
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Thomas Klappstein (Hrsg.)

WEIHNACHTS-

WUNDERNACHT 5

Geschichten für die schönste Zeit des Jahres

Mit dabei sind:

Fabian Vogt, Hannelore Schnapp, Albrecht Gralle,

Christian Döring, Frank Bonkowski, Petra Piater,

Mickey Wiese, Jürgen Werth, Andreas Malessa,

Rainer Buck, Christina Brudereck, Rolf Kiesendahl,

Thomas Klappstein, Christiane Ratz,

Martin Schultheiß, Annekatrin Warnke


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-926-9

© 2016 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia volha

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort des Herausgebers

Federleicht

F A B I A N V O G T

Das Christkind im Porsche

H A N N E L O R E S C H N A P P

Tante Pia

A L B R E C H T G R A L L E

Das Weihnachtswunder von Mecklenburg

C H R I S T I A N D Ö R I N G

Ich bin doch nur ein Geschäftsmann

F R A N K B O N K O W S K I

Ein Schlüsselerlebnis

P E T R A P I A T E R

Es kommt ein Schiff geladen in die erfüllte Zeit

M I C K E Y W I E S E

Wir verkümmern im Schlaraffenland

J Ü R G E N W E R T H

Die Tür zum Glück geht nach außen auf

A N D R E A S M A L E S S A

Stern, auf den ich schaue

R A I N E R B U C K

Weihnachten im Wartezimmer

C H R I S T I N A B R U D E R E C K

Irgendwo muss er doch sein, der Geist der Weihnacht

R O L F K I E S E N D A H L

Eine spannende Nachtschicht – neulich in Bethlehem

T H O M A S K L A P P S T E I N

Exodus

M A R T I N S C H U L T H E I S S

Unerwartet

C H R I S T I A N E R A T Z

Arne und der Heilige König

A N N E K A T R I N W A R N K E

Die Autorinnen und Autoren


Vorwort

Ab wann, liebe Leserin, lieber Leser, werden eigentlich Jubiläen gefeiert? Ist mit diesem 5. Band der Weihnachtswundernacht bereits ein kleines Jubiläum erreicht? Ein kleiner Erfolg, vor allem aber ein kleines weihnachtliches Wunder, ist es für mich als Herausgeber auf jeden Fall, dass nun der 5. Band dieser Reihe im fünften Jahr in Folge erscheint. Das ist nicht selbstverständlich. Und von daher schon ein kleines Jubiläum?

Zu verdanken ist es einerseits den bewährten Autorinnen und Autoren – einige sind seit dem ersten Band kontinuierlich mit ihren Beiträgen vertreten – und andererseits denen, die in diesem Band das erste Mal dabei sind. Die sich wieder viele tolle und vor allem neue Texte und Geschichten haben einfallen lassen, die das Wunder der Weihnacht beleuchten. Und dann natürlich den Leserinnen und Lesern. Also Ihnen, die Sie gerade dieses Buch aufgeschlagen haben. Einige zum ersten Mal, andere mögen mittlerweile Stammleser sein, die schon vom ersten Band an dabei sind und dabei zu „WWN-Sammlern“ geworden sind. Alle – Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Leser – eint wohl das Ansinnen, einen besonderen, speziellen Advent zu erleben und eine Weihnachtszeit, die voller zu entdeckender Wunder steckt. Dabei kann es natürlich passieren, dass einen eine Geschichte mal nicht so sehr berührt oder erreicht. Dafür geht einem anderen Menschen genau bei diesem Text gerade ein Licht auf, das er schon lange ersehnte und das ihn auf seinem Weg stärkt. Und umgekehrt.

Wann werden Bücher mit Weihnachtstexten eigentlich gelesen? Wann lesen Sie dieses Buch? Immer mehr Menschen wünschen sich den Advent im Dezember und Weihnachten an den Weihnachtstagen – und nicht schon Ende August mit dem Einzug der ersten süßen Saisonartikel in den Supermärkten. Die Texte dieses Buches können und dürfen ein schöner literarischer Begleiter in den Adventstagen sein und somit auf die Weihnachtstage einstimmen. Sie können und dürfen aber auch für besinnliche, manchmal auch herausfordernde Momente an den Weihnachtstagen selbst sorgen. Gerade die ruhigere Zeit „zwischen den Jahren“ gibt zusätzlich Gelegenheit, gemütliche und stilvolle Nachmittage und Abende miteinander zu verbringen. Und dabei Weihnachtsgeschichten zu lesen. Selbst zu lesen oder vorzulesen. Von daher eignet sich dieses Buch durchaus auch als echtes Weihnachtsgeschenk für liebe Menschen.

Die Weihnachtszeit endete ja nicht mit Ablauf des (zumindest in Deutschland) offiziellen 2. Weihnachtsfeiertages. Im Zyklus des Kirchenjahres kann sie bis Mitte Januar (evangelische Lesart) oder sogar bis zum 2. Februar (katholische Lesart) gehen. Daran erinnert wurde ich noch einmal vor wenigen Jahren, als ich den Jahreswechsel in England verbracht habe. Und mich wunderte, dass dort nicht nur „zwischen den Jahren“, sondern auch am 2. und 3. Januar noch jede Menge Weihnachtslieder im Radio gespielt wurden. Für meine Verwandten in England war das selbstverständlich. „12 Days of Christmas“ meinte mein Cousin Steve nur.

Im protestantisch-evangelischen Zyklus endet die Weihnachtszeit übrigens am Sonntag nach dem 6. Januar. Somit immer zwischen dem 7. und 13. Januar. Also, es ist eine lange Spanne vom Beginn der Adventszeit bis zum Ende der Weihnachtszeit, in der man sich mit weihnachtswunderlichen Dingen beschäftigen kann.

Dank an alle Autorinnen und Autoren, die wieder und die neu mitgemacht haben und sich jetzt zwischen zwei Buchdeckeln literarisch begegnen. Ihnen als Lesern wünsche ich anregende Momente während unseres gemeinsamen literarischen Weges durch diese ganz besondere Zeit des Jahres. Gesegnete Adventstage und -wochen, eine frohe Weihnachtszeit – gerne bis in den Januar und Anfang Februar hinein – und wenigstens ein echtes Weihnachtswunder.

THOMAS KLAPPSTEIN

Duisburg, A. D. 2016


Federleicht

Tiamat, meine geliebte Gefährtin,

Du sanfter Wind von den Hängen des Zagros,

sprudelnde Quelle meiner Lebenslust

und Erfüllung meiner stärksten Sehnsucht,

ich schreibe Dir, weil Du Dich weiterhin weigerst, mit mir zu sprechen. Darum: Tu mir bitte den Gefallen und lies diesen Brief bis zum Ende, damit Du verstehst, wie es zu alldem gekommen ist.

Zuallererst: Es tut mir so leid. Vergib mir! Und lass mich möglichst bald in unser Haus zurückkehren. Auf den Straßen tuscheln sie nämlich schon: „Melchior musste sein Heim verlassen, weil Tiamat getobt hat.“ Was sollen die Leute denn bloß denken? Wir beide waren doch immer so glücklich zusammen.

Nun: Ich kann verstehen, dass Du wütend bist. Ja, ich war lange weg. Zu lange. Viel zu lange. Wochen. Nein, Monate. Einige Monate sogar. Aber deswegen musstest Du mich bei meiner Rückkehr wahrlich nicht so anfauchen. So voller Wut und Abscheu.

Und ja, wie Männer so sind, hatte ich gehofft, dass Du mich am ersten Abend nach meiner Reise zärtlich auf unser Lager ziehst, damit ich das, was sich in der langen Zeit an Wollust in mir angestaut hat, in unserer Umarmung verströmen kann. Da hatte ich mich wohl geirrt.

 

Und ja, ich habe das Gold, das wir für Notfälle aufgespart hatten, mitgenommen und es in der Fremde einem Säugling geschenkt. Vielleicht hätte ich das nicht gleich zu Beginn meines Berichts erwähnen sollen. Aber Du hast mich ja leider nicht ausreden lassen, sonst hätte ich Dir erklären können, was es mit diesem Kind auf sich hat und warum ich das tun musste.

Oder bist Du wirklich nur deshalb so aufgebracht, weil ich Dir keine teuren Geschenke mitgebracht habe? Könnte das sein? Nun, ich weiß, wie sehr Du Geschenke liebst. Edelsteine, feine Stoffe und kostbare Salben. Und als ich Dir mein … wie soll ich es nennen … Mitbringsel in die Hand gedrückt habe, da hast Du es nur verächtlich auf den Boden geworfen und laut herumgebrüllt. Zutiefst erschüttert.

„Eine Feder? Du warst eine Ewigkeit weg, und die einzige Gabe, die Du für mich hast, ist eine lausige Feder? Und noch dazu so eine winzige! Wenn es wenigstens Federn von einem Strauß oder einem Pfau wären …. Aber dieses kleine Ding da … Wo hast Du das denn aufgelesen? Mehr bin ich Dir nicht wert? Verschwinde, ich will Dich in unserem Haus nicht mehr sehen. Raus!“

Tiamat. Ich muss Dir erzählen, was es mit dieser Feder auf sich hat. Und hoffe, dass Du mir dann vergeben kannst und mich wieder in Frieden annimmst. In unserem Haus, in Deinem Leben und in Deinen Armen.

Gerade fällt mir ein, dass Du schon bei unserem Aufbruch sehr erbost warst und mich mehrfach zur Rede stellen wolltest: „Was hast Du gesehen? Ein Zeichen? Im Westen? Melchior, bitte! Du bist Wissenschaftler. Ein Forscher. Du glaubst an Zahlen und Messungen. Erzähl mir nichts von irgendwelchen überirdischen Zeichen. Und selbst wenn es wahr wäre, dass dieser … dieser leuchtende Stern, den du entdeckt haben willst, die Geburt eines Königs der Juden ankündigt: Was geht es dich an? Du bist kein Jude, und du glaubst nicht an den Gott der Juden. Warum, verdammt noch mal, musst du quer durch die Wüste reisen, um dieses Kind anzubeten?“

Was hätte ich Dir antworten können? Dass ich noch niemals ein derart eindeutiges Signal am Firmament habe erstrahlen sehen? In all den Jahren meiner Studien. Wie einen Wegweiser. Dass es hier möglicherweise nicht um einen gewöhnlichen König ging, sondern um … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll … um einen Gesandten des Himmels.

Ich sehe Dich jetzt direkt vor mir, wie Du noch immer Deinen Kopf schüttelst.

Aber meinen Kollegen war es ähnlich ergangen wie mir. Kaspar und Balthasar. Sie hatten einen Drang verspürt, nein, vielmehr einen Sog. Es war so gewesen, als hätte dieses Himmelszeichen einen kraftvollen Sog ausgeübt, dem wir drei nicht widerstehen konnten. Wir sollten, nein, wir mussten dorthin reisen. Warum? Ich weiß es nicht. Aber wir alle hatten den Eindruck: Wenn wir diesem Zeichen nicht folgen, dann versäumen wir etwas unvergleichlich Kostbares. Das, was einem Menschenleben seinen Sinn verleiht.

Ja, ich habe nicht auf Dich gehört und Dich einfach so zurückgelassen. Bin trotzig mit den beiden anderen aufgebrochen. War es das? Hast Du Dich all die Tage meiner Abwesenheit so über meinen Eigensinn gegrämt, dass am Tag der Heimkehr einfach all der Zorn herausbrach, der sich in Dir gesammelt hatte? Als zöge man vor einem Bewässerungskanal das Brett weg? War die kleine weiße Feder nur der Auslöser für eine viel größere Enttäuschung, die in Dir tobte? Aber lass mich erst berichten, wie es uns erging.

Nach vielen mühseligen Wochen auf den Kamelen erreichten wir Jerusalem, die alte Hauptstadt des jüdischen Reichs, die heute zur römischen Provinz Judäa gehört. Und natürlich wandten wir uns dort, nachdem wir unsere Tiere in der Karawanserei untergestellt hatten, direkt an den Hof des jüdischen Herrschers.

Wo sonst sollte ein zukünftiger König zur Welt kommen, wenn nicht bei Hofe? Begeistert fragte Balthasar die anwesenden Würdenträger: „Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern gesehen.“

Schweigen!

Herodes, so heißt der amtierende Regent, starrte uns nur erschrocken an. Er wusste nichts von einem Kind. Oder von einem Stern. Und schon gar nichts von einem neuen König der Juden. Selten habe ich im Antlitz eines Menschen so viel Angst und Verwirrung gesehen. Was für eine verstörende Situation. Wir standen da, noch immer staubig, und fragten den König nach der Geburt seines Nachfolgers. Was ihm erkennbar nicht gefiel.

Kurz darauf hatte Herodes all seine Weisen und Schriftgelehrten um sich versammelt. Die Priester und Berater. Den ganzen Hofstaat. Würdige Männer in kostbaren Gewändern. Und die vermeldeten nach stundenlangem Studium ihrer heiligen Schriften: Ja, ein solcher König sei tatsächlich angekündigt. Doch wenn, dann käme er gewisslich in dem kleinen Ort Bethlehem zur Welt. Der Stadt des verehrten Vorfahrens David.

Da blitzte es in den Augen des Herodes, und er sagte mit weicher Stimme: „Ihr Sterndeuter aus dem Morgenland. Zieht ihr zuerst zu diesem Kind. Und wenn ihr es gefunden habt, dann sendet mir einen treuen Boten, damit ich ebenfalls dorthin reisen kann, um ihm zu huldigen.“

Kaum hatten wir den Palast verlassen, da wurde mir klar, dass es unsere eigensinnigen Vorstellungen gewesen waren, die uns an diesen falschen Platz geführt hatten. Der Stern wies unmissverständlich den Weg aus Jerusalem hinaus. Aber wir hatten unsere Erwartungen über die Botschaft des Himmels gestellt. Wie so oft. Wenn wir nur nicht zu spät kamen.

Ein Stall, Tiamat. Am Ende standen wir vor einem Stall. In Bethlehem. Kannst Du Dir das vorstellen? Ein König, der in einem Stall zur Welt kommt. Doch ich wusste sofort, dass wir diesmal richtig waren. Der Stern leuchtete direkt über dem hölzernen Verschlag – und der Säugling, der in einer Futterkrippe lag, war nicht von dieser Welt. Ohne jeden Zweifel. Obwohl er genau so aussah wie alle Babys. Dieses Kind war ein Geschenk des Himmels.

Wir fielen alle drei auf die Knie. Kaspar mit einem leichten Stöhnen, weil er ja schon länger Schmerzen in der Hüfte hat. Dann beteten wir das Kind an. Den wahren König der Juden. Und mit jedem Wort, das wir sprachen, löste sich etwas in uns – eine Sorge, ein Zweifel, ein Schrecken – bis wir einander am Ende gänzlich befreit in die Arme fielen. Alle mit Tränen in den Augen. Noch nie habe ich mich so reich gefühlt wie in diesem ärmlichen Stall. Darum erkannte ich auch, dass ich unser Gold, meine geliebte Tiamat, leichten Herzens weggeben konnte. Ich hatte etwas viel Besseres bekommen: Vertrauen.

So überreichten wir den Eltern, einfachen Handwerkern aus einem Dorf namens Nazareth, unsere Geschenke und baten sie, damit dem Kind zu helfen, sein Reich in dieser Welt zu errichten. Leider sprachen die beiden nicht unsere Sprache – und anders als im Jerusalemer Palast war in dem Ort Bethlehem kein Übersetzer aufzutreiben.

Darum wusste ich anfangs auch nicht, was der Vater von mir wollte, als er mich zur Seite zog. Mit Händen und Füßen redete er auf mich ein. Und nach und nach begriff ich: Sein Name war Joseph, und er wollte sich bei uns für das Gold, den Weihrauch und die Myrrhe bedanken, die wir mitgebracht hatten.

Ja, mehr noch, er war untröstlich, dass er uns als seine Gäste nicht, wie es im Orient Sitte ist, freundlich bewirten konnte. Nicht einmal einen Schluck Wasser hatte er zu bieten. Geschweige denn etwas zu essen. Und das schien ihn ernsthaft zu beschämen.

Ich versuchte deshalb vergeblich, ihn davon zu überzeugen, dass wir keineswegs geringschätzig von ihm dachten. Aber erkläre das mal einem Mann, der dich überhaupt nicht versteht. Tatsache ist: Er blieb untröstlich.

Plötzlich aber glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er beugte sich nach unten, hob etwas vom Boden auf und drückte es mir in die Hand. Ein Geschenk. Eine symbolische Geste der Gastfreundschaft. Als Ausgleich für die fehlenden Speisen.

Es war … die Feder, die ich Dir mitgebracht habe. Eine Feder aus dem Stall, in dem der Friedensbote Gottes zur Welt gekommen ist.

Mit breitem Grinsen und eifrigem Nicken raunte dieser Joseph immer nur ein Wort: „Malach … malach … malach.“

Ich zuckte mit den Achseln. Was wollte er bloß von mir? Was war das für ein Ausdruck?

Da seufzte er auf und murmelte verlegen einen lateinischen Begriff, denn ich tatsächlich kannte: „Angelus … angelus.“

Und da verstand ich: Diese Feder … meine Geliebte … diese Feder ist aus dem Flügel eines Engels.

Wenn ich die Gesten dieses Mannes richtig verstanden habe, dann waren bei der Geburt des Kindes mehrere Engel im Stall zugegen. Singende Engel. Frohlockende Engel. Und einer von ihnen hat diese Feder verloren.

Achte sie also bitte nicht gering. Sie gehört vermutlich zum Edelsten, das ein Mann seiner Ehefrau von einer Reise mitbringen kann. Eine echte Feder aus dem Gefieder eines Engels!

Übrigens ist mir in dieser heiligen Nacht der Gott Israels noch persönlich erschienen. Darum habe ich auch überhaupt keinen Zweifel daran, dass das alles wahrhaft so geschehen ist. Ja, im Traum hat mir seine Stimme gesagt, dass Kaspar, Balthasar und ich auf keinen Fall erneut zu Herodes reiten dürfen, um ihm von dem Kind zu erzählen.

Daran haben wir uns gehalten.

Und sind, so schnell es uns möglich war, zurück in unsere Heimat gezogen.

In mir ist jetzt alles ganz leicht. Federleicht. So leicht wie diese Engelsfeder. Wenn auch Du mir vergeben kannst, dann wird alles gut. Heute Abend, kurz vor Sonnenuntergang, werde ich an unsere Tür klopfen. Sachte. Und hoffen, dass Du sie für mich öffnest. Dein Melchior

FABIAN VOGT


Das Christkind im Porsche

„Ich hoffe, der Betrag auf dem Scheck entspricht Ihren Vorstellungen, Roger. Sie haben in diesem Krisenjahr wirklich Erstaunliches geleistet. Meine Hochachtung!“ Dr. Müller-Schäring drückt ihm fest die Hand. „Sie sind auf dem Weg zum Kronprinzen unseres Unternehmens. Denken Sie noch mal darüber nach, ob Sie nächstes Jahr nicht doch mein Angebot in Anspruch nehmen und für unsere Zentrale in New York arbeiten wollen. Die Staaten machen sich immer gut im Lebenslauf.“

„Ich werde die Zeit zwischen den Jahren nutzen, um über Ihr Angebot in Ruhe nachzudenken. Herzlichen Dank für den Scheck und vor allem für das Vertrauen, das Sie in meine Arbeit gesetzt haben, Herr Direktor.“

„Feiern Sie Weihnachten bei Ihrer Familie, Roger?“

„Vielleicht den zweiten Weihnachtstag. Ich mache mir nichts aus dem Fest. Es hat für mich keine Bedeutung. Meine Freundin kommt heute aus Los Angeles, und wir machen es uns gemütlich.“

„Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten und ein erfolgreiches neues Jahr.“

„Danke gleichfalls!“

Roger greift nach seiner Aktentasche und seinem Mantel. Vom Weihnachtsmarkt tönt das Lied „Alle Jahre wieder“ zu ihm herüber.

Alle Jahre wieder? Für mich ist immer nur ein Jahr entscheidend: nämlich das Geschäftsjahr. Alles andere interessiert mich nicht. Hauptsache, mein Bonus stimmt. Christkind, Krippe, Gott und Jesus. Wenn ein Kind in einem Stall zur Welt kommt, dann kann das doch nur ein Loser werden, geht es Roger durch den Kopf.

Am Eingang der Tiefgarage sitzt ein Obdachloser. „Haste ’nen Euro für mich? Ist doch Weihnachten!“

„Bin ich das Sozialamt? Verschwinde, das ist ein privates Parkhaus, oder ich lasse den Ordnungsdienst anrücken!“

Roger sucht in seiner Manteltasche nach seiner Keycard, um das schwere Metallrollo zu öffnen. In Reihe sechs steht sein schwarzer Porsche, brandneu und absolut heiß. Ledersitze, Alarmsicherheitssystem, Doppelkupplung. Er öffnet die Beifahrertür, um seine Aktentasche auf den Sitz zu legen, als er die Bescherung sieht. Auf dem hellen Ledersitz liegt ein Säugling. In eine große Stoffwindel gewickelt, schaut das Kind den fremden Mann erstaunt an. „O Gott! Was ist das denn?“ Roger ist wie vom Blitz getroffen. Wie kommt ein Kind in sein verschlossenes Auto?

Er sieht sich um. Hastig läuft er die Garage ab, ob irgendjemand zu entdecken ist. „Hallo! Ist da wer? Ich hab’s! Der Penner hat mir das Balg ins Auto gelegt.“ Roger läuft zum Ausgang der Tiefgarage, aber der Obdachlose ist verschwunden.

„Brauchen Sie Hilfe, Herr Kreienbaum?“ Charly, der Mann vom Sicherheitsdienst, hat ihn auf seinem Kontrollbildschirm entdeckt.

 

„Charly, hören Sie. War heute Morgen zwischen 8.00 und 13.00 Uhr außer unserem Personal irgendjemand in der Tiefgarage?“

„Nein. Mir ist nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Ist etwas mit ihrem Auto? Ist etwas daraus gestohlen worden?“

„Nein, schauen Sie, ich habe etwas dazubekommen.“

Als Roger die Wagentür öffnen will, hört er, dass der Säugling weint.

„Das da habe ich gefunden.“

Charly, selbst Vater von drei Kindern, sieht erstaunt auf das kleine, weinende Bündel. „Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Kind haben, Herr Kreienbaum“, lächelt er.

„Das ist nicht mein Kind. Irgendwer hat es in meinen Wagen gelegt.“

„Nehmen Sie es doch mal heraus, und dann gucken wir, ob es eine Nachricht mit sich trägt und ob es ein Mädchen oder ein Junge ist“, schlägt Charly vor.

„Wie fasst man so ein Teil denn an?“

„Ich zeig es Ihnen!“ Charly nimmt den Säugling auf den Arm. Vorsichtig öffnet er die Windel. „Nun, es ist ein kleiner Junge. Ich denke, etwa drei Monate alt, und wenn ich mir die Windel und Ihren Ledersitz angucke, stelle ich fest, dass er dringend eine trockene Hülle braucht.“

„Um Himmels willen. Es hat auf meinen hellen Ledersitz gemacht. Das kriege ich nie wieder raus. Charly, können Sie das Kind nicht mit nach Hause nehmen? Ich gebe Ihnen Geld, so viel Sie wollen, und Sie und Ihre Familie machen sich damit ein schönes Weihnachtsfest.“

„O nein, Herr Kreienbaum. Unsere Jüngste ist gerade sechs Monate und schläft endlich durch. Meine Frau schmeißt mich raus, wenn ich heute, am Heiligen Abend, mit einem fremden Schreihals vor der Tür stehe. Da, nehmen Sie den Jungen, und bringen Sie ihn von mir aus zur Polizei. Vielleicht wird schon nach dem Kind gesucht.“

Charly legt Roger das Kind in den Arm. Der warme Urin der vollen Windel durchdringt den sandfarbenen Kaschmirmantel. „So eine Schweinerei. Warum schaffen sich Leute nur Kinder an?“ Unbeholfen löst er das Kind aus der Windel und wickelt es in eine Rettungsdecke ein. „Ich bring dich jetzt zur Polizei, und dann sollen die für dich sorgen.“

„Was sollen wir denn mit dem Kind?“, fragt der junge Polizist ungehalten. „Hier liegt keine Vermisstenanzeige vor. Wir können noch die Krankenhäuser überprüfen, wer da vor etwa drei Monaten ein Kind bekommen hat, aber Frauen, die ihre Kinder aussetzen, wovon wir in Ihrem Fall erst mal ausgehen, die entbinden meistens heimlich. Außerdem, schauen Sie sich mal seine Hautfarbe und die schwarzen Locken an: Mit Sicherheit ist das ein ausländisches Kind.“

„Können Sie es nicht in ein Kinderheim bringen? Ich habe keine Ahnung von Babys.“

„Das lernt man schnell“, sagt eine junge Polizistin, die mit dem Säugling aus dem Nebenzimmer kommt. „Ich habe den Kleinen frisch gewickelt, mit dem, was ich noch so gefunden habe. Ich habe Ihnen aufgeschrieben, was der kleine Spatz isst und was Sie an Windeln und Pflegemitteln brauchen. Der Drogeriemarkt am Bahnhof hat jetzt noch geöffnet. Nach Weihnachten melden Sie sich bei uns, dann geht der Fall weiter ans Jugendamt.“ Behutsam legt sie den Kleinen in Rogers Arme. „Frohe Weihnachten. Sie kriegen das schon hin mit Ihrem Christkind!“

Voll bepackt mit Tüten und Windelkartons erreicht Roger seine Penthouse-Wohnung. Schweißgebadet legt er das Kind auf das Schafsfell vor den offenen Kamin und fällt erschöpft auf die Couch. Auf seinem Anrufbeantworter sind mehrere Nachrichten von seiner Freundin Melanie: „Hallo, mein Schatz, bin schon in New York und in wenigen Stunden bei dir. Holst du mich am Flughafen ab?“ Wenn du wüsstest, denkt er und sieht nach dem Säugling, der unzufrieden zu weinen beginnt. „Pst. Es müssen nicht alle im Haus erfahren, dass du da bist. Hast du Hunger? Gut. Ich probier das mal mit der Flasche.“ Als die erste Flasche nach einer halben Stunde fertig ist, ist die schwarze Lackküche von der Babynahrung weiß bepudert, Roger hat das zweite Glas Whisky getrunken, und das Kind ist in Tränen aufgelöst. Er nimmt es auf den Arm, probiert einen Schluck aus der Flasche. „Ist nicht zu heiß, glaub ich. Na, schmeckt’s?“

Zufrieden saugt das Kind an der Flasche und Roger an seinem dritten Whisky. Mit der Fernbedienung zappt er durch das Weihnachtsprogramm. Bei einem Gottesdienst bleibt er hängen. In einer festlich geschmückten Kirche erzählt der Pastor etwas vom Kind in der Krippe, von Maria, einer jungen Frau, die unter schlimmen Umständen hilflos ihr Kind zur Welt gebracht hat.

„Vielleicht ist es deiner Mutter auch so gegangen?“ Roger schaut auf das friedlich trinkende Kind. Die Flasche ist fast leer, als er es hochhebt. „Und, hat’s dir geschmeckt?“ Er lächelt den Kleinen an. Da durchzieht ein dumpfes Grollen den Körper des Kindes und entlädt sich mit einem heftigen Aufstoßen auf Rogers Designercouch.

„Du gemeines kleines Biest. Das hast du mit Absicht gemacht. Ich gebe dir zu essen, und du ruinierst mein Leben.“ Wütend legt er das Kind wieder auf das Schafsfell und beginnt mit der Beseitigung des Desasters, bis das ungehaltene Weinen des Kindes erneut um seine Zuwendung ringt. Aus der Windel strömt ein unerträglicher Geruch. Mit ausgestreckten Armen trägt er das Kind ins Badezimmer und öffnet die Windel.

In diesem Moment schwebt Roger zwischen Übelkeit und Ohnmacht. Mit allem Greifbaren macht er das Kind sauber. Im Waschbecken badet er es in seinem Armani-Duschbad. Fröhlich planscht der Kleine in einem Meer aus duftendem Schaum. „Wenn du nicht so einen Stress machen würdest, wärst du ein nettes Kerlchen.“

Nach der zehnten Windel und großen Mengen Paketband scheint der Kleine endlich müde zu sein. Roger trägt ihn in sein Bett. Er ist am Ende seiner Kraft und seines 25 Jahre alten Malt. Mit dem Kind im Arm schläft er der Heiligen Nacht entgegen.

Gegen ein Uhr wird er durch ein lautes Poltern geweckt. Verschlafen steht er auf. Geblendet vom Licht, steht Melanie vor ihm. Schön, blond und unglaublich zornig.

„Was ist hier los? Warum hast du mich am Flughafen nicht abgeholt? Ich habe dir endlos viele Nachrichten auf dein Handy geschickt. Und wie sieht das hier aus?“

„Schatz, lass dir erklären …“

„Pfui Teufel, du hast getrunken. Roger, schau mich an! Was ist passiert?“

Vom hysterischen Geschrei wach geworden, beginnt der Säugling zu weinen. „Was winselt denn da? Hast du eine Katze im Schlafzimmer?“

„Nein, es ist viel schlimmer. Komm, setz dich, ich erklär dir alles“, schlägt Roger vor. „Erst will ich wissen, was das ist.“ Melanie schiebt ihn zur Seite und geht ins Schlafzimmer. „Was ist das denn?“

Roger ist hinter ihr hergegangen. „Das Kind hat heute in meinem Auto gelegen. Ich weiß nicht, wie es dort hineingekommen ist, glaub mir. Die Polizei sucht bereits nach der Mutter. Melanie, ich bin so froh, dass du da bist. Ich schaffe das nicht alleine mit dem Kind.“

„Das hast du dir ja fein ausgedacht. Die Polizei sucht nach der Mutter, ja? Du weißt genau, von wem dein Kind ist, und jetzt hat sich die Mutter entschlossen, dass du es aufziehst, und mir willst du es unterjubeln.“

„Melanie, glaub mir doch. Das Kind ist nicht von mir. Ich bin nicht der Vater.“

„Ich bin deine fadenscheinigen Erklärungen satt. Da sitze ich zehn Stunden im Flieger, freue mich wahnsinnig auf dich, und du hast ein Kind von einer anderen.“ Roger weiß, was immer er ihr jetzt sagen wird, es wird das Falsche sein.

„Warum glaubst du mir denn nicht? Gemeinsam kriegen wir das doch hin.“

„Vielleicht – aber nicht heute. Ich rufe mir ein Taxi und fahre zu mir nach Hause. Wenn das Kind weg ist, kannst du mich anrufen.“

Als Melanie die Tür zuwirft, ist nicht nur das ganze Haus, sondern auch das Kind hellwach. Flasche, Windel, Armani, Strampelanzug. Diesmal schon ohne Whisky, ohne Brechreiz und ohne Paketband.

Diese Heilige Nacht ist kurz und schlaflos, der Morgen beim Anblick von Cremeschlacht und halb verdauten Milchresten eher ernüchternd. Rogers Nerven liegen blank, in seinem Kopf hämmert der 25 Jahre alte Malt. Beim Frühstück vor dem Fernseher weckt ein Beitrag über ein Kinderheim in Bethlehem sein Interesse. Freiwillige Helfer sorgen sich dort um Kriegswaisen. Gestern noch hätte er sofort den Sender gewechselt, nun lauscht er gebannt den Worten des Mannes, der eines der Waisenkinder auf dem Arm hält.

„Kinder sind ein Wunder. Sie verändern unser Leben. Das Kind in der Krippe hat unser aller Leben verändert. Gott ist nun unser Vater, und wir alle sind seine Kinder. Helfen Sie uns, und werden Sie Pate eines seiner Kinder!“

Ergriffen von dem Bericht, hört er erst nach mehrmaligem Klingeln das Telefon. „Guten Morgen, Roger. Ich wünsche dir frohe Weihnachten und wollte hören, ob du heute zum Essen zu uns kommst?“

„Mama.“ Roger beginnt zu weinen.

„Was ist mit dir, Junge?“

„Du glaubst nicht, was in den letzten 24 Stunden passierst ist“, schluchzt er in den Hörer.

„Komm einfach nach Hause, und erzähle uns alles in Ruhe!“ Roger duscht, packt alles zusammen für sich und das Kind. Liebevoll wickelt er es in eine Wolldecke und legt es in die Babytragetasche, die er gestern am Bahnhof einer Frau abgekauft hatte.

Während der Fahrt fällt Rogers Blick des Öfteren auf das Kind neben ihm, das friedlich schläft. Was hast du nur mit mir angestellt? Vor seinen Augen wird das Bild der Autobahn zur Straßenszene Bethlehems, greifen Kinderhände nach ihm. Eine Frau hält ihm ihren Säugling entgegen, dessen kleines Gesicht ihm merkwürdig bekannt vorkommt.

Zu Hause ist alles liebevoll weihnachtlich geschmückt. Seine Eltern nehmen ihn in die Arme. Nach langer Zeit ist er selbst wieder Kind, kein erfolgreicher Manager, kein trickreicher Jongleur von Zahlen und Statistiken.

Im großen Wohnzimmer steht der Tannenbaum, darunter die Krippe mit den alten Holzfiguren aus Kindertagen. Irgendwie scheinen sie ihm heute näher denn je. Roger und seine Eltern setzen sich an den Kamin, und er beginnt seine Geschichte zu erzählen. Als er fertig ist, nimmt seine Mutter den Säugling auf den Arm und wiegt ihn liebevoll hin und her. „Egal, woher es kommt. Jedes Kind verdient Liebe und ein Zuhause.“

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